Aus dem Alltag einer Theaterabgrenzungsbeauftragten

von Esther Slevogt

5. Oktober 2016. Ja, früher war auch das Kritikerleben noch über- und vor allem durchschaubar. Beziehungsweise das Kritikerinnenleben. Denn da waren zumindest die Grundlagen klar. Zum Beispiel, dass der Typ da auf der Bühne mit dem Totenschädel in der Hand nicht wirklich ein verwirrter dänischer Prinz, sondern Schauspieler XY war. Dass ich aber für die nächsten zwei, drei oder wie viele Stunden auch immer einfach einen dänischen Prinzen in ihm sehen würde. Und auch glauben würde, dass es sich bei dem Schädel in seiner Hand nicht um ein Plastikteil aus der Requisite, sondern um den sterblichen Überrest eines früheren Hofnarren handelt, der von zwei Totengräbern, die sich gerade ebenfalls auf der Bühne befanden, soeben beim Ausheben eines neuen Grabes wieder zu Tage befördert wurde.

Wenn er zum Applaus an die Rampe trat, war der dänische Prinz wieder zum Schauspieler XY geworden. Danach setzte sich die Kritikerin hin und schrieb auf, was war. Unter anderem mit dem Auftrag, nachfolgenden Zuschauer*innen kostbare Lebenszeit (oder Geld) zu ersparen, wenn der Abend nicht lohnte. Aber auch um Weltbilder und ästhetische Konzepte zu dechiffrieren. In gewisser Weise war der Kritiker ja auch mal eine Art Agent.

Die neuen Aufgaben der ehemaligen Kritikerin

kolumne 2p slevogtInzwischen ist das anders. Da ist die Kritikeraufgabe stark in die Nähe der Finanzbuchhalter und Steuerberater gerückt. So zumindest kommt sich die Kolumnistin mitunter bei der Kritikerinnen-Arbeit vor. Denn so, wie sich die Buchhaltung bei verschiedenen Geschäftsvorfällen um Rechnungsabgrenzung bemühen muss, um den tatsächlichen Erfolg eines Unternehmens beurteilbar zu machen, hat es der Kritiker zunächst einmal mit Theaterabgrenzung zu tun: Ist das, was da gerade passiert, eigentlich Theater? Wenn ja, was für ein Format? Sind das echte oder falsche Laien? Wie gescriptet sind die Geschichten, die hier als authentisch behauptet werden? Ist das Gescriptete Teil des Konzepts (jedes Drama ist schließlich gescriptet)? Ist es gut oder schlecht ausgedacht?

Ist das überhaupt noch Theater oder doch schon Aktivismus? Diese Frage warfen in den letzten Jahren (als prominentestes Beispiel) die Arbeiten des Zentrums für politische Schönheit auf. Und wenn das Theater noch Theater ist, warum findet es dann nicht mehr zwingend in für solche Veranstaltungen vorgesehenen Gebäuden statt? Sondern im öffentlichen oder gar medialen Raum, von dem ja behauptet wird, dass es sich ebenfalls um eine Form der Öffentlichkeit handelt. Dabei befindet sich dieser mediale Raum mit beängstigender Ausschließlichkeit im Besitz großer Privatkonzerne und funktioniert nach ihren Regeln. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Überall Theater

Nach erfolgter Theaterabgrenzung (die von der sich stets neu aufdrängenden Frage jeweils verkompliziert wird, ob eine solche Abgrenzung überhaupt sinnvoll ist) steht dann bei der Bilanzierung von Vorgängen, die für sich in Anspruch nehmen, Theater oder Kunst zu sein, die Beantwortung der Frage an, was das gewählte Format eigentlich für Konsequenzen hat. Für mich. Für die Gesellschaft. Für das Theater.

Denn wir leben ja in Zeiten, wo eine Theaterabgrenzung auch jenseits eines behaupteten Kunstraums mehr als angebracht wäre. Wo geschlossene Narrative in der Politik in der Regel das Werk von Spindoktoren und Kampagnendesignern sind und man nicht einmal mehr sicher sein kann, dass scheinbar spontane Interventionen bei Talkshows nicht in Wirklichkeit von versierten Medienstrategen ausgeklügelt worden sind. Zeiten, in denen kaum noch ein*e Politiker*in wagt, ohne gescripteten Text öffentlich das Wort zu ergreifen. Und tut er es, oder sie, zum Beispiel Angela Merkel mit so einem Satz wie "Wir schaffen das!", dann im- bzw. explodiert das System. So es sich nicht ebenfalls um einen vorgefertigten Spindoktorinnensatz handelt. Denn wer könnte das noch mit letzter Sicherheit sagen.

