Die schmutzigen Hände - Martin Kušej versetzt Jean-Paul Sartres Revolutionsdrama am Residenztheater München hinter Gitter
Alle sitzen im gleichen Käfig
von Shirin Sojitrawalla
München, 24. September 2016. Beim Schlussapplaus ereignet sich, was man den Abend lang vermisste: Christian Erdt, der in der Rolle des Hugo seinen Einstand am Residenztheater gibt, vollführt sachte eine angedeutete Umarmung mit seinem Intendanten und Regisseur Martin Kušej. Der Schauspieler strahlt kurz hinauf, der Intendant strahlt kurz hinunter, und auf einmal ist alles da: Bewunderung, Freundschaft, Zweifel, Anerkennung, Liebe, Angst, Vater und Sohn. Also alles das, was Jean-Paul Sartre auch der Beziehung zwischen seinen beiden Protagonisten Hugo und Hoederer im 1948 uraufgeführten Stück eingeschrieben hat, was sich an diesem Abend im Cuvilliés-Theater aber so gut wie nicht zeigt.
Geschlossenes System Politik
Das könnte auch daran liegen, dass sich diese Inszenierung richtiggehend dagegen sperrt, wahrgenommen zu werden. Stefan Hageneier hat einen Käfig auf die Bühne gestellt, in den er einen zweiten platziert. In diesen Dingern spielt sich das ganze Drama ab. Aber warum? Sollen das Affen sein, die bloß einem tierischen Programm folgen? Labormäuse? Experiment Realpolitik? Der revolutionäre Kampf als geschlossenes System? Das Programmheft hilft: "Illyrien gerinnt hier zu einem Gefängnis, bewacht von Leibwächtern (...)". Illyrien nennt Sartre im Stück seinen fiktiven Staat, und die Leibwächter sind in diesem Falle die anderen Darsteller, die den im Käfig Spielenden zuschauen. Ihre Gesichter sind dabei mehr zu erahnen als zu sehen und so richtig gut zu verstehen sind auch nicht immer. Da hört man schon mal "Du Blödmann", wenn es heißt "Du blutest". Aber das nur am Rande.
"Die schmutzige Hände" mit Christian Erdt als Hugo, Lisa Wagner (Jessica), Norman
Hacker (Hoederer) © Julian Baumann
Besagter Käfig haust auf der nackten Bühne unterm Neonlicht und gibt dem Ganzen die Anmutung eines Folterkellers. Dazu treten die Darsteller, bevor es richtig los, geht mit nackten verwundeten Oberkörpern und in hautfarbenen Unterhosen in Erscheinung, und Hoederer (Norman Hacker) wird im Käfig wie zur Abschreckung aufgebahrt.
Im Dschungel wie in Zwickau
Mit denselben Aussichten endet der Abend nach zwei Stunden dann auch. Das Dazwischen – in der flotten und zeitgemäßen Neuübersetzung von Eva Groepler – setzt Kušej formal streng schematisch um, indem er die einzelnen Szenen immer nach demselben Muster voneinander trennt: Erst Black, dann kurz beleuchtete Bühne, wieder Black und danach Licht auf die jeweiligen Protagonisten. Und das sieben Akte und noch viel mehr Szenen lang. Dafür ist es gar nicht so langweilig geworden. Richtig ausdauernd bei der Stange hält es einen jedoch auch nicht, ich zumindest widme mich zwischendurch den im Golde des Rokokotheaters tänzelnden Putten und gedenke der französischen Revolution und ihrer rollenden Köpfe.
Die Grenzen verschwimmen zwischen schuldig und unschuldig: alle sitzen hinter Gittern und
weit weg vom Publikum in "Die schmutzigen Hände" © Julius Baumann
Auf der Bühne erinnert Anna Graenzer als Olga ein bisschen an Beate Zschäpe, auch eine Untergrundkämpferin, wenn man so will. Michele Cuciuffo als Louis sieht indes aus, als sei er gerade mit Che aus dem bolivianischen Dschungel gekommen. Daneben nimmt sich Christian Erdt als Hugo aus wie ein Grünschnabel. Den soll er ja auch verkörpern, ein 21 Jahre altes Bürgersöhnchen, ein Intellektueller, der endlich eine Tat für die Partei vollbringen muss, um nicht weiter eine bloße Schreibtischtäterexistenz zu führen. So bekommt er den Auftrag, den Funktionär Hoederer, der sich gerade quer zur Parteilinie verhält, zu erschießen.
Flucht in große Gesten
Kušej erzählt das, wie von Sartre vorgesehen, als langen Rückblick, der einsetzt, nachdem Hugo wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde. Zum Landsitz von Hoederer hat ihn zwei Jahre zuvor auch seine Frau Jessica begleitet. Lisa Wagner spielt sie als vordergründig dämliches Ding, in Wahrheit behält sie als einzige den Durchblick.
