Weisheit eines gelungenen Lebens

von Nikolaus Merck

11. Oktober 2016. Als die Schauspielerin Sabine Wackernagel in ihrem 59. Jahr von Kassel kommend in Ingolstadt eintrifft, ist ihr zum Heulen zumute. 40 Jahre. Ein Schauspielerinnenleben zwischen Memmingen, Tübingen, Freiburg, Kassel und nun .. morgen in Ingolstadt? Schon wieder? Wie 1969, als sie geflohen war mit ihrem Liebsten im VW-Bus nach Kathmandu, zum Ganges und nach Nowgorod? Wäre es wenigstens Tübingen, mein Gott, da kam 1971 sogar der berühmte Philosoph Ernst Bloch ins Theater, zu Yaak Karsunkes "Bauernoper".

Nun. Es wird sich herausstellen im Verlauf von Sabine Wackernagels Lebensbericht "Links am Paradies vorbei – Mein Leben als Schauspielerin in der Provinz", dass das linke Tübinger Ensemble, das sich unter und gegen den Intendanten Manfred Beilharz um Mitbestimmung müht, die linke "Bauernoper" gar nicht schätzte, zu seicht und gefällig der Text, die Musik mehr Kirchenlied als Eisler, kurz: "Wir schimpften Tag und Nacht – und dann war es der Hit für mehrere Spielzeiten". Und Ingolstadt? Ingolstadt bringt immerhin die Begegnung mit dem 30 Jahre jüngeren Maik Priebe, als "rundum schön" preist Wackernagel die Zusammenarbeit mit dem Regisseur bei Unschuld von Dea Loher.

Cover Links amParadiesEs sind diese Widersprüche – " Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht! / Und mach dann noch'nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht" – die Wackernagels Lebensbericht prägen. Das ist schnurrig. Im Nachhinein. Eingeklemmt im Widerspruch tut das Nicht-zu-erreichende oft weh. Man liest es im Buch: die linken Schauspieler in Tübingen und Freiburg in den siebziger Jahren wollen die Gesellschaft verändern, solidarisch miteinander arbeiten, Hauptrollen sollen reihum alle spielen, aber gallegelb lodert der Neid, wenn die beste Freundin im Ensemble die größere Rolle bekommt. Der Regisseur gilt als "Leiter" im mitbestimmenden Ensemble per se als "Arschloch", schwierig nur, dass sich die Schauspielerin Wackernagel ausgerechnet in den Regisseur Valentin Jeker verliebt und mit ihm ein Kind bekommt: Katharina, auch sie wird Schauspielerin. Besonders gut spielen will sie in seinen Produktionen, aber die Kritiker sehen sie gerade da besonders schlecht. Den eigenen Kindern eine bessere Mutter zu sein, als ihre schwierige Schauspielermutter es ihr war, hat sich die Wackernagel geschworen. In Wirklichkeit leidet sie permanent unter schlechtem Gewissen, weil sie außer Haus, auf Proben, bei Auftritten immerzu von ihren drei Kindern getrennt ist.

Gespiegelte BRD-Geschichte

Zu den privaten Widersprüchen kommen die politischen. Nachdem 1977 ihr jüngerer Bruder Christof wegen Mitgliedschaft in der Rote Armee Fraktion verhaftet worden war, fordern die Angehörigen die Zusammenlegung der "politischen Gefangenen" in Großgruppen. "Glücklicherweise hatten wir damit keinen Erfolg", bekennt Wackernagel. Unter dem Druck der "Genossen" hätte sich der Bruder wohl kaum in einem "zähen Lernprozess" von der RAF befreien können.