Authentizität, begehrte Mangelware

Unter unseren designten medialen Oberflächen gärt es längst populistisch, und die Gase, die sich hier bilden, bedrohen und verpesten das gesellschaftliche Klima in immer verheerenderem Umfang. Phänomene wie Donald Trump können gerade deshalb punkten, weil sie scheinbar so ungescriptet daher kommen, so authentisch, echt und unverfälscht. Und das bei der Frisur!

Was aber heißt das für das Theater, das immer noch als Theater gilt, auch wenn es selbst mit dieser Abgrenzung längst hadert? Was bedeutet es im Kontext einer angesichts wachsender privatwirtschaftlicher Macht zunehmend in die Defensive geratenen staatlichen Judikative (zum Beispiel im Fall von Facebook, man kann aber auch die keiner staatlichen Gerichtbarkeit mehr zuordenbaren Schiedsgerichte nennen, die als Konfliktschlichter im Kontext des TTIP geplant sind), wenn sich ein Künstler als Privatmann in einem Akt theatraler Selbstjustiz zum Tribunalveranstalter ermächtigt wie etwa Milo Rau mit seinem "Kongo Tribunal"? Wie fügt sich Ferdinand von Schirachs Selbstjustizdrama Terror, das am Ende die Zuschauer zu Richtern macht, in dieses Szenario?

Symptom statt Reflektion?

In den letzten Jahren gibt es in zunehmendem Maße Künstler*innen und Gruppen, die keine klassischen Theateraufführungen mehr produzieren, sondern nach anderen Formen und Formaten suchen, politisch wirksam zu werden. Die nach effektiven Möglichkeiten suchen, gesellschaftliche und mediale Oberflächen zu unterwandern oder zu dekonstruieren. Um Gegenerzählungen zu öffentlichen Diskursen und Konstruktionen zu schaffen und sich dabei auch selbst im Spiel (oder besser im Kampf?) um Deutungshoheiten und politische Narrative als Akteure zu etablieren.

Eine Frage, die sich mir als Theater- und Rechnungsabgrenzungsbeauftragter dabei aber immer dringlicher stellt: Werden die Künstler im Prozess der gegenwärtigen Erosion und Atomisierung von demokratischer Gesellschaft und Öffentlichkeit so nicht selbst zu Symptomen dieses Prozesses, statt ihn zu reflektieren? Beteiligen sich Künstler, die so konsequent die Theaterabgrenzung aufheben, nicht an der Schaffung neuer Entfremdungszusammenhänge, statt auf diese Entfremdungszusammenhänge zu verweisen. Müsste in Zeiten wie diesen das Theater nicht erst recht auf klar erkennbare Abgrenzung der Sphären und Begriffe pochen, statt sich selbst an der Verwischung ihrer Grenzen zu beteiligen und dabei die so bewusst verwischten Grenzen auch noch als Schnittstellen zu behaupten? Die sie gar nicht mehr sind. Und an dieser Stelle übergibt die Theaterabgrenzungsbeauftragte nun an ihre Leser*innen.

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schrieb Esther Slevogt in ihrer Kolumne über britische Toaster und das Repräsentationssystem.

