Sonderling der letzten Stunde

von Christian Rakow

Berlin, 23. September 2016. Was für ein Spielzeitauftakt am Deutschen Theater Berlin! Sacht und fast unbemerkt schleicht der Pianist Daniele Pintaudi seitlich zur Rampe und gibt uns mit weichem italienischen Akzent einen kleinen Zeitstrahl der Kulturgeschichte: "Vom ersten Menschen, der einen Stein als Werkzeug ergriff, bis zum kunstvollen Steinschmied: 500.000 Jahre // Vom kunstvollen Steinschmied bis zum ersten Eisenschmied: 50.000 Jahre. // Vom ersten Eisenschmied bis zum Lokomotivführer: 5.000 Jahre. // Vom Lokomotivführer bis zum Überschalldüsenjäger: 130 Jahre. Und so weiter, und so weiter."

Und während sich Pintaudi an sein Piano in der ersten Parkettreihe setzt, um sich mit seinem Klavier-Partner Leonhard Dering, der hinten auf der Bühne spielt, Beethovens Pastorale (6. Symphonie) auf zwei Klavieren zuzuwerfen, klingt diese Zahlenreihe inwendig weiter und weiter: Wie lange dauert es vom Versprechen auf einen kunstvollen Theaterabend bis zu seiner vollgültigen Einlösung? Federleichte neunzig Minuten.

Das Ringen mit der Hirnnatur

Max Frischs späte Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" (1979) gibt diesem musikalischen Abend weniger einen narrativen Strang als vielmehr die Grundstimmung und Inspiration vor. Das Buch zeigt einen ehemaligen Geschäftsmann, Herrn Geiser, in der Abgeschiedenheit eines Tals im Tessin. Ein Unwetter hat die Gegend von der Außenwelt abgeschnitten, vielleicht droht eine Naturkatastrophe, bricht der Berg ab und begräbt das Dorf?holozaen 01 560 c arno declair uAhndungsvoller Raum: Menschen und Objekte im Nebel © Arno Declair

Herr Geiser macht sich kundig, studiert Lexika, kommt vom Hundertsten ins Tausendste, von der Regionalgeschichte bis zur Erdgeschichte. Er klebt seine Hütte mit Schnipseln voll, häuft Definitionen und Erläuterungen (enzyklopädisches Material, das Max Frisch mit Wonne in sein Buch hineincollagiert). Und zugleich driftet Geiser zunehmend in den Gedächtnisverlust. Wir sehen einen Menschen im verzweifelten Ringen um Naturbeherrschung – der eigenen Hirnnatur wie der Umwelt draußen. Es ist eine kleine, große Lebensendparabel mit wundervoll lakonischen Sätzen: "Ein Weg ist ein Weg auch in der Nacht."

Schattengestalten im Morgentau

Thom Luz ist ein Regisseur, der in solche Vorlagen eher locker hineinlauscht, als sie sklavisch (und chronologisch) nachzubuchstabieren. Er mixt den Erzähltext neu, reicht ihn zwischen seinen Spielern hin und her, legt Live-Klaviermusik von Bach bis Beethoven darüber. Etwas vokale Tessiner Volksmusik ist auch drin. Das Programmheft gibt die Fußnoten.

Alles zielt auf den ersten Blick weniger auf die konkrete Geschichte des Herrn Geiser als sogleich ins philosophisch Abstrakte. Als Schattengestalten streifen die Akteure durch eine kreideweiß getünchte Bühne, auf der ein morgentauender Nebel die Objekte verschleiert: die unzähligen Klaviere ringsherum, das hohe Podest mit der offenen Hausfassade mittig. Teils wird der ahndungsvolle Raum von Suchscheinwerfern durchschnitten (phantastische Licht-Kompositionen von Matthias Vogel).

Wie eine Fremdenführerin geleitet Judith Hofmann eine Menschengruppe umher, Franziska Machens und Wolfgang Menardi steuern gesampelte Romanfetzen bei; der Akzent der Auswahl liegt auf den Wissensbrocken des Buches. Nur ein Spieler sitzt stumm vorn auf einem Stuhl, dem Publikum den Rücken zukehrend, und schaut dem Treiben die Hälfte der Spielzeit über reglos distanziert zu: Ulrich Matthes als Herr Geiser. Zweimal hebt er an, sich einzumischen. Zweimal verschluckt die Umgebung seine zögerlichen Versuche.

