Go east!

von Hartmut Krug

Senftenberg, 24. September 2016. Ein Entkommen gibt es für den Theaterbesucher nicht: Wer zum Senftenberger Theaterspektakel will, der muss über einen roten Teppich gehen und sich einem Blitzlichtgewitter stellen. Drinnen wird dann mit Sekt in neu gestalteten, hellen Räumen Geburtstag gefeiert. An den Wänden Porträtfotos von Künstlern, die die Geschichte des Theaters geprägt haben. Und Fototapeten mit Motiven aus der 70-jährigen Geschichte einer Bühne, die auf Befehl des damaligen Stadtkommandanten Iwan Demjanowitsch Soldatow in einer alten Schulturnhalle eingerichtet wurde.

Längst nennt sich das einstige Theater der Bergarbeiter in einer Stadt, der Bergbau und Bergbauarbeiter abhanden gekommen sind, Neue Bühne Senftenberg. Und beginnt wie jedes Jahr seine Spielzeit mit einem Spektakel: Vier Theaterstücke und erstmals ein abschließender Ball umfasst das Angebot. Allerdings kann jeder Zuschauer nur zwei Stücke sehen, weil nach dem Auftaktstück im großen Saal die anderen drei Stücke an verschiedenen Orten gleichzeitig laufen. Zwei von ihnen sind Uraufführungen: So fällt die Entscheidung schwer. Bornholmer Strasse 560 In "Bornholmer Strasse" warten Offiziere auf erlösende Befehle © Theater Senftenberg

Keine Maus darf duchkommen

Für die "Bornholmer Strasse" (nach dem Drehbuch von Heide und Rainer Schwochow des gleichnamigen Films) dräut ein massiger Wachturm mit Schlagbaum und Gitter auf der Bühne, die nach einer Drehung eine Kantine freigibt. Vor dem Schlagbaum erklärt dem Publikum erst einmal einer der vielen Uniformträger, die hier für die Grenztruppen, den Zoll, die Sicherheit oder als Fahndungsoffizier und Parteisekretär tätig sind, in herablassendem Befehlston mit Hilfe eines Overhead-Projektors nicht nur die auf komische Weise verschachtelte Konstruktion der GÜST, wie die Abkürzung der Grenzübergangsstelle lautet, sondern anschließend auch die Aufgabe seiner Abteilung: Keine Maus darf durchkommen. Tut sie wohl auch nicht, aber einem kleinen Hund gelingt es. Der ist ganz ohne Ausweis, aber mit Durchfall aus der Richtung "feindwärts" durchgekommen. Natürlich wird er als Grenzverletzer festgenommen und nach allen bürokratischen Vorschriften dokumentiert und behandelt.

Scharfmacher und Pragmatiker

Es ist eine kräftige Männerriege, die hier mit und gegeneinander agiert. Manche wirken verformt durch ihre Funktion, einige sind Scharfmacher, andere argumentieren eher bedächtig. Günter Schabowskis Pressekonferenz, in der er den DDR-Bürgern die Ausreise gestattet und die die Männer im Rundfunk hören, führt zu hektischer Unsicherheit und gegenseitigen Aggressionen. Friedrich Rößiger als Chef vom Dienst in der GÜST gibt wunderbar die Hilflosigkeit und Verzweiflung eines Mannes, der immer wieder nach Befehlen von oben fragt. Er zeigt einen Pragmatiker, der den Bürgern, die jetzt über die Grenze wollen, mit Vernunft und alten Regeln beikommen will. Andere Offiziere wollen auf Gewalt setzen.

Komik der Schwerfälligkeit

Regisseurin Sonja Hilberger nimmt die Männer, die hier an "unserer Grenze" ihren Dienst tun, durchaus ernst. Zugleich aber arbeitet sie auch die Komik heraus, die sich aus den Beziehungsritualen in einem schwerfälligen System ergeben. Wir erleben Aversionen und Animositäten, Hilflosigkeiten und Gewaltbereitschaft. Das ganze ist solides Erzähltheater zugleich eine Art dokumentarische Komödie. Da gibt es eine Zollsekretärin, die in der Kantine arbeitet und ihren Sohn, den Chef der Zolleinheit, unentwegt bemuttert. Es gibt einen Oberst, der sich hilflos den telefonischen Forderungen des GÜST-Leiters nach Befehlen und Verhaltensweisungen ausgesetzt sieht.

Schließlich kommen die reisewilligen DDR-Bürger aus dem Zuschauerraum. Wenn der Befehlshaber die Grenze öffnet, ist dies auch ein Akt von verzweifelter Erschöpfung. Die Inszenierung zeigt Haltungen und Handlungen von Menschen so, dass sie im positiven wie negativen Sinn verstehbar scheinen.

Birkenbiegen 560 In Birkenbiegen von Oliver Bukowski sucht man das Glück im Osten © Theater Senftenberg

Eine blühende Landschaft

Oliver Bukowski lässt in "Birkenbiegen" ein Paar, das in der Wendezeit aus der Lausitz in den Westen gezogen war, zurück in den Osten gehen. Hier am Ufer des Senftenberger Sees wartet noch Grund und Boden als Kapitalversprechen. Natürlich ist die Beziehung des Paares nicht unbedingt harmonisch, Sabine, die Mutter, und Volker, der Vater, fetzen sich, und die 17jährige Nachwende-Tochter Ruby ist ein Teenager mit Selbstfindungsproblemen.

Auch die im Osten verbliebenen Verwandten sind eine schräge und bunte Gemeinschaft: Vera, die Schwester Sabines, und ihr Mann sind auch nicht unbedingt vom Erfolg verwöhnt, während Ruth, die Mutter der beiden Schwestern, eine lebensklug taffe Großmutter wie aus dem Bilderbuch ist. (Sybille Böversen gibt ihr eine schön ironisch selbstbewußte Färbung.) Dann gibt es im Ostteil der Familie noch den schwulen Sohn Karl, wie Ruby 17jährig. Die beiden kommen zunächst gar nicht miteinander klar, doch dann finden sie sich, auch, weil sie beide mit ihren Eltern Probleme haben.

Überladen unterhaltsam

Oliver Bukowski hat ein schräg überladenes Stück geschrieben. In der Senftenberger Uraufführung setzt Regisseurin Samia Chancrin stark auf die Groteske und inszeniert die Probleme zwischen und innerhalb der Paare recht handfest. Das Publikum sitzt gegenüber eines schmalen, langen Stegs, auf dem eine Art Lore mit den Figuren und deren Utensilien hin und her gefahren wird. Beziehungsprobleme, Meinungen zu Ost und West, Findungsprobleme der Jugendlichen, Vorurteile und Annäherungsversuche: Es ist eine Fülle von nicht immer strukturierten Situationen, mit denen der Autor weniger das Ost-West-Verhalten denn grundsätzliche Beziehungsprobleme abhandelt. Es ist ein unterhaltsames Stück, vor allem auch, weil es mit Michael Kind als Ost-Vater und mit Nicole Haase als Ost-Schwester Darsteller gibt, die klare Figurenporträts zeichnen.

Als die aus dem Westen Zurückgekehrten erfahren, dass ihr Insel-Seegrundstück nicht betreten werden darf, weil es abrutschgefährdet ist, wollen sie zurück in den Westen.
Und Ruby, die sich mit Burka und Deutschlandfahne einer Pegida-Demonstration entgegen gestellt hat, wird schwer zusammengeschlagen. Karl holt sie aus der Klinik, die beiden begeben sich auf die Insel, reden über einen Weg, wie man leben kann. Dann bringt Karl Ruby wohl zurück und das Stück endet mit einem offenen Schluss.
Das ambitionierte Stück mit seinen oft kräftigen Dialogen und Situationen kam beim Publikum sehr gut an.

 

Bornholmer Strasse
Bühnenfassung von Jörg Steinberg und Rainer Schwochow nach dem Drehbuch zum gleichnamigen Fillm
Regie: Sonja Hilberger, Bühne: Ulrike Reinhard, Kostüm: Jenny Schall, Dramaturgie: Maren Simoneit.
Mit: Friedrich Rößiger, Tom Bartels, Robert Eder, Daniel Borgwardt, Wolfgang Tegel, Sybille Böversen, Jan Schönberg, Catharina Struwe, Sebastian Volk, Heinz Klevenow, Simon Elias, Eva Geiler, Ingo Zeisig, Nadine Ehrenreich, Mariann Helene Jordan.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

Birkenbiegen
von Oliver Bukowski
Uraufführung
Regie: Samia Chancrin, Bühne: Ulrike Reinhard, Kostüm: Jenny Schall, Dramaturgie: Igor Holland-Moritz.
Mit: Eva Geiler, Daniel Borgwardt, Katrin Flüs, Sybille Böversen, Nicole Haase, Michael Kind, Sebastian Voll.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-senftenberg.de

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Wir sind 70!, Senftenberg: Leserkritik
Ein Spiel – mit der Realität
Begeisterte Zuschauer bei "Phantom (Ein Spiel)" auf der Probenbühne 3

SENFTENBERG "Phantom (Ein Spiel) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz ist nah dran an den deutschen Zuständen und an den Zuschauern, die rechts und links der Spielfläche sitzen. Wegsehen, raus halten ist nicht.

Ein Spiel – mit der Realität
Marianne Helene Jordan in "Phantom" – ein Spiel mit Vorurteilen.
Foto: Renate Marschall
Es ist ein Spiel, das bleibt zu jeder Zeit präsent und die Probenbühne der richtige Ort dafür. Das sich ständig ändernde Bühnengeschehen fordert dazu heraus, Position zu beziehen. Immer wieder mal geht ein Stöhnen durch den Raum, wenn flache Klischees à la Pegida oder AfD durch den Raum fliegen.

Aber fangen wir mit dem Anfang an, der eigentlich das Ende ist. In einem Burger-Restaurant finden die Beschäftigten bei Schichtende ein ausgesetztes Neugeborenes. Ausgerechnet zum Schichtende! Muss man da jetzt was tun? Babyklappe? Polizei? Vor allem, wer ist die Mutter? Gewiss war es die Zigeunerin – Roma muss man jetzt sagen. Aber geben die ihre Kinder her?

Wie also könnte es gewesen sein? Die drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler treten immer mal wieder aus ihren Rollen heraus, entwickeln die Geschichte. Dazu finden sie auf der Bühne alle möglichen Requisiten und Kostüme (Jenny Schall), die es ihnen ermöglichen, schnell von der einen in die andere Rolle umzusteigen. Nicht immer sind sie sich einig, welchen Charakter ihre Figuren haben, wie das Stück zu seinem Ende kommen soll.

Da ist Blanca, keine Roma, sondern Bulgarin, die für ihre Familie in Deutschland Quartier machen soll. Erst wird sie von ihrem Vetter abgezockt, einem üblen Geschäftemacher, dann von den Deutschen. Von Schlafplatz-Vermieter bis Spargelbauer, der den Mindestlohn zu minimieren weiß. Und dann ist da noch die Familie, die nach Geld ruft, deren Vorstellung über Deutschland so gar nichts mit der Realität zu tun hat. Aber Blanca lernt schnell, wie dieses Land funktioniert. Aus der Schüchternen Naiven wird die Selbstbewusste, hart Arbeitende. Ihre Würde behält sie immer.

Ganz anders Annica, die Deutsche, die alle Hartz IV-Klischees bedient – faul, verfressen, blöd. Und auch noch schwanger. Blanca zieht bei ihr ein, räumt ihr den Dreck weg für ein mietfreies Zimmer. Mit dem Kind ist Annica schließlich überfordert – ja eigentlich schon mit sich selbst. Als Blanca von der Arbeit kommt, steht ihre Tasche vor der Tür, hinter der kein Kindergeschrei mehr zu hören ist. . .

"Phantom" spielt auf intelligente Weise mit Vorurteilen, bestätigt oder konterkariert sie, macht klar, dass die einfachen Wahrheiten keine sind. Einer Versuchsanordnung gleich lässt Regisseur Tilo Esche die überzeugend agierenden Schauspieler – Marianne Helene Jordan, Nadine Ehrenreich, Anita Iselin, Tom Bartels und Robert Eder – gesellschaftliche Realität immer wieder neu hinterfragen. Zurecht gab es Bravos und viel Beifall.

Renate Marschall
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