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Kommentare  
Slevogt-Kolumne Scripted Reality: gnadenlos dran am Kern
Welch eine hervorragende Kolumne! Es ist nur noch das falsche Format (So sehr ich es nk.de und dem Theaterbetrieb gönne!)- Das gehört in die Kategorie geschriebener Philosophie. Und die Frage ist: Warum weiß das kein Verlag??? Matthes & Seitz beispielsweise? Warum kann der nicht ein so eloquentes Denken und ebenso schnörkelloses wie menschenfreundlich dezent spöttelndes Schreiben begleiten in eine "Kurze Philosohie unserer Zeit"?? Warum so unendlich viel Blablablabla in Fachbereich, wenn es offensichtlich kürzer, prägnanter, schmerzhafter an die Quellen der gesellschaftlichen Problematik geht? Und das heißt: verständlicher, allgemein verständlicher, als diese ganzen aufgeblasenen Postdramatiktralalala-Produkte, die im Grunde nur um sich selbst statt um das brennende Thema kreisen, das den Gellschaften ein friedliches Miteinander erheblich erschwert?
Es gibt, will ich sagen, eine VERANTWORTUNG der Öffentlichmacher, der Medien, Inhalte und Formen zu wichten. Und deshalb ist das NICHT "schon wieder eine andere Geschichte", sondern genau die Geschichte, um die es geht. Auch für das Theater.
Slevogt ist am Kern gnadenlos dran, wenn Sie schreibt, dass es für kritische Theaterbeurteilung WESENTLICH ist, den RAUM zu definieren, in dem es spielt und sich behauptet. Und vielleicht könnte man daraus als wichtigstes Kriterium der Abgrenzung ableiten: Theater ist, was seinen Wirkungsraum selbst definiert und diese Definition NICHT dem Zuschauer überlässt.
Wenn es den Raum nicht selbst definiert, ist es kein Theater.
Beispiel: Das Zentrum für Politische Schönheit verwischt bei seinen Aktionen Räume. Deshalb ist es Aktionskunst. Kein Theater.
Und Milo Rau ist durchaus kein Privatmann, der das Kongo-Tribunal initiiert, weil er Gelder dafür zusammenträgt, indem er diese Kunst-Aktion konzeptionell als Theater-Theater darstellt.
Nur ist die geschrieben Konzeption keine Dramatik.
Das ist Konzeptionskunst. Und Milo Rau ist m. E. am ehesten ein Konzeptionskünstler.
Nicht zuvorderst Autor und auch nicht zuvorderst Regisseur.
Alle seine gern als Essays veröffenlichten Texte z.B. weisen aus literarischer Sicht zum Teil größere Schwächen auf, die dem Genre gar nicht entsprechen...
Theater grenzt sich m.E. von allen anderen Kunstformen, die mit theatralen Mitteln arbeiten, dadurch ab, dass es mit Dramatik arbeitet.
Und es wird nicht gehen, dass Theaterkritiker*Innen aus ihren Unbehagen an immer neu aufgemachten "Entfremdungszusammenhängen" finden, ohne dass auch eine erneute Abgrenzungs-Bewegung in der Literaturwissenschaft stattfindet:
WAS ist genau Literatur? Was gneau Poesie? WELCHE Literatur ist welchem Genre zuzuordnen? Was genau ist literarische Veröffentlichung? -
Und auch die Literaturwissenschaft stößt hier auf diese von Slevogt klugerweise für ihren Text vorerst ausgesparte,"schon wieder andere Geschichte".
An die Geschichte, dass Verlage Kapital-Unternehmen sind, die sich hinter den vermeintlich zuverlässigen Verbrauchernachfragen des Buchhandels verstecken, um ihre Verantwortung für die Kunst in der Literatur nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Um für literaturwissenschaftliche Arbeit in Lektoraten keine Ressourcen mehr bereitstellen müssen und keine nachwachsenden Kompetenzen dafür sichern müssen. Das wäre auch schwer, denn sie müssten dann die etablierte universitäre Literaturwissenschaft erneuern wollen.
Slevogt-Kolumne Scripted Reality: gnadenlos dran am Kern II
Sie müssten sich dafür auseinandersetzen mit staatlicher Bildungspolitik insbesondere im Hinblick auf die Geisteswissenschaften, mit der etablierten Literaturwissenschaft und mit Studierenden.
Slevogt-Kolumne Scripted Reality: 2 Gegenargumente
Es fallen mir spontan dazu zwei Gegenargumente ein:

Ein Macher (Regisseur, Schauspieler, Schreiber, Komponist, Künstler) kann nur schlecht gleichzeitig Theoretiker sein. Im Idealfall ist das eigene Interessenfeld früh umrissen, man zieht die eine oder andere Referenz oder Inspiration aus dem Werk/der Theorie anderer. Trotzdem spricht aus der Arbeit immer die eigene innere Stimme. Vielleicht ist man sich seinem Platz im theoretischen Ganzen erst spät im Leben bewusst, oder weiss womöglich nie genau was man da eigentlich macht, schaut voller Verwunderung auf das was vor einem entsteht.
Der distanzierte Ansatz "Ich werde jetzt Stil XY adaptieren um über das und das eine Aussage zu treffen" ist zwar möglich, aber selten der Beginn guter Arbeit.

Der zweite Punkt ist die Ausnutzung aller medialen Möglichkeiten. Es gibt sie, die überzeugten Internet-Aktivisten, die Ihre Arbeit ausschliesslich online zur Verfügung stellen. Man kann ja aber nicht umhin, auf der Suche nach Publikum und Aufmerksamkeit (auch eine Definition von Raum), den eigenen Preis zu drücken. Stichwort Strassentheater. Früher gab es "Lehrjahre", heute irgendwie nur noch den statischen Niedriglohnsektor. Das trägt natürlich zum Werteverfall insgesamt bei- was wäre die Alternative? Arbeitsverweigerung?

Beide o.g. Argumente schützen nicht vor der Verantwortung/ dem Anspruch relevante Arbeit leisten zu wollen. Hier kommt dann der Kritiker ins Spiel. Die Schnittstelle Kunst - Theater besteht ja schon und wird sich noch mehr ausbreiten. Sowie es der bildenden Kunst gut täte sich in punkto Theatergeschichte zu informieren, kann das umgekehrt genauso erfolgen. Ist es wirklich wichtig an den Spartenunterschieden festzuhalten? In meinen Augen kommen vielleicht neue Formen dazu, ohne dass die alten an ihrer Schönheit oder Relevanz verlieren.

A Propos Politik: hier kann ich nur bedingt folgen. Als Thema in Kunst/Theater kann es sich per Definition nur um eine Bewusstwerdung handeln. Politik misst sich an der tatsächlichen Umsetzung. Dass Menschen nicht mehr zwischen Fakten und Gefühl unterscheiden können ist ja erstmal nicht schuld der Fiktion (das erinnert mich im übertragenen Sinne an die Videospieldebatte).
Slevogt-Kolumne Scripted reality: Antworten auf Gegenargumente
Antwort auf mindestens 2 Gegenargumente, wegen Überlänge in 3 Teilen:
A
uch wenn nicht ersichtlich ist, g e g e n welche konkreten Argumente in den vorangegangenen Beiträgen die Ihnen spontan eingefallenen eigenen Argumente gerichtet sind:

Natürlich, das sehe ich auch so, dass ein Macher nur schlecht auch Theoretiker sein kann. Trotzdem gibt es das. Ich würde sagen, um das Phänomen im einen wie im anderen Fall deutlicher machen zu können: IMMER wird im Moment des Machens, des Malens, Schreibens, Komponierens, Probens, Schau-Spielens der Agierende KEIN Theoretiker sein, ja zur Reflektion des eigenen Machens gar nicht gleichzeitig in der Lage sein, weil seine Sinne bei diesem Machen vollkommen beansprucht sind. Aus diesem Wissen ist ja z.B. das Epische Theater mit seinen Verfremdungs-Effekten entstanden, oder etwa die (Arbeits)tagebuch-Kultur bei Schriftstellern, der Beruf des Dramaturgen ist daraus entstanden, der des Theaterfotografen, die Regiebücher sind daraus entstanden und die Literaturarchive der Kunstakademien, die diversen Schnittfassungen ein und desselben Films. Sie sind entstanden, damit die Lücke zwischen dem Künstler als Macher und dem Künstler als Theoretiker des Machens sichtbar wird. Für die Gesellschaft UND für ihn selbst. Und diese Lücke ist in ihrer Sichtbarkeit Gegenstand der Kunst- und Kulturwissenschaften zum einen. Und in ihrer Sichtbarmachung die Theorie des Künstlers. Das heißt: Die Theorie der Kunst unterscheidet sich durchaus von der Kunst-Wissenschaft!
Das bedeutete, dass die innere, eigene Stimme des (männlichen wie weiblichen) Künstlers in seinem Machen ebenso vorhanden ist wie in seiner Theorie! Mehr noch, dass beide einander fortwährend befruchten. Dass es einen dialektischen Zusammenhang zwischen beidem gibt.
Deshalb ist die Kunst-Theorie nicht Wissenschaft. Aber unbedingt ist auch Kunst-Wissenschaft keine Kunst! – Das ist etwas, was heute in der ästhetischen Diskussion m.E. gar nicht mehr hinreichend auseinander gehalten wird.
Das fällt mir zu Ihrem ersten spontanen Gegenargument ein.

