Hamlet - Stefan Bachmanns beeindruckend formale Lesart in Köln zeigt Shakespeares Dänenprinzen als Spielernatur
Den Idioten spielen
von Martin Krumbholz
Köln, 23. September 2016. Welche sind eigentlich die "zwölf bis sechzehn Verse", von denen Hamlet sagt, dass er sie in den Sketch "Die Ermordung des Gonzago" bzw. in "Die Mausefalle" einfügen wolle? Man weiß es nicht; das Tolle und Unvergleichliche an "Hamlet" ist ja, dass dieses Stück auch nach 400 Jahren noch – produktive – Rätsel enthält. Und jede Aufführung ist nur eine Annäherung an diesen Rätsel-Komplex; an manchen Stellen kommt sie näher an eine Lösung, an anderen weniger nah. Ein "durch und durch theaterbesessenes Stück" hat der immer noch ungemein anregende Harold Bloom Shakespeares größtes Werk genannt, nicht nur, weil Hamlet selbst ein Theatraliker ist; schon deshalb will jeder Theatermensch von einigem Ehrgeiz es machen, jede Theatergängerin es immer wieder sehen.
In einer der schönsten Szenen einer alles in allem ziemlich beeindruckenden Aufführung in Köln sind die zentralen Figuren des Stücks verdoppelt. Es ist die Theaterszene, die "Mausefalle" eben; nicht nur König und Königin, auch alle anderen, Rosenkrantz und Guildenstern etwa, sehen sich mit ihren Spiegelbildern konfrontiert. Jeder Mensch auf diesem Planeten könnte von einem anderen, von einem buchstäblich Dahergelaufenen gespielt werden – eine irrwitzige Vorstellung, die weit über die übliche Theatermetapher hinausgeht. Manchmal hat der Doppelgänger sogar ein anderes Geschlecht, in diesem Fall Gertrud, die ehebrecherische Königin, in deren blauem Kleid sich ein großgewachsener Mann verbirgt.
Polonius lauscht vor dem Vorhang
Die exakt choreografierte Szene entspricht dem streng formalen Ansatz, den Stefan Bachmann gewählt hat, ohne dass seine Inszenierung blutleer oder kopflastig wirkte. Die geradezu genial einfache Bühnenbildlösung von Olaf Altmann hat einen hohen Anteil daran. Ein weit gespannter Rundhorizont aus bordeauxrotem Vorhang und eine mit Parkettboden belegte Drehbühne – das ist alles. Wie schon in seinen Geschichten aus dem Wiener Wald verzichtet Bachmann strikt auf Requisiten, ob Brief, Fläschchen oder was auch immer; selbst die Degen in der Duellszene am Schluss muss man sich "hinzudenken".
Die Kombination aus Drehbühne (gegen deren Sinn sich die Akteure oft bewegen, so dass sie wie Hamster auf der Stelle laufen) und Vorhang ermöglicht wunderbar fließende Auftritte und Abgänge; die Bühne bringt die Spieler so flink herein, wie der Vorhang sie verschwinden lässt. Einmal, bei der Ermordung des Polonius, dreht Bachmann die gewohnte Perspektive um: Hamlet und seine Mutter streiten lautstark im Off, während der lauschende Haushofmeister auf der Bühne stirbt.
Hamlet als Doppelgänger seiner selbst
Der Hamlet des Peter Miklusz, einem Neuling im Kölner Ensemble, platinblond, schwarze Hose, weißes Hemd, klein, geistig und körperlich gleichermaßen beweglich, betont nicht die schwermütig-intellektuelle Aura des Helden, sondern seine Spielernatur. Den Idioten spielen, um andere zu düpieren: das war die ursprüngliche, von Shakespeare adaptierte Idee des Stücks. (Bloom, der Nietzsche gelesen hat, wird nicht müde zu betonen, dass Hamlet weder bloß ein "Melancholiker" noch sein Stück lediglich eine "Rachetragödie" sei, aber das ist ein weites Feld.) Miklusz setzt diese Lesart fabelhaft um. Er ist immer der Spieler, der Doppelgänger seiner selbst, der sich beim Agieren (bzw. beim Reden) einigermaßen fasziniert zusieht und -hört.
Ein einziges Beispiel für eine gelungene Annäherung an die Rätsel-Schicht des Stücks: Selten wird es so plastisch greifbar wie hier, mit welcher Schärfe Hamlet den Claudius/Gertrud-Komplex auf die arme Ophelia projiziert, immer wieder mit einschlägigen Anspielungen auf ihre Unschuld operierend; was wiederum Polonius veranlasst, verschmähte Liebe gar nicht so unplausibel für Hamlets vermeintlichen Wahnsinn verantwortlich zu machen. Wie hier eins ins andere greift, unerbittlich, man begreift: das ist brillant konstruiert, man muss es aber auch kongenial spielen können. Miklusz, eine großartige kindlich-schlichte Lou Zöllkau als Ophelia und Wolfgang Pregler (Polonius) können es. Aber das Ensemble hat insgesamt bestechendes Format und spielt immer wieder groß auf.