Immer wieder spiegelt sich in der Lebenserzählung der 1947 in Stuttgart geborenen Sabine Wackernagel die Geschichte der Bundesrepublik. Das wimmernde, alleingelassene kleine Kind in der Freiburger Wohnung Ende der vierziger Jahre, weil die Eltern, der Regisseur Peter Wackernagel und die Schauspielerin Erika Wackernagel, zur Probe oder Vorstellung ins Theater müssen und sich keinen Babysitter leisten können. Care-Pakete von der überlebenden jüdischen Verwandtschaft aus England verbessern die Versorgung. Die schwäbische Hartherzigkeit im Ulm der fünfziger Jahre mit seinen Kehrwochen und den Nazi-Lehrern. Der Vater, inzwischen Intendant in Ulm, sucht in seiner Arbeit an die religiösen und ethischen Traditionen des Theaters anzuknüpfen, der Bruch, die Provokationen stehen erst noch bevor. Als Peter Wackernagel 1958 stirbt, wird Kurt Hübner sein Nachfolger. Der junge Regisseur, den er bald nach Ulm holt, heißt Peter Zadek. Hübner entlässt die Witwe seines Vorgängers. Bis zu ihrer Wiederverheiratung muss die Mutter, die ein Leben lang KonkurrentinFeindinUnerreichbareLiebsteMutter für die Tochter bleiben wird, schuften, um den Unterhalt für sich und die Kinder zu sichern. Vaterlose Familie, schwierige Beziehungen, Schulversagen, weil sich niemand wirklich um die Schlüsselkinder kümmern kann: Wackernagels Lebensbericht ist die Geschichte der 68er Generation, die Mitte des Jahrzehnts Jahre Auf- und Ausbruch aus der nach Krieg und Mord wiederhergestellten, zutiefst verlogenen bürgerlichen Gesellschaft Westdeutschlands wagen.

Zum Besseren verändert

Die Reise nach Asien Ende der sechziger Jahre öffnet der jungen Schauspielerin die Augen für die Widersprüche zwischen erster, zweiter und dritter Welt. Was folgt, ist abermals exemplarisch. Die junge Frau politisiert sich im Kampf um Mitbestimmung auf dem Theater. Der ist ein Teil der Sehnsucht der aus der Studentenbewegung hervorgegangenen linken Gruppen nach einer Revolutionierung aller Lebensverhältnisse. Am Rande bemerkt: erstaunlich zu erfahren, wie weitgehend und wie andauernd Mitbestimmung zumindest in den Stadttheatern Tübingen, Freiburg und Kassel praktiziert wurde. Nach dem Scheitern der polit-romantischen Vorstellungen folgt der Rückzug ins Private, das ja seinerseits politisch ist. Frauenbewegung, Friedensbewegung, Anti-AKW-Bewegung. Vielleicht ist es diese Bereitschaft, sich im Denken und im Fühlen bewegen zu lassen, die jene viel gescholtene Generation von 68 ihren Eltern voraus hat. Vielleicht war die Nachkriegs-Generation zu dieser Bewegtheit überhaupt nur in der Lage, weil sie den Terror eines Krieges nicht am eigenen Leib erleben musste. Jedenfalls haben besonders die Frauen dieser Generation seit den siebziger Jahren in Friedens-, Kirchen- oder Solidaritätsgruppen, durch ihre Bewegungsbereitschaft das Land zum Besseren verändert.

Die Erzählung von Sabine Wackernagel trumpft nicht auf mit aus der Biographie abgezogenen Einsichten. Was sie erzählt ist nicht originell, es ist exemplarisch. Wackernagel urteilt kaum, erzählt dafür viel und sie bereut nichts. Auch nicht die Entscheidung, das Angebot von Frank Baumbauer abgelehnt zu haben, 1988 mit ihm nach Basel zu gehen. Die Familie sollte nicht abermals in eine neue Stadt verpflanzt werden. Die ausgeschlagene Chance, die Provinz hinter sich zu lassen, bucht Wackernagel eher in die Abteilung skurrile Widersprüche, die größten Chancen, schreibt sie, täten sich wohl gesetzmäßig dann auf, wenn man sich nicht darum bemüht hat. Auch diese Einsicht ist nicht originell, sie gehört jedoch zu der stillen Weisheit eines gelungenen Lebens.

 

Sabine Wackernagel
Links am Paradies vorbei – Mein Leben als Schauspielerin in der Provinz
Martin Schmitz Verlag, Berlin 2016. 240 Seiten, Euro 19,80.

 

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