Feeling Good

von Alexander Jürgs

Darmstadt, 8. Oktober 2016. "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust", ist einer der meistzitierten Sätze aus Goethes "Faust". In Darmstadt, wo Bettina Bruinier das Stück Weltliteratur im Kleinen Haus inszeniert, gibt es gleich zwei Fausts. Samuel Koch, der schmale Mann in seinem Rollstuhl, ist der eine, Christian Klischat, im Vergleich: ein Koloss, der andere. Gerade am Anfang wirken sie wie Antipoden. Kochs Faust ist schlaff, apathisch. Er ist der Typ, der sein Leben verflucht, der einen neuen Kick herbeisehnt, aber noch nicht so recht weiß, ob er sich darauf überhaupt einlassen will. Klischats Faust dagegen ist agil, seine Stimme bebt und brummt, er gibt sich angriffslustig. Wenn er die wuchtigen Baumstümpfe, die auf der ansonsten kargen Bühne stehen, umstößt, dann fallen dabei auch die buntgekleideten Menschen vom Bürgerchor gleich reihenweise mit um.

Ein Faust mit zwei Spiegelbildern

Die beiden Fausts sprechen mal im Chor, mal nebeneinanderher, meistens aber doch einzeln. Warum Bruinier sich dazu entschlossen hat, die Hauptfigur auf zwei Darsteller zu verteilen, wird nicht so richtig klar. Vor allem deshalb nicht, weil sie einem von ihnen noch ein weiteres Doppelspiel aufhalst. Der Faust, der von Samuel Koch gespielt wird, wird kurz vor der Pause im wahrsten Sinne des Wortes an seinen Mephisto gekettet. Robert Lang, der die Teufelsfigur gibt, schnallt sich Samuel Koch direkt vor den Körper. An Bauch, Armen und Händen sind die beiden fortan miteinander verbunden.

Faust2 560 Wil van Iersel uFaust (Samuel Koch) an Mephisto (Robert Lang) © Wil van Iersel

Der Teufel dirigiert seinen Faust nun wie eine Marionette, gibt ihm die Bewegungen vor, beim Date mit Gretchen genauso wie beim Tanz in der Großraumdisko. Noch stärker verdeutlicht wird die Abhängigkeit dann, wenn Mephisto den Faust wieder abschnallt und auf dem Bühnenboden ablegt. Unbeweglich liegt der Unglückliche dann da, verletzlich, zurückgelassen. An sich ist das ein starkes Bild für die Abhängigkeit des Gelehrten von dem, dem er seine Seele verkauft hat – in Kombination mit der gedoppelten Faust-Figur ist es aber eben auch ein Bild zu viel.

Mit Konfetti zum Musical-Moment

Bruinier inszeniert den "Faust"-Stoff als Revue, als von Musik getriebenes Kabarett. Es gibt – nach der Pause – riesengroße, weiße Luftballons auf der Bühne, die in bunten Farben angestrahlt werden. Es gibt Kirmesmusik und Techno-Gewummer. Es gibt einen gespenstisch-schrillen Walpurgisnachttraum, viel Theaternebel. In Auerbachs Keller wird nach Screwball-Comedy-Manier gekämpft, im hohen Bogen gehen die Studenten im Waldarbeiter-Look zu Boden. Der Teufel streut goldene Schnipsel über den Leichnam von Gretchens Bruder Valentin, den Faust getötet hat. Marthe und Gretchen fummeln ein bisschen aneinander rum. Und Robert Lang als Mephisto, der Entertainer der Inszenierung, bekommt sogar einen Musical-Moment geschenkt. Schweinerockgitarren erklingen, während er Nina Simones "Feeling Good" intoniert. "It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me yeah": Das ist es, wovon Faust träumt, das ist es, wofür er sich verkauft.

Bettina Bruinier dürfte es wichtig gewesen sein, keinen klassischen Goethe-Abend zu inszenieren, sie ist bekannt für ihre leichtfüßigen Klassiker-Bearbeitungen. Ihre Inszenierung ist unterhaltend, hat Humor, hat Tempo, bleibt dabei aber doch recht brav. Harte Brüche oder irritierende Momente sucht man vergebens. Bruiniers Provokationen sind leichte Kost, sie ecken nicht wirklich an, tun niemandem weh. Man wünscht sich, sie hätte ihre Goethe-Hokuspokus noch weiter gedreht.

Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Bettina Bruinier, Bühne und Kostüme: Mareile Krettek, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein, Sounddesign: David Rimsky-Korsakow, Leitung Bürgerchor: Nike-Marie Steinbach.
Mit: Christian Klischat, Samuel Koch, Robert Lang, Katharina Susewind, Yana Robin la Baume, Florian Federl, Bürgerchor: Theaterwerkstatt für Erwachsene.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Kritikenrundschau

Stefan Benz schreibt auf der Website des Darmstädter Echos (10.10.2016): Bruiniers Inszenierung reize aus, "was Koch an ungewöhnlichen Spielweisen möglich macht". Wenn Klischat "so agil wie viril vor Tatenwut" dampfe, liege Koch ausgeliefert am Boden: "Ich Ebenbild der Gottheit", sage Faust. "Ich arme Kreatur, spricht die Szene. Der Konflikt der zwei Seelen in der Brust des Forschers, er nimmt peinigend Gestalt an." "Hier der Geist, dort die Tat, hier der Körper, dort der Gedanke. So teilen sich Klischat und Koch den Faust auf." Ein Bürgerchor nehme Passagen ihres Textes auf. Das sei vor allem am Anfang "stark orchestriert", nach der Pause verliere die Inszenierung einiges von ihrer Dringlichkeit. Von dem musischen Gretchen sei sogar der Teufel ergriffen, dem sie "in Antipathie viel stärker verbunden scheint als in Sympathie dem Faust". Das passe nicht und mache das zentrale Gretchendrama zu einer "matten Nebensache". Doch bleibe es "bis zum Schluss ein packender Klassiker".

Shirin Sojitrawalla von der Frankfurter Rundschau (12.10.2016) haben viele Einfälle an diesem Abend gut gefallen. Das Anfangsbühnenbild eines Waldes aus zersägten Baumstämmen sei "ein tolles Bild"; "bestechend" auch der Einfall, Faust Mephisto auf den Bauch zu binden. Jedoch: "Der zweieinhalbstündige Abend wartet mit vielen anderen Bildideen auf, die allerdings zuweilen kurzen Gedanken Folge leisten." Das Mühen um einen Gegenwartsbezug, sehe man der Inszenierung "allzu deutlich" an.

"Einen geschlossen Entwurf vermisst man: Zuvieles ist nur knapp angerissen, zu trivial gestaltet Bruinier ihre Keilereien“, befindet Marcus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse (12.10.2016). Positiv hebt er die Rollengestaltungen Gretchens und Mephistos hervor. Weniger glücklