Die Insel der lustigen Grenzverletzer

von Matthias Schmidt

Leipzig, 1. Oktober 2016. Damit war nicht unbedingt zu rechnen. Dass "Kruso" in erster Linie ein großer Abend für eine Schauspielerin wird. Anja Schneider spielt in Armin Petras‘ Fassung diesen Kruso, den Insel-Sonderling, den Freiheits-Hüter von Hiddensee. Warum Petras den Kruso mit einer Frau besetzt, erschließt sich nicht wirklich, und bevor wir jetzt hier in Gender-Fragen herumstochern, behaupten wir einfach mal: weil sie es kann.

Anja Schneider ist eine umwerfende Komödiantin. Sie gibt den Kruso als kumpeligen Kollegen, als fanatischen Freiheits-Prediger, als hyperaktiv an seiner Biografie Leidenden und albernen Comedian. Eine Kreuzung aus Thomas Müntzer und Mario Barth. Schaut man genauer drauf, passt eins im Grunde nicht zum anderen, bleibt der Charakter Krusos extrem diffus. So ist das ja nicht selten bei Armin Petras' Inszenierungen: Es passiert so viel, die Ideen jagen einander in einem ja ebenfalls ein bisschen hyperaktiv wirkenden Tempo, sodass man kaum darüber nachdenken kann, wie das alles zueinander gehört.

Bildertheater im Fadenwald

Im Grunde ist es egal, der Abend war zauberhaft, und dass nicht nur dank Anja Schneider. Da ist Olaf Altmanns Bühne, ein weit offener Raum voller senkrecht gespannter Perlonfäden, die im wechselnden Licht schimmern und glänzen, mal wie das nächtliche Meer, mal wie ein Platzregen. Die einen halten sich daran fest, anderen sind sie ein labyrinthisches Gefängnis. Da ist der rege Musikeinsatz, von sphärischen Klängen bis zum Live-Schlagzeug auf der Hinterbühne. Da sind die vielen, vielen schönen Bilder, die Petras in den Fadenwald hineininszeniert. Mit ein paar Wimpeln wird eine Landkarte gesteckt, mit putzigen Modellhäuschen erläutert, wo auf der Insel wie viele "Schiffbrüchige" versteckt werden können, und die in der Ostsee umgekommenen Flüchtlinge hängen wie ein Tableaux Vivants in den Perlonfäden. Es ist ein Bilder- und Pointentheater.

KRUSO2 560 Rolf Arnold uEs regnet Bildertheater: das Leipziger Ensemble unter der Regie von Armin Petras
© Rolf Arnold

Zieht man den Bühnenzauber ab und schaut auf den Text, so offenbart sich eine – zumindest größtenteils – letztlich ziemlich konservativ heruntererzählte Geschichte. Mal monologisch, wie zu Beginn, als Edgar Bender (gespielt von Florian Steffens) vor dem Eisernen steht und mit Lutz Seilers schönen Worten ins Geschehen einführt, in der Folge auch gerne mal chorisch. Petras bleibt in seiner Fassung nah dran am Original. Er entkernt und verdichtet es nur für die Bühne.

Man erfährt alles Wesentliche über Ed und Kruso, die beide darunter leiden, einen ihnen wichtigen Menschen verloren zu haben. Er lässt hingegen alles weg, was ihm zu illustrativ erscheint: Details aus dem Alltag des Klausner-Personals, das viele Geschirrklappern in der Küche des Restaurants "Zum Klausner", das Radio in eben jener Küche, aus dem bei Seiler der Deutschlandfunk die Nachrichten aus dem bewegten Sommer 1989 mitteilt. Zumindest die Älteren erinnern sich von selbst daran, wenn beiläufig die Namen Berlin und Budapest fallen. Überhaupt, bis zur Pause spielt das "Festlandsgeplapper" kaum eine Rolle. Alles ist Insel: eine Arche voller Schiffbrüchiger.

Spiel mir das Lied von der Ketchup-Tube

Faszinierend an Petras' Zugriff auf den Stoff ist, wieviel Komik er darin entdeckt. Beziehungsweise wieviel Komik man hineinstecken kann, ohne dass der Stoff Schaden nimmt. Selbst die Grenzpatrouillen und der Schießbefehl lassen sich problemlos verklamauken. "Scheiß Grenzverletzer", flucht einer der Posten, als er beim Rauchen gestört wird. Und dass Berndt Stübner als Direktor des Betriebsferienheimes "Klausner" irgendwann Brechts "Lob des Kommunismus" vorträgt, erfährt zusätzlichen Reiz daraus, dass Stübner der einzige Schauspieler auf der Bühne ist, der schon hier spielte, als das Leipziger Schauspiel noch von einem Mitglied des ZK der SED geleitet wurde. Ist das nur Komik oder schon Subversion? Es ist, mit Brecht, das Einfache, das schwer zu machen ist. Einer wie Stübner kann so etwas, natürlich.

KRUSO1 560 Rolf Arnold uAuf Hiddensee: Anja Schneider und Florian Steffens als Kruso und Ed kosten die Freiheit der Insel
© Rolf Arnold

Die Geschichte so zu Ende zu erzählen, relativ geradlinig, ganze Seiten auf kleine Andeutungen reduzierend (die im Buch sehr enge Beziehung zwischen Ed und Kruso wird ohne Worte, nur mit wenigen Gesten belegt), das ist Armin Petras' Sache dann doch nicht. Nach der Pause geht es deutlich plakativer zu. Da wird bildhaft die DDR zu Grabe getragen, Musik: Spiel mir das Lied vom Tod. Ed und Kruso improvisieren – als Senf- und Ketchup-Tube verkleidet – was Lustiges zum Thema "jetzt kommt die neue Zeit". Das ist schon komisch, ja, aber etwas peinlich ist es eben auch. Im Roman sind diese Szenen zwischen Ed und Kruso, die nun nur noch zu zweit den Betrieb im Klausner schmeißen, nämlich alles andere als Kabarettnummern.

Hier aber scheint Armin Petras der Roman egal zu sein, hier drückt er – ein Kalauer darf sein – richtig auf die Tube. Woraus eine weitere der vielen Doppeldeutigkeiten der Inszenierung entsteht, denn Krusos radikale Ablehnung dessen, was sich die Mehrheit wünscht und was nun unaufhaltsam näherkommt, hat ja ebenso wahre wie auch lächerliche oder gar reaktionäre Züge. Bei Petras bleibt unklar, was von beidem er in dieser Szene karikiert. Oder eben ernst nimmt. Fest steht nur, die Freiheit der anderen war das Ende von Krusos Freiheit, der Freiheit der Insel. Sie war auch Krusos Ende, wie Ed schließlich berichtet, wieder ganz alleine zwischen den Perlonfäden stehend. Im Regen.

 

Kruso
nach dem Roman von Lutz Seiler
für die Bühne bearbeitet von Armin Petras und Ludwig Haugk
Regie: Armin Petras. Bühne: Olaf Altmann. Kostüme: Patricia Talacko. Musik: Johannes Cotta. Choreografie: Denis Kuhnert. Dramaturgie: Christin Ihle. Clara Probst.
Mit: Alina-Katharin Heipe. Ellen Hellwig. David Hörning. Andreas Keller. Jonas Koch. Dirk Lange. Ferdinand Lehmann. Markus Lerch. Elias Popp. Anja Schneider. Nina Siewert. Florian Steffens. Berndt Stübner.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Wolfgang Schilling vom MDR (2.10.2016) hat (fast) "nichts zu meckern". Man werde auf sehr sensible Weise in die Geschichte und die theatrale Umsetzung hineingezogen. Petras setzte auf große Bilder, auf ein sehr artifiziells Ambiente, um den magischen Realismus Seilers auf der Bühne Raum zu geben. Dieser Kruso sei ein "Bühnengesamtkunstwerk" – ein "ziemlich totales, das auch seine Zeit braucht", das Schilling aber immer in Aufmerksamkeit gehalten habe. Einziger Einwand: Am Ende fehle der Mut zum Knalleffekt.

Steffen Georgi von der Leipziger Volkszeitung (2.10.2016) sah "ein Stück durchaus exemplarischen Gegenwarts-Theaters". "Denn was auch diese Inszenierung zeigt, ist die Schwierigkeit die es hier und heute inzwischen bereitet, mit dem Dampfer des Theaterbetriebs dorthin zu gelangen, wo Seilers lyrisch mäandernder Prosatext seinen Nicht-Ort hat: zu den Gestaden des Poetischen nämlich." Diese würden sich hier auflösen "im Strom allzu naheliegender Dechiffrierbarkeiten".

"Der Regisseur vertraut auf den starken Text, lässt diesen aber oft allein wirken und setzt Theatermittel lediglich als Illustration ein", mokiert Tobias Prüwer von der Freien Presse (4.10.2016). Die Intensität von Lutz Seilers Romanvorlage gehe verloren. "Viele Gefühlsregungen sind aufgesagte Behauptungen statt schauspielerischer Verkörperungen." Was Petras erzählen wolle, was ihm wichtig sei am Buch, werde nicht ersichtlich. Dass die Inszenierung "nicht von der Steilküste abrutscht", liege an Hauptdarstellerin Anja Schneider, die aus der insgesamt guten Ensembleleistung heraussteche.

Thilo Körting vom Deutschlandradio (3.10.2016) findet, Kruso sei keine Wendegeschichte, sondern die Idee eines faszinierenden Möglichkeitsraums und dessen Verfall. Diesen erzähle Petras sehr konventionell aber mit starken Bildern. Anja Schneider schaffe es wirklich zum Kruso zu werden, ihn in kleinen Gesten zu verkörpern und damit den Text lebendig zu machen.

Julien Reimer von Mephisto 97.6 (3.10.2016) findet, Petras und Choreograf Denis Kuhnert würden immer wieder stimmige Bilder finden. "Leider verliert die Inszenierung nach der Pause die erzählerische Geradlinigkeit des ersten Teils." Die Besonderheit der Insel als eingeschworene Gemeinschaft erkläre sich mit Programmheft und Romankenntnis, "wird auf der Bühne aber nicht in seiner Existenzialität spürbar".

"Was hier zu sehen ist, ist ein sehr derber Zugriff auf einen eher feinnervigen Text", schreibt Helmut Schödel von der SZ (5.10.2016). Er sah "die vegane Version eines Schauspiels, mehr als nur vegetarisch und natürlich ohne Illusion". Dass Kruso mit einer Frau besetzt sei, müsse einen nicht wundern. Solche Volten seien "immer noch modern und verhindern die Einfühlung". Immerhin: "Während der Aufführung herrschte im ausverkauften Schauspielhaus absolute Konzentration." Der Abend habe die Zuschauer "offenbar bewegt".

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