Ich würde gern Ihren Satz „Der distanzierte Ansatz „Ich werde jetzt Stil XY adaptieren um über das und das eine Aussage zu treffen“ ist zwar möglich, aber selten der Beginn guter Arbeit.“ von diesem ersten Argument trennen, weil er bereits etwas anderes beschreibt, das eher die künstlerische Originalität als die Theorien eines Künstlers betrifft. ich möchte ihn deshalb gern als Ihr zweites spontanes Gegenargument bezeichnen, wenn Sie einverstanden wären.
Was künstlerische Originalität anlangt gebe ich Ihnen vollkommen recht, dass das selten, möglicherweise – den Verdacht habe ich wirklich – nie, der Beginn guter Arbeit sei. Aus folgendem Grund: Gelingt die stilistische Adaption eines Originals, wird es große Einbußen geben bei den Inhalten. Gelingt die stilistische Adaption nicht, ist sie als eigenständige Kunst gar nicht wahrnehmbar. Das Ergebnis wird einem BetrachterZuschauerZuhörer also entweder trotz den erkannt adaptierten Stils ethisch oberflächlicher vorkommen oder sofort als Modeerscheinung eingestuft. Wenn die Wissenschaft solchen Phänomenen gegenübersteht nennt sie das vereinfachend Popkultur oder Postdramatik. Wenn sie dreißig Jahre daran gewöhnt ist, nennt sie alles zeitgenössisch Entstehende nur noch so und bemüht sich nicht mehr, deren Mängel konkret zu beschreiben, weil sie denkt, das muss eben so sein und wegen der Digitalen Revolution mit ihren multimedialen Möglichkeiten kann es anderes als Pop- und Post-Kunst nicht mehr geben. Dann haben wir eine einer Kunstkrise folgende Krise der Kunstwissenschaft. Ich persönlich würde behaupten, wir haben sie.
Slevogt-Kolumne Scripted reality: Antworten Teil 2
II:
Ich würde für mich sagen, dass ich noch nie den Ehrgeiz hatte, den Stil XY adaptieren zu wollen, WEIL ich, seit ich begonnen habe, Literatur zu machen, ich würde sagen: offenbar machen zu müssen, diese Theorie wie vor beschrieben, hatte. Und dass ich Einbußen inhaltlicher Art, also an individueller ethischer Haltung zu zeitgenössischen Phänomenen, bei meinen Arbeiten keinesfalls hingenommen hätte. Das hätte einfach nicht zu mir und meinen Leben bis zu dem Moment, wo ich anfing, ernsthaft zu schreiben, gepasst. Es hätte mich auch unendlich gelangweilt!! Wenn ich bemerkt hatte, dass sich eventuell formell unbemerkt ein Stil mitgeschrieben hatte, der mich auch über meine Wahrnehmung von Literatur und Kunst unbewusst geprägt hatte, habe ich mich meist ungeheuer geschämt und sofort mit einer anderen Arbeit dagegen Position, also auch gegen mich selbst, bezogen. Und ich kann deshalb nicht sagen, ob man überhaupt mit diesem Ansatz Stil adaptieren zu wollen KUNST machen kann. Kunsthandwerk ja. Kunst, denke ich, nicht.

Ihr nächstes Argument besteht eigentlich auch aus zwei Argumenten, wenn ich es recht betrachte:
Stichwort für mich: Die Ausnutzung aller medialen Möglichkeiten. Wofür konkret meinen Sie? Ich würde unterscheiden wollen in die medialen Möglichkeiten der Kunstproduktion und die medialen Möglichkeiten der Veröffentlichung von Kunst. Und dabei sind die medialen Möglichkeiten der Veröffentlichung von Kunst wesentlich größer als die medialen Möglichkeiten des Machens von Kunst! Ich gebe aber zu, dass es hier zu den größten Irrtümern darüber kommen kann, was Kunst unter Ausnutzung aller medialen Möglichkeiten ist und was eigentlich nur Veröffentlichung von Kunst.
Beispiel:
Man kann heute auf dem Theater computergesampelte Texte undoder Musiken gleichzeitig vertanzend und sprechend darstellen, sowie gleichzeitig diese Vorgänge in Echtzeit zu einem Film verarbeiten und gleichzeitig organisieren, dass die dafür generierten Zuschauer sich über soziale Netzwerke, Livestreams sowohl mit dem Original-Vorstellungsabend als auch mit seinen originalen Wiederholungsabenden ebenso wie mit seinen ins Netz gestellten archvierten Streams, interagieren. Dann hat man mit einem übergroßen Aufwand im Grunde nichts, absolut nichts weiter, als mit Tanz verknüpftes Sprechtheater unter breitestmöglicher Ausnutzung der heute gegebenen medialen Möglichkeiten veröffentlicht. Und das ist dann viel Veröffentlichung von im Vergleich dazu wenig Kunst.
Weiteres Beispiel:
Man kann einen australischen, einen belgischen, einen japanischen Autor über das Netz einen Stücktext erarbeiten lassen, für den man ein Sujet und ein Thema oder Personen oder eine Zeit oder auch alles zusammen vorgegeben hat. Und man hat dann am Ende einen global erstellt anmutenden Text, der ohne die heutigen medialen Möglichkeiten nicht hätte erstellt werden können und dann kann man den überall inszenieren, möglicherweise sogar nach der Methode wie vor beschrieben, wo das als Sensation zieht. Dann hat man einen interessanten Stilmix und trotzdem eher keine Kunst. Weil die einzige Originalität der Autoren darin bestand, davon getrieben zu sein, etwas, das wie multimediale Kunst aussieht, zusammen mit anderen am anderen Ende der Welt herzustellen. Diese Originalität teilt aber mit diesen Autoren so ungefähr jeder 14jährige Mensch auf dieser Welt, der schon einmal mit den Möglichkeiten der Digitalen Phonie bekannt gemacht wurde…
Slevogt-Kolumne Scripted reality: Antworten Teil 3
III

