Endlich Aussterben

von Cornelia Fiedler

Bochum, 18. September 2016. "Lieber keine Menschen als solche Menschen!", propagiert die Politgruppe NOREPRO, und diese Jugendlichen meinen es ernst: Sie sehen das Aussterben als einzig sinnvolle Zukunft einer Menschheit, deren Reproduktion offenbar immer auch die Reproduktion von Herrschaftsstrukturen und Frauenunterdrückung bedeutet. Wäre sicher spannend, diese hyperkonsequenten, hyperkritischen Teenager kennenzulernen, aber sie selbst kommen nie zu Wort in Laura Naumanns neuem Stück "Manchmal hat die Liebe regiert und manchmal einfach niemand". Sie liefern lediglich den Anstoß für 110 Minuten meist leider deutlich oberflächlicherer Konflikte.

Warum weiterleben?

Fundamentale Kritik anzureißen, dieser dann aber doch keine Bühne zu bieten – dieses Prinzip durchzieht das gesamten Episodenstück, das Jan Gehler am Schauspiel Bochum urinszeniert. Naumann erlaubt jeder ihrer Figuren schöne Momente der Verzweiflung. Zum Beispiel dem Strandclub-Animateur Mathias, als er in sein Notizbuch schreibt: "Wenn einem die Ödheit der Menschen so richtig klar wird und man sie nicht mehr aus dem Kopf kriegt, hat man dann einen Moment der Erleuchtung oder sollte man sich lieber direkt erschießen? Schließt sich das aus?" Oder zum Beispiel Pia, die, als Mutter und Hausfrau unterfordert, "an jeder Biegung des Tages" von einem anderen Leben träumt, und sei es als Drogendealerin im Knast. Letztlich aber ziehen alle ihrer Protagonist*innen es vor, das eigene Unbehagen als vorübergehende Laune abtun. Wie sollte man sonst auch weiterleben?

manchmal2 560 Diana Kuester uTherese Dörr und Karolina Horster auf der Couch © Diana Küster

Jan Gehler und Bühnenbildnerin Sabrina Rox packen Naumanns eher unzuverlässige, sprunghafte Gesprächsfetzen ganz bodenständig in Szenen und an konkrete Orte: Etwas Sand markiert in den Bochumer Kammerspielen das griechische Urlaubsressort, fahle Balkenkonstruktionen wahlweise Wohn-, Klassen- oder Hotelzimmer. Hier kreuzen sich die Wege der Figuren: Mathias, der gegen Geld mit älteren Touristinnen wie Pia schläft, verliebt sich in die junge Cleo. Cleo ist gerade überstürzt aus ihrer Beziehung mit Johanna abgehauen. Johanna wird als Lehrerin der reproduktionsfeindlichen Gymnasialklasse massiv von Pia und deren Mann Tom angefeindet. Das Päckchen Scheiße, das die beiden Johanna schicken, landet schließlich bei Nachbar Hans, Witwer und Vater von Mathias, der soeben mit der Ukrainerin Alina ein neues Leben anfängt. Wie all die Zusammenhänge entwickelt und aufgedeckt werden, erinnert stellenweise an die Logik einschlägiger Boulevardstücke – auch deshalb, weil dazu wiederholt "Griechischer Wein" von Udo Jürgens gesummt wird.

Seltene Momente der Klarheit

Zum Glück ist da aber noch das beständige Unbehagen aller Beteiligten an und in der Welt. Schräge, böse aber auch berührende Bilder entstehen an diesem Abend vor allem aus Naumanns Sprache. Cleo beispielsweise, etwas niedlich gespielt von Karolina Horster, kultiviert ein liebenswert trotziges Unverständnis der Gesellschaft und den Menschen gegenüber. Es gäbe da ein altes Babyfoto von ihr, erzählt sie Mathias einmal. Darauf hänge sie, von der Mutter an den Füßen gehalten, kopfüber und schaue perplex in die Kamera. Sie sehe aus, als würde sie "null verstehen, was gerade passiert. So hab ich mich meistens gefühlt. Und dazwischen manchmal, selten, Momente der Klarheit, immer zu kurz, um sie festzuhalten."

manchmal1 560 Diana Kuester uVier Menschen nach der Erkenntnis: "Wir müssen aussterben!" (Ensemble) © Diana Küster

Jan Gehlers Regie springt währenddessen zwischen Erzähltheater, altbackenem psychologischem Ausspielen inklusive großer emotionaler Ausbrüche und gelegentlicher, etwas aufgesetzter Persiflagen, vor allem bei Veronika Nickl als stampfender und tobender Mutter Pia. Immer wieder werden Diskurse von der rape culture über die Prekarisierung bis zur Sterbehilfe angerissen, als gelte es "Welthaltigkeit" zu beweisen. Im nächsten Moment aber rauschen Text und Inszenierung gleichgültig über die eben noch so drängenden Fragen hinweg. Folgerichtig bleibt ganz am Ende eine solche unbeantwortet im Raum stehen: "But what does it mean? What does it all mean?"

 

Manchmal hat die Liebe regiert und manchmal einfach niemand
von Laura Naumann
Uraufführung
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüme: Ansgar Prüwer-LeMieux, Licht: Thomas Ratzinger, Musik: Sven Kaiser, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt, Kekke Schmidt.
Mit: Torsten Flassig, Karolina Horster, Therese Dörr, Veronika Nickl, Michael Kamp, Manfred Böll, Jana Lissovskaia.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Wie will ich leben, was bedeutet Glück, wie wollen wir uns selbst darstellen" – um diese Fragen kreise das Stück von Laura Naumann unterhaltsam und pointiert, schreibt Ronny von Wangenheim in den Ruhr Nachrichten (20.9.2016). Das Bühnenbild veranschauliche die Beziehungen zwischen den Figuren "sehr gut", und das Ensemble bringe Naumanns "ernste Fragen" mit "Leichtigkeit und Spielfreude" auf die Bühne.

Als "hübsches Stück, das mit leichter Hand, aber nie leichtgewichtig, Fragen stellt", beschreibt Jürgen Boebers-Süßmann Laura Naumanns Arbeit in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (20.9.2016). In Jan Gehlers Uraufführungsinszenierung gebe sich das "gut aufgelegte Ensemble" dem charmant-ironischen Stück ohne Gegenwehr hin "und berührt so die Herzen der Zuschauer auf besondere Art."

"'Manchmal hat die Liebe regiert…' ist ein flott geschriebener, sicher gebauter Mix aus liedzeilenhaften Sätzen (...), Monologen, in denen die Figuren ihr Fehl-am-Platz-Gefühl beklagen, und comedyhaften Dialogen, die eher Zustandserkundung sind als Handlungstreiber", schreibt Edda Breski vom Westfälischen Anzeiger (20.9.2016). Gehler übersetze das Stück flüssig in Komödienästhetik. "Dieser Abend tut ganz gewiss niemandem weh."

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