Shakespeare zahlt zurück
Die Kostüme von Birgit Bungum: bunt, aber nicht grell. Die Bühnenmusik von Sven Kaiser: auf der Orgel gespielt, mit unüberhörbar sakralen Untertönen, eine Art spartanisches Requiem. Wenn die Schauspieler sich gleichwohl dadurch zum Tanzen animiert fühlen, umso besser. Es ist schön, dass Stefan Bachmann, dem ja in Köln nicht alles und jedes gelungen ist, sich jetzt an diesen "Hamlet" gewagt hat. Shakespeare ist sicher ein schwieriger, aber auch ein dankbarer Autor. Wenn er will, zahlt er großzügig zurück. "Bereit sein ist alles."
Hamlet
von William Shakespeare
Aus dem Englischen von Heiner Müller
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Birgit Bungum, Choreografie: Sabina Perry, Kampfchoreografie: Annette Bauer, Musik: Sven Kaiser, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Barbara Sommer.
Mit: Jörg Ratjen, Bruno Cathomas, Marie-Lou Sellem, Peter Miklusz, Wolfgang Pregler, Simon Kirsch, Lou Zöllkau, Niklas Kohrt, Yuri Englert, Nicolas F. Djuren, Nicolas Handwerker, Nils Hohenhövel, Robin Meisner, Elias Reichert, Elisa Schlott, Kristin Steffen, Marlene Tanczik.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspielkoeln.de
Hartmut Wilmes von der Kölnischen Rundschau (26.9.2016) schreibt, Bachmann schnüre das Stück in keins "der üblichen Regiekorsetts", sondern lasse es verblüffend frei atmen. In der Leere der Bühne stelle sich nie "szenische Ödnis" ein. Wilmes schließt: "berechtigt starker Beifall, insbesondere für Peter Miklusz' Debüt".
Christian Bos vom Kölner Stadtanzeiger (25.9.2016) beschreibt diesen Hamlet mit Verweis auf Heiner Müller als eine "Hamletmaschine". "Nicht weil das Stück nun mechanisch dahinratterte, sondern weil die Zahnräder hier so reibungsfrei und elegant ineinander greifen. Und dabei Menschen zermalmen." Bachmann wolle in größtmöglicher Deutlichkeit zeigen, was genau passiert, im berühmtesten Stück der Literaturgeschichte. "Muss man gesehen haben."
"Stefan Bachmann inszeniert die Tragödie mit Formwillen und schönen Einfällen und Einzelheiten, ein Drama über und für unsere Zeit, die aus den Fugen ist, zeigt er nicht", schreibt Andreas Rossmann in der FAZ (27.9.2016). "Als würde (und wollte) sie die Kenntnis des Dramas voraussetzen, gefällt sich die Regie darin, einzelnen Szenen neue Seiten abzugewinnen und sie in ein überraschendes Licht zu tauchen." Bachmann, der viel gekürzt und das Drama politisch gekappt habe, finde Ansätze, "aber keine schlüssige Lesart".
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Shakespeare ohne Shakespeare.
Der Rest ist zwar nicht Schweigen, aber viel zu statisch. Sinnbildlich für die Inszenierung stehen die ersten gefühlt zwanzig Minuten, in denen das Ensemble ständig von einem Bein auf das andere tritt und den Text aus Heiner Müllers Shakespeare-Übersetzung deklamiert. Die ersten beiden Stunden kommen nicht vom Fleck. Dementsprechend bleiben viele Plätze nach der Pause leer.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/04/hamlet-zur-spielzeiteroeffnung-in-koeln/
An dieser Stelle auch die Frage: was wurde aus der mutigen Angela Richter? Habe letzte Woche in Köln ein Podium nach dem Film über Snowden besucht, auf dem Richter aufgetreten ist und so überhaupt erfahren, dass sie in Köln entlassen wurde! Nun ist also der einzige Farbtupfer im Kölner Biedermeier-Einerlei verschwunden. Frau Richter hat Einzigartiges geleistet, das auch überregional beachtet wurde, ich erinnere an Supernerds! Und ihre Arbeit über Kippenberger habe ich zweimal gesehen. Wäre wirklich interessant zu erfahren, warum Bachmann sie gefeuert hat. Deprimierende Aussichten für Köln.