Zu Ihrem nächsten Argument: Das rede ich schon lange und deshalb können wir uns da nur irgendwie auf diesem Wege die Hand schütteln: Die Bildende Kunst täte gut daran, sich in puncto Theatergeschichte zu informieren. Und die Theaterkunst gut daran, es weiter und vor allem aktueller in puncto Bildender Kunst.

Worin ich Ihnen nicht zustimme: Nein, ich denke nicht, dass in den Sparten neue Formen hinzukommen. Ich denke, dass es wichtig ist, neue Formen besser ästhetisch abgrenzend in die bestehenden Sparten einzuordnen und exakter von eben Aktionskunst wie Konzeptkunst abzugrenzen.
Besonders für die Konzeptkunst ist das schwer. Weil sie sowohl Theaterräume als auch Galerien und Ausstellungräume nutzen kann. Und, wenn sie öffentliche Räume nutzt, sich verhält wie Aktionskunst.
Die Aktionskunst wird m.E. in absehbarer Zeit sich aufspalten in entweder Konzeptkunst oder Tanz-/Pantomnime-/Marionetten-Theater, sie ist eigenständig nicht überlebensfähig.
Sie wird weder als eigenständige, „neue“ Theatersparte noch als sich in Konzept auflösende eigenständige Bildende Kunst existieren können, weil ihr bei dem einen die Form und bei dem anderen der Inhalt verloren geht.

Zuletzt: Ich denke nicht, dass „Menschen nicht mehr zwischen Fakten und Gefühl unterscheiden können“. Zum einen, weil, wenn wir vom Menschen reden, die Existenz von Gefühlen ein Fakt ist. Und weil, was auch ein wissenschaftlich belegbarer Fakt ist, der Mensch das in seinem Selbstwerdungsprozess lernt zu wissen.
Zum anderen, weil der Mensch sich an den durch die Digitale Revolution entstandenen kommunikativen Zustand zunehmend gewöhnt und seine zeitweilig eingebüßte Souveränität über seine Wahrnehmung einschließlich seiner Selbst-Wahrnehmung wiedererlangen wird. Die Hochzeit zwischen Mensch und Maschine findet nicht statt. Das genau ist das Drama das eben nicht stattfindet. Wenn einem Menschen z.B. ein Ship ins Hirn eingesetzt wird, der seine Wahrnehmung und sein Denken verändert, selbst mit seinem Einverständnis, ist das keine Hochzeit.

Ihre Einwände - gegen welche konkreten Argumente immer, waren sehr interessant und haben mir geholfen, mir selbst Sachen zu verdeutlichen, die ich bisher so noch nicht so klar theoretisch für mich fassen konnte. Danke.
Slevogt-Kolumne Scripted reality: Nachfragen
@ undsoweiter: Ich verstehe nicht, was Sie mit "Unterscheidung von Fakten und Gefühl" meinen. Auch Frau Slevogt verstehe ich da nicht ganz. Denn wir wissen doch im Grunde alle, dass Politik immer schon inszeniert bzw. ästhetisiert ist. Da geht es nicht um die Frage "Fakten oder Fiktion" bzw. "Fakten oder Gefühl", sondern um die simple Frage, cui bono. Na, dem Raubtierkapitalismus, vielleicht? Und den Menschen, die davon profitieren? Hier ist für mich nun aber auch wieder die Frage: Woran will "mensch" festmachen, wer (noch) davon profitiert und wer nicht (mehr)? Politik ist in diesem Sinne nicht allein Repräsentation, sondern immer AUCH zwischenmenschlich gemacht. Soll heissen: Wer Grenzen zwischen Menschen setzt, anstatt diese aufzulösen, will selbst auch nur Macht. Und das ist nicht schön.