Der Mensch bleibt ein Laie

Mit Ulrich Matthes kommt die persönliche, konkrete, menschliche, tragische Note in den so weitstreifenden und tiefschauenden Abend. Wie das Klavierspiel teils nur einzelne Töne gleich einem Kirchglockenläuten anschlägt, so dämpft auch Matthes seinen Ausdruck, bezaubert durch Minimalismus. Mit filigraner Nüchternheit stellt er diesen peniblen Herrn Geiser vor, diesen Studiosus der letzten Stunde. Hauchzart scheinen das Misanthropische und Sonderlingshafte der Figur durch, ohne dass sie damit im Geringsten klein gerechnet wäre. Die Worte fallen aus, ein kurzes Stocken, Herr Geiser ringt um seine Merksätze, um seine Gedächtniskraft: "Wissen beruhigt", sagt er. Matthes lässt es seine Figur mit einer verräterischen Anspannung vorbringen, die rissig wirkt, die die Absturzangst kennt. "Alles geht kaputt. Der Mensch bleibt ein Laie."holozaen 03 560 c arno declair uHerr Geiser (Ulrich Matthes) sitzt am Fenster und weiß nicht, was er denkt
© Arno Declair

Thom Luz hat dem Deutschen Theater (in Kooperation mit dem Theater Basel) eine poetische Bühnenphantasie geschenkt, einen leisen, schwebenden Saisonauftakt mit Sätzen zum Festhalten: "Die Zeit ist noch nie stehengeblieben, bloß weil ein Mensch am Fenster steht und nicht weiß, was er denkt." Das gilt für die physikalische Zeit. In der Kunst aber will es mitunter scheinen, dass die Zeit stehenbleibt. Im Glücksmoment.

 

Der Mensch erscheint im Holozän
nach Max Frisch
Regie: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Bühne: Wolfgang Menardi, Thom Luz, Kostüme: Sophie Leypold, Dramaturgie: David Heiligers, Licht: Matthias Vogel.
Mit: Ulrich Matthes, Judith Hofmann, Franziska Machens, Leonhard Dering, Wolfgang Menardi, Daniele Pintaudi, Margitta Azadian, Mohammed Azadian, Martin Heise, Till-Jan Meinen, Sarah Maria Neugebauer, Valentin Olbrich, Nina Philipp, Thomas Reimann.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

André Mumot von Deutschlandradio Kultur (23.9.2016) erklät, der Abend funktioniere sehr gut in der ersten Hälfte, der "Weltverlust" werde hier "zum perfekt choreografierten Spiel der kleinen, bedeutsamen Gesten und Effekte". Im weiteren Verlauf aber gehe nicht nur die Hauptfigur im Nebel und der Trostlosigkeit unter. "Werktreu mag es sein, bleibt jedoch in letzter Konsequenz spröd schöne Künstlichkeit."

Harald Asel vom Inforadio des RBB findet: "Überraschend, verstörend, wie im Text vorgegeben, ist das eher weniger. Viel einfallsreicher Leerlauf dazwischen. Aber das Schlussbild ist wirklich stark."

Für Katrin Pauly von der Berliner Morgenpost (online am 25.9.2016) war es ein "versponnener, musikalischer und traumschöner Abend". "Manchmal sieht das bedeutungsschwer aus, meistens aber sehr poetisch, und wie der Herr Geiser in anderthalb Stunden vor unseren Augen fast verschwindet, ist anrührend."

Andreas Klaeui vom SRF (26.9.2016) meint: "Thom Luz setzt die Texte ein wie musikalische Motive, verwebt alle Elemente zur Bühnenpartitur. Das gelingt nicht immer, stellenweise sträuben sich die Worte dagegen, Erzählung und atmosphärische Stimmung rivalisieren." Dennoch biete dieser Abend "einen betörenden Blick in den Nebel des Verschwindens".

Christine Wahl vom Tagesspiegel (26.9.2016) schreibt, Luz tauche das symbolträchtige Geiser-Universum in schmerzschöne Kompositionen von Bach über Beethoven bis Bartók sowie in formvollendete Bühnennebel-Bilder: "alles von geradezu wohltemperierter Melancholie". "Während andere Regisseure diesem Geiser’schen Menscheitsendspiel vermutlich auch härtere, düsterere Nuancen abgerungen hätten, bleibt Luz im Grundsatz versöhnlich-poetisch – worüber man natürlich allzumenschlich geteilter Meinung sein kann."

