Interview mit Dramaturg Harald Wolff über die Aktion "40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten"
Bastionen der Zivilgesellschaft stärken
12. Oktober 2016. Dramaturg Harald Wolff, Vorstandsmitglied der Dramaturgischen Gesellschaft, hat es satt, wenn Theater von der Politik nur als Kostenfaktor angeschaut wird. Um eine neue Betrachtungsweise anzuregen, hat er gemeinsam mit Gregor Sturm die Aktion "40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten" initiiert. Am 17. Oktober 2016 finden die Begegnungen statt. Nachtkritik hat Harald Wolff zu der Aktion befragt.
Wie würden Sie in aller Kürze beschreiben, was Sie sich von der Aktion "40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten" versprechen?
Dies sind Goldene Zeiten für Theater, wie ich in meinem Stadttheaterdebattentext darlege: Das Publikumsinteresses ist riesig, die Lust auf öffentliche Auseinandersetzung auch (beim Theater Aachen etwa, in dem ich zuletzt gearbeitet habe, waren die letzten 3 Spielzeiten die erfolgreichsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen; die Zahlen des Bühnenvereins bestätigen landesweit den Trend). Trotzdem geraten immer wieder Häuser finanzpolitisch in die Defensive, weil die Politik*innen oft gar nicht wissen, was Theater alles leisten und unter welchen Bedingungen sie es tun. Das wollen wir ändern. Es geht darum, Theater als Erfahrungsräume der Demokratie und Bastionen der Zivilgesellschaft verständlich zu machen.
Drauf gekommen sind Sie nach dem Abgeordneten-Gespräch bei der diesjährigen Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft? Oder wollten Sie das schon vorher in größerem Stil aufziehen?
Gregor Sturm hatte bei unserer Bundestags-Aktion "631 Bundestagsabgeordnete treffen ihre Dramaturg*innen" eine ziemlich eindrucksvolle Begegnung mit seiner Abgeordneten und hat erlebt, wie viel das (in beide Richtungen) bringt. Deshalb hat er im Mai bei der "konferenz konkret" in Borgholzhausen ein vehementes Plädoyer dafür gehalten, die Aktion auf Landesebene zu wiederholen. Ich fand das eine tolle Idee. Wir haben das dann beim ensemble-netzwerktreffen in Bonn organisiert.
Soll es eine Möglichkeit geben, die Gespräche zu dokumentieren? Oder geht’s ums reine bilaterale Wirken? Es könnte ja durchaus Diskussionsstoff bieten, wie ein Abgeordneter der AfD das kulturpolitische "Programm" seiner Partei verteidigt und Spielplan xy auseinandernimmt – oder?
Die Idee ist die der direkten, persönlichen Begegnung. Das geht natürlich viel offener, wenn es nicht öffentlich wird. Man muss sich ja erstmal kennenlernen. Aber das entscheidet letztlich jede*r vor Ort selbst, da sind jede Menge Formate denkbar, gerne auch spielerische. Es gibt ja viele Möglichkeiten, so ein Treffen zu gestalten.
Das Kampagnen-Foto der Aktion © Stefan Walzl
Haben Sie (per Antworten auf Ihre Aufforderung) schon einen Überblick, wie viele Theaterleute an der Aktion teilnehmen werden?
Überall sind Gespräche verabredet, von Aachen bis Zittau, von Konstanz bis Kiel, von Münster bis München. Mancherorts gibt es mehr Gespräche als Ensemblemitglieder, und es ist auch schon vorgekommen, dass ein Abgeordneter an sein Theater herangetreten ist mit der Bitte, doch mitzumachen. Aber das Ganze ist dezentral organisiert, das ist der Charme. Es läuft offenbar weit mehr, als wir mitbekommen. Manche posten auf Facebook, viele nicht. Das macht aber nix. Es ist ja auch eine Einübung in Zivilgesellschaft. Demokratie heißt: Miteinander reden. Das muss man, gerade im Moment, offensiv propagieren. Mir geht das ganze billige Geschimpfe auf "die" Politiker gewaltig gegen den Strich, ich halte es auch für extrem gefährlich. Da möchte ich was dagegensetzen.
Wie groß sollte die Beteiligung sein, damit Sie von einem Erfolg der Aktion sprechen?
Es ist ja bereits ein großer Erfolg. Und es bietet viel Potential, die angefragten Politiker*innen sagen offenbar tatsächlich fast alle zu: von der Stadträtin über die Abgeordnete bis hin zum Landes- und Bundesminister. Und jedes einzelne Gespräch zählt. Aber wenn Sie nach messbaren Parametern fragen: Wenn 2020 nach dem Greifen der Schuldenbremse kein Stadttheater schlechter gestellt ist als heute – dann ist die Aktion ein Erfolg. Wenn Bund und Länder die Kommunen finanziell in die Lage versetzen, ihren Aufgaben über Pflichtaufgaben hinaus erfüllen zu können – dann ist die Aktion ein Erfolg. Wenn in 5 Jahren eine Trendumkehr dahin erreicht worden ist, dass die Ensembles bundesweit wieder größer werden und die Ensemblemitglieder dann nicht mehr die schlechtbezahltesten Mitarbeiter*innen an Theatern sind – dann ist die Aktion ein Erfolg.
Harald Wolff ist Mitglied des Vorstandes der Dramaturgischen Gesellschaft. Er hat in Nordrhein-Westfalen an Stadttheatern und Freien Spielstätten in Aachen, Düsseldorf, Neuss, Münster, Oberhausen und Mühlheim an der Ruhr gearbeitet. 2007 bis 2009 war er Chefdramaturg am Rheinischen Landestheater in Neuss, von 2011 bis 2016 Dramaturg für alle Kunstgattungen am Theater Aachen. Er hat u.a. die Aktion "631 Bundestagsabgeordnete treffen ihre Dramaturg*innen" verantwortet.
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Sie hat vielen Theaterschaffenden gezeigt, dass mit Politikern ein echter Dialog möglich ist und dass es nicht nur "die da oben" gibt. Und sie wird definitiv dazu führen, dass Theater besser finanziell ausgestattet werden. Denn es ist viel stärker, wenn Theater-Mitarbeiter*innen die höchst komplexe und höchst ungerechte Situation am Theater schildern, als Intendant*innen, von denen man das als Politiker*in ja gewohnt ist.
Beispiel gefällig?
hessenschau.de/politik/landtag/landtagsvideos/video-24814~_story-haushaltsdebatte-einzelplaene-100.html
Min. 31:55-34:37