Es ging hier aber um das Thema "scripted reality". Tja, wer schreibt hier denn nun eigentlich "die Realität"? Gibt's da einen einzigen, letzten und vereindeutigen Sinnstifter? Nein, es sei denn, "man/frau" glaubt an sowas wie Gott, den einen Gott, der alles erschuf. Mhmh, na ja, gut, wer's glaubt. Bloß, erschuf dieser geglaubte Gott nicht auch den Menschen, eben damit dieser sich aus sich selbst heraus erschaffe? Über Bildung/Wissen UND vor allem im Zusammenspiel mit seinen Mitmenschen? Und beginnt nicht bereits da das Theater der Wirklichkeit? Was für ein Theater!
Slevogt-Kolumne scripted reality: zu "scripted reality"
Ich habe vielleicht mit der Begriffswahl "Gegenargument" irritiert. Ich bin nicht dagegen was Frau Slevogt schreibt, und es freut mich dass die Kolumne eine offene und fragende Haltung einnimmt, zu der man sich dann eingeladen fühlt "Einwände" zu formulieren, denen gerne widersprochen werden kann.

@4,5,6: Vielen Dank für Ihre interessante Ausarbeitung.
Ich stimme voll zu, dass Kunsttheorie oder ihre Wissenschaft keine Kunst an sich sind, und das dies aktuell ein Problem darstellt. Die Form die es z.B in der bildenden Kunst annimmt ist die Überschwemmung mit einer bestimmten kuratorischen Praxis. Künstler werden zunehmend als namenlose Rohmasse genutzt um die vermeintlich eigene theoretische Leistung eines Kurators zu illustrieren. (Der Vergleich mit einem DJ wurde bereits mehrfach in der Vergangenheit gezogen.)

Will der Kurator nun eigentlich Regisseur sein, allerdings mit der Motivation sich aus der Masse hervorzuheben? Suchen Kreative das Narrative als Eskapismus, um einer vermeintlichen Fremdbestimmung zu entgehen? Noch so eine Schnittstelle.

Zu Scripted Reality:

Die Verbreitung von Scripted Reality begann ja meines Wissens mit einer Art Unterhaltungsfernsehen (Ansätze gab es schon vorher*). Den Zuschauern und Teilnehmern wurde in den ersten Jahren wie bei einem soziologischen Experiment verheimlicht, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Dabei war es nicht der Ausgang des Spiels, der zu vielen Variablen unterlag, sondern die Präsentation der Teilnehmer. „Der Aussenseiter“, „die Schöne“ etc, ein bisschen Breakfast Club oder flache antike Archetypen eben; Storylines wurden im Vorfeld bedacht und nicht vorhandenes Drama durch Schnitt und Montage zurechtgebogen. Die Produzenten und Regisseure waren die allmächtigen Welterschaffer.

Der Bruch erfolgte, als sich die Teilnehmer und Zuschauer dessen bewusst wurden. Nach mässigem Protest folgte daraufhin interessanterweise nicht die Abschaffung der Formate. Die Feier der Stereotypen wurde weiter ausgebaut und in die Realität übernommen, vielleicht zuerst als Parodie, dann als Referenz, bis es schliesslich eine vertraute Umgebung wurde.

Es ist wichtig anzumerken, dass Scripted Reality etwas anderes ist als gesellschaftliche Konvention, auch wenn die beiden auf den ersten Blick viel gemein haben. Genau hier setzt in meinen Augen das Problem an, welches Authentizität in diesem Zusammenhang hat: Konvention kann durchbrochen werden, wenn
man sich inhaltlich, meinetwegen auch optisch, abgrenzt. Dennoch spricht man vom Gleichen, wenn man „Gesellschaft“, „Kultur“ oder „Politik“ meint.
Scripted Reality fördert eine allumfassende Paranoia, dass jeder Gegenüber, jeder Sachverhalt, Teil einer Inszenierung ist deren Regeln man (noch) nicht kennt. Sie kann also scheinbar nur durchbrochen werden, wenn man „off script“ spricht und handelt- je irrationaler, desto besser.

„Scripted“ ist mittlerweile vertraut, messbar, kann zugeordnet und gemanagt werden. Die alte Authentizität war ungewohnt und eher an der Seitenlinie der Konvention zu finden. Sie hat dennoch kluge Köpfe, wichtige Denker und Künstler hervorgebracht, die ihr Siegel mit Stolz trugen und bisweilen gesellschaftlichen Fortschritt initiiert/ verschnellt haben. Die Reinkarnation des Begriffs Authentizität ist mittlerweile dabei ein intellektuelles Schimpfwort zu werden.