Stimmen zur Basler Premiere im September 2018

"Bei Frisch reg­net es wie aus Kü­beln; die Tal­hän­ge rut­schen, der Strom fällt aus, das Tief­kühl­fleisch taut auf. Aber Kli­ma­ka­ta­stro­phen und Welt­un­ter­gangs­sze­na­ri­en in­ter­es­sie­ren Luz nicht. Der Samm­ler von Ne­bel­ma­schi­nen und ge­fei­er­te Schöp­fer kurz­le­bi­ger Ne­bel­skulp­tu­ren ist fas­zi­niert von dem selt­sa­men Ge­fühl, im Ne­bel zu wan­dern, von der trau­rig­schö­nen Ge­wiss­heit, ir­gend­wann ganz aus Zeit und Ge­schich­te zu fal­len", schreibt Martin Halter nach der Basler Premiere in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2018). "Wie im­mer wa­bert auch dies­mal, mehr mu­si­ka­lisch-as­so­zia­tiv an­ge­deu­tet als er­zäh­le­risch aus­for­mu­liert, ei­ne At­mo­sphä­re des poe­tisch Un­ge­fäh­ren und der me­lan­cho­li­schen Ver­geb­lich­keit im Raum." Die er­ra­ti­sche Ton­spur, das Ge­wis­per der Din­ge sei Luz al­le­mal wich­ti­ger als Spra­che und Sinn. Dadurch bleibe "doch man­ches som­nam­bu­ler Leer­lauf", so Halter: "Herr Gei­ser, der trau­ri­ge Rit­ter der In­for­ma­ti­ons­ge­sell­schaft, stemmt sich mit den stump­fen Lan­zen von Brock­haus-En­zy­klo­pä­di­en ge­gen Ge­dächt­nis­ver­lust und welt­ge­schicht­li­che De­menz. Von sei­nem Er­schei­nen in Ba­sel wird man al­ler­dings nur ein Sto­chern im Ne­bel in Er­in­ne­rung be­hal­ten."

Kommentare  
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: sanfter Appell
Luz erzählt nicht nach, er macht aus der Geschichte des Herrn Geiser, der zurückgezogen in einem Tessiner Tal lebend, die Apokalypse erwartet und beginnt, das Wissen der Menschheit zu archivieren, während ihm gleichzeitig sein Gedächtnis entgleitet. Lange sitzt er nur da, in Person von Ulrich Matthes, den Rücken zum Publikum und schaut. Blickt hinein in den Nebel einer weißgetünchten Traumwelt, einer Abstellkammer der Menschheit, mit brüchigen Kulissen, die verschwinden lassen und hervorholen, ein Museum einer längst vergessenen Spezies. Eine Frau führt Besuchergruppen hindurch, zwei Pianisten reisen durch die Musikgeschichte, durch das Erhabene wie das Profane, zwei Übriggebliebene rezitieren Romanfetzen. Später fährt ein nicht mehr göttliches, nur noch mechanisches Licht durch die Szenerie, erhellt nicht, sondern bricht sich, immer wieder, bildet ein Lichtnetz, das einfängt und nicht bewahrt, das umschließt und nicht festhält. Zweimal setzt Matthes zu sprechen an, zweimal wird er übertönt vom Geröll des Liegengebliebenen.

Bevor er doch noch zu Wort kommt: Ein stiller, einsamer, verlorener Sinnsucher (Matthes spielt ungewöhnlich zurückgenommen und berührend zerbrechlich), der die Welt sucht und sich verliert, dessen Festhalten an etwas, auch wenn es nicht verstanden bleiben mag, ein letzter, stiller, herzzerreißend berührender Moment des Aufbegehrens ist, der Rebellion gegen das eigene und das allgemeine Verschwinden. Dabei ist auch er nur eine Schattengestalt im Gegenlicht, verschwimmt am Ende hinter multiplen semitransparenten Vorhängen schemenhaft. Aber er verschwindet nicht, bleibt ein dunkler Fleck im nivellierenden Weiß, mag nicht selbst verlieren, aber geht nicht verloren.