Schnell entwickelt sie sich an diesem Abend zum Publikumsliebling, nicht nur weil das Stück ihr die schönsten Pointen vorschreibt, sondern auch weil sie sie freigeistig rotzig bis pampig ironisch zu setzen versteht. Dabei fällt sie auch dadurch auf, dass sie nicht so arg mit den Armen herum fuchtelt, um sich Gehör zu verschaffen. Diese an diesem Abend so häufigen Ausflüchte in die großen Gesten könnten durchaus Folge des Käfigkorsetts sein. Wie die Gitter und Stäbe überhaupt den Kontakt zwischen Bühne und Zuschauerraum erheblich stören. Womöglich liegt es ja auch daran, dass die Sätze aus dem Käfig oftmals papierener tönen als auf dem Papier: kein wirklich spannender Abend.
Die schmutzigen Hände
von Jean-Paul Sartre, Deutsch von Eva Groepler
Regie: Martin Kušej, Ausstattung: Stefan Hageneier, Musik: Bert Wrede, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Norman Hacker, Christian Erdt, Lisa Wagner, Anna Graenzer, Manfred Zapatka, Thomas Gräßle, Michele Cuciuffo, Arthur Klemt, Philip Dechamps.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.residenztheater.de
Sven Ricklefs vom SWR (26.9.2016) rechnet es Martin Kusej hoch an, dass er seinem Residenztheater in den gegenwärtigen brisanten Zeiten eine bewusst politische Note gebe. "Dass bei diesem Plan nicht alles zünden kann oder wird, ist dabei nur selbstverständlich." Man spüre von diesen Figuren, "die da teilweise mit plakativ großen Wunden am Körper durch die Geschichte laufen, eher wenig, was sicherlich auch daran liege, dass sie einem in ihrer Käfiglandschaft merkwürdig entrückt erscheinen".
Patrick Bahners von der FAZ (26.9.2016) schreibt: "Die fixe Idee, die Schauspieler nackt herumlaufen zu lassen, offenbart unfreiwillig den Spiritualismus einer Inszenierung, die im Stück nur extreme Situationen entdeckt, aber kein Problem." In seiner Rede zur Spielzeiteröffnung habe Kušej ein neues politisches Theater gefordert, "das dem gesamten Kulturbetrieb ein Beispiel geben solle". Bahners konstatiert: "So wird das nichts."
Kušej wolle Sartres Imperativ vom Situationstheater verwirklichen, "das den Zuschauer in extreme, existentielle, aber allgemeine Zustände stürzt, auf dass sie ihn letztlich zu sich selbst bringen mögen". So K. Erik Franzen von der Frankfurter Rundschau (26.9.2016). Nicht Überwältigung, sondern Durchdringung sei das Mittel der Wahl. "Das kann man machen: beispielhafte gesellschaftliche, politische und soziale Zustände diskursiv abbilden."
Christine Dössel schreibt in der SZ (26.9.2016): "Der ganze Abend, so ruhig und klar er auch inszeniert ist, bleibt auf Abstand. Warm wird man damit nicht." Aber man sehe den Schauspielern ganz gerne zu und folge, "so rational wie ungerührt, der finalen Tötungslogik, die Sartre in messerscharfen Sätzen entfaltet". Düssel schließt: "Ein seltsam emotionsloser Abend hinter Gittern. Es ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und dahinter: nur eine modellhafte Welt."
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Stattdessen steht man herum und diskutiert. Und diskutiert. Und diskutiert ein bisschen mehr. Statisch, ohne Tonfalländerung, eine lange Abfolge des Immergleichen. Dass Kušej dazu während der eigentlichen Szenen einen realistischen Spielstil versucht, akzentuiert die Trockenheit des Nichtgeschehens nur noch mehr. Außer Lisa Wagner, die ihre Jessica spielerisch ironisch als Durchschauerin der Ränkespiele anlegt und so die Bedeutungshuberei der anderen noch mehr der Lächerlichkeit preisgibt – sie ist nicht zufällig die einzige Symapthieträgerin des Abends – bleiben die Figuren an diesem Abend bestenfalls hölzerne Marionetten, kaum fleischgewordene Sprechblasen. Das ist legitim, nur führt das eben dazu, dass der Abend weit weg bleibt, unterkühlt wirkt und den Zuschauer nicht an sich heran lässt. Eine Distanzierung, die den Blick nicht schärft, sondern das Hirn einlullt. Wahrheit deutet sich nur zwischen den Szenen an, im zwanghaften Tigergang der Politikroboter. Geht das Licht an, ist das schnell wieder vergessen.
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2016/12/02/politik-im-tigerkafig/