Wenn Authentizität nun verpönt wird und mit Worten wie „völkisch“, „rückständig“ und „irrational“ assoziiert wird- was sagt dies über die Konsequenzen für die künstlerische Originalität und ihrer Bewertung aus? Wenn die demokratische Kultur an sich bedroht wird, muss der Status Quo gestärkt werden, um die Kultur selbst nicht durch Gegenkultur noch weiter in die Defensive zu bringen. Das wirklich Bedauerliche ist, dass durch diese Entwicklung der Status Quo vorerst zementiert wird, obwohl er -wie immer- Arbeit an sich selbst hätte.
Slevogt-Kolumne scripted reality: Politik, Originalität, Sparten
*@Inga: Es ist rückwirkend zu erkennen, dass Politik sich schon immer inszeniert hat. Das Bewusstsein darüber und die breite Akzeptanz dieser Sichtweise ist meines Wissens aber ein Phänomen der Neuzeit. Früher haben z.B. Skandale die Glaubwürdigkeit der Politiker erschüttert. Gerne lasse ich mir auch in diesem Punkt widersprechen, die These stelle ich jetzt so erstmal in den Raum.
Ich denke schon, dass viele Menschen nicht mehr zwischen Fakt und Fiktion unterschieden können. Damit meine ich mitnichten, dass Gefühle nicht Teil des Menschen sein sollen. Es bezog sich auf das aktuelle Klima und den Erfolg von politischen Hetzern, im Netz oder auf der Strasse.

Zu künstlerischer Originalität:

Ich denke man kann nicht umhin, sicherlich in den Anfängen eigenen Schaffens, zu kopieren. Nichts entsteht aus der vollständigen Isolation. Ob es sich nun um einen inhaltlichen Ansatz handelt, oder einen stilistischen. Man kann sich dessen auch unbewusst sein und erst später voll Staunen einen Zwilling entdecken. Der Unterschied ist, dass man selber den Anspruch haben sollte, relevante Arbeit zu machen- und wie Sie D.Rust ebenfalls feststellen, eine direkte Kopie dies per Definition nicht leisten kann. Wenn man sich aber zu sehr in den eigenen Ansprüchen des Neuen verstrickt, lähmt es die Aktivität und die Freude.

Es gibt eine wachsende Fraktion die behauptet es gibt nichts Neues unter der Sonne, und die wichtigste Ressource ist Aggressivität der Konkurrenz gegenüber. Die allseits geliebten Brüder Samwer verleiben sich Geschäftsmodelle ein, und berufen sich tatsächlich auf die Kunstwelt als Inspirationsquelle. In der geht der Ideenklau bereits heftig um, und wir sprechen nicht von o.g. Seelen auf der Suche nach ihrer Stimme in der Welt, sondern erwachsenen Menschen die nach sich die Hütte abfackeln und damit so gar kein Problem haben. Da ist sie wieder, die Paranoia.

Ist Inszenierung die Lösung? Von sich selbst, um Distanz zu schaffen, der Arbeit, um diese vertrauter zu machen, freundlicher, gefügiger? Will z.B manche zeitgenössische Performance eine Aussage treffen, oder einfach nur Teil der Gesellschaft sein, mit einem gemeinschaftlichen Erlebnis, das einem niemand wegnehmen kann; repräsentiert das Bild des (digitalen) Theaters eine Solidarität*, ein geschriebener Text eine Einzigartigkeit die das arme Individuum wieder glücklich machen kann…
*Hier sehe ich einen Zusammenhang (gemeinschaftliches Erlebnis als Selbstzweck) mit der von Ihnen D.Rust erarbeiteten Differenz zwischen Arbeit und (globaler) Veröffentlichung, für die ich Ihnen danke.

Zu Sparten:

Trotz alldem bin ich kein Zyniker. Und ich glaube daran, dass neue Formen entstehen werden. Welche es sind wissen wir aber noch nicht. Ihre Beispiele D.Rust waren sehr gut und ich gebe Ihnen Recht, es handelt sich nicht um neue Formate. Es ist oft, aber nicht nur, technischer Fortschritt (Kamera, Schnitt, etc), der mit der Zeit Ausdrucksformen entstehen lässt. Aktuell wird das Narrative um Games und AR erweitert, und selbst das steckt noch in den Kinderschuhen.

Das Bewusstsein um Sparten ist extrem wichtig. Manche „Videokunst“ z.B. ist rein formal gesehen Theater mit einer Kamera davor, andere dahingegen Spielfilm, trotzdem gibt es Arbeiten die sich weder hier noch dort einordnen lassen und etwas ganz anderes sind.

Exzellente Werke, die selten sind, zeichnen sich in meinen Augen just oft dadurch aus, dass sie Sparten überspringen und dadurch Definitionen erweitern. Das muss sich nicht auf Stilistik beschränken. Dahinter steckt aber Arbeit, Bewusstsein, und endlose Versuche wo das in die Hose geht. In diesem Sinne, an die Arbeit!

CM
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