Und so ist dieser stiller, immer mal wieder stehenbleibende Abend auch ein ganz sanfter Appell, nicht aufzugeben, die Gewissheit der Vergänglichkeit nicht als Ausrede zuzulassen, wenigstens der Illusion von Sinn nachzujagen. Er zwinkert uns zu, mal spöttisch, mal aufmunternd, weiß um die Lächerlichkeit unseres Tun und entfesselt zugleich den Spiel- und Experimentiertrieb. Da werden im Vorbeifahren Klavier gespielt, mit kindlicher Neugier die Bahn des Lichts erforscht, mit mobilen Kulissenelementen leicht durchschaubare Raumillusionen erschaffen. Die Welt als Traum und Abenteuerspielplatz zugleich, einer, den wir vielleicht erträumen, wir, die uns selbst womöglich jemand träumt. Wer weiß das schon? “Wissen beruhigt”, sagt Geiser einmal. Und: “Herr Geiser hat Zeit”, heißt es ganz am Schluss. Nein, er ist die Zeit, er schafft sie mit seinem Weitermachen, seiner Suche auch im vermeintlichen Stillstand. Auch wenn das Licht erlischt. Denn wie sagt Herr Geiser? “Ein Weg ist ein Weg auch in der Nacht”.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/09/24/der-schatten-der-bleibt/
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: seh' ich mir an!
Das ist schön, dass ein Haus dem Luz die Ruhe und den Raum in jeder Hinsicht gegeben hat, seine künstlerische Konzentration ohne Unterbrechung durch Fördermechanismen zu entfalten. Seh ich mir an, sobald ich kann. Auch wegen einem Matthes, der seinen ganzen Ausdruck in langes, zurückgenommenes Schweigen legt, das mich neugierig macht. Danke für die Rezensionen.
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: wie kunstfertig das ist!
„Der Mensch erscheint im Holozän“ ist ein sehr stiller Abend, der aber seinem Publikum viel zu penetrant ins Ohr raunt: „Schau mal, wie kunstfertig das alles ist!“ Das geht auf die Dauer über 90 Minuten doch ziemlich auf die Nerven.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/09/24/holozaen-thom-luz-umspielt-max-frischs-erzaehlung-der-mensch-erscheint-im-holozaen-am-deutschen-theater-berlin/
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: im Nebel
Christian Rakow, so viel Zeit muss sein. Herr Geiser hat sie ja auch. :-) Es heißt bei Frisch: "Ein Weg ist ein Weg auch im Nebel." Leider verschwindet die Inszenierung auch in selbigem. Atmosphärische Lesung sollte man das wohl eher nennen. Selten so gelangweilt.
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: in der Nacht
Lieber Stefan B., die Wendung taucht im Text von Max Frisch zweimal auf: "Ein Weg ist ein Weg auch im Nebel" heißt es und auch "Ein Weg ist ein Weg auch in der Nacht." Der ungeisersche Flüchtigkeitsfehler oben liegt also im fälschlich hineingeratenen bestimmmten Artikel und wird sogleich berichtigt. Danke für das Nachhaken!
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: neugierig gemacht
#4: Wie GENAU gelangweilt? Ich erinnere, mich oft sehr schön und inspirierend gelangweilt zu haben. Mir genügt eigentlich, dass diese Frisch-Luz-Langeweile jemanden, der Theater einigermaßen häufig berufsbedingt zu sehen hat, nebulös glücklich gemacht hat, um neugierig auf sie zu sein. Natürlich kommt verlockend hinzu, Ulrich Matthes ohne betont familiäre Journalistenbürde vielfältig schweigen sehen zu können an seinem sich ihm anverwandten Ort. Jetzt brauch ich nur noch etwas Geld über oder zumindest eine Einladung vom Deutschen Theater und schon bin ich da!
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: Leise-Sein
Mich hat der Abend in seinem Leise-Sein sehr berührt.
In einer Zeit, in der das Werden und Vergehen von Menschen immer seltener innerhalb der Familien begleitet wird, in Kinderhorten und Seniorenheimen stattfindet, ist nicht mehr wirklich präsent, wie es ist, wenn ein Mensch die Welt verliert und die Welt den Menschen verliert.
Jeder, der einen seiner Lieben durch zunehmend "neblige" Zeiten begleitet hat, wird Geste um Geste, Schritt um Schritt mit schmerzhaftem Zusammenzucken wiedererkennen.

Prägnant und sensibel sind diese Momente eingefangen, poetisch übersetzt und zerbrechlich umgesetzt.
Und ja: Innehalten, Bedächtigkeit und Langsamkeit wohnen dem Ganzen inne...
Wer dies Langeweile nennen mag...
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: kunstgewerblich
Welch extrem langweiliger und ärgerlich vernebelter Abend; in der Tat, auch kunstgewerblich: Bißl Oberfläche, aber nix-garnix dahinter.

Gut,U.Matthes kann sehr schön schweigen; aber WAS kann alles mit uns passieren, wenn er Theater Spielen darf?

Ach, hätte ich in dieser Zeit doch Frischs Text gelesen; oder besser: Von U.Matthes vorlesen lassen!
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: zähe Sprachlosigkeit
Selten so im Thetaer gelangweilt: Zähe Sprachlosigkeit, willkürliche Musikschnipsel und simple Lichteffekte sollen Tiefsinn vorgaukeln, wo Stupfsinn die treffendere Bezeichnung wäre.
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: lieber lesen
#8: Das ist doch eine gute Frage, wenn man sie sich stellt nach dem man dort war und zugeschaut hat! Gut, man kann die sich u.U. vorher stellen. Dann geht man aber auch nicht hin. Dann genügt ein Blick in die Dramaturgie und Gehör für Ulrich Matthes außerhalb von Theater. Lieber selbst lesen, statt vorlesen lassen, solange man Augen hat zu lesen. Und einen Kopf, der sich u.a. Stimmen, Tonfälle von Romanfiguren usw. vorstellen kann, die einem in den Sinn kommen, weil die eigene situationistische Sinneswahrnehmungs-Erfahrung ein Gedächtnis davon gebildet hat. - Nicht nur Frischs Texte.
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: totes Steckenpferd
Das beste kommt zum Schluss: Nach und nach senken sich feine, weiße Gazevorhänge über die Szenerie, bis die Hauptfigur zuerst verschwimmt und schließlich ganz vor dem Betrachter verschwindet - genauso, wie sich Geisers Geist langsam - tragischerweise von ihm selbst bemerkt - aufzulösen scheint in Max Frischs "Der Mensch erscheint im Holozän". Davor weitgehend uninspiriertes Sprechtheater mit Musik. Hat also der Regisseur Thom Lutz tatsächlich wie angekündigt am dt sein Steckenpferd reiten dürfen: Drama ohne Drama mit musikalischen Versatzstücken aufladen, in denen der elaborierte Bildungsbürger Beethoven, Bartok, Bach u.a. wiedererkennt sowie neue Volksweisen aus dem Tessin, Ort der Handlung, hinzulernt. Das Problem ist nur: Das Steckenpferd ist tot. Es leistet nämlich nichts zur Darstellung der zunehmenden Verzweiflung eines Gealterten, der sich in ein Gebirgstal zurückgezogen hat und dessen innerer Eskapismus von dem äußeren Ereignis eines vorübergehend das Tal von der Außenwelt abschneidenden Erdrutschs ins Extrem gesteigert wird. Von dem zunehmenden Aberwitz, Sicherheit und Kontrolle über die eigene Erinnerung, den eigenen Intellekt, ja sogar die eigenen Gefühle zu behalten oder wiederzugewinnen mittels manischen Sammelns, Ausschneidens und an die Wand Pinnens von Lexikoneinträgen bekommt der Zuschauer keine Ahnung. Zu willkürlich bleibt die Auswahl der Teststellen, zu gering bleibt die Darstellungskraft der offenbar konzeptionell gegängelten Schauspieler, die vor allem eines nicht dürfen an diesem Abend: spielen. Weitestgehend sieht das Publikum also einen Rezitationsabend auf einer Bühne, die sich permanent um sich selbst drehen darf, ohne dass sich dadurch neue Einsichten oder Perspektiven ergäben. Dementsprechend fällt auch die Reaktion des geduldigen Publikums aus. Fast dankbares, befreites, kurzes Gelächter, wenn einige grandiose Textpassagen der Frisch-Prosa vorgetragen werden wie "Die Ameisen [...] legen keinen Wert darauf, daß man Bescheid weiß über sie" oder "Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht." Ansonsten geduldig ertragene Langeweile und am Ende verhalten-höflicher Applaus, der mehr Anerkennung für die bedauernswerten Schauspieler ist als Lohn für eine inspirierte oder inspirierende Inszenierung sein könnte. Es gäbe verschiedene Arten des Scheiterns an einem zugegebenermaßen sperrigen Stoff, der aber durchaus Ansatzpunkte für Handlung auf der Bühne geboten hätte - wenn man dies denn gewollt hätte. Diese Inszenierung ist weder krachend noch grandios gescheitert. Sondern einfach nur einfach.
Der Mensch erscheint im Holozän, Berlin: Schnarchen
100% d'accord mit Laudenbauch. Das muss wohl kunstsinnig sein, denkt der Studienrat, um ihn herum dezentes Schnarchen.
Holozän, Berlin: Hörspiel zum Stück
Das Hörspiel von Thom Luz gibt es grade beim NDR zum Download:
https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/hoerspiel/Hoerspiel-der-Mensch-erscheint-im-Holozaen,sendung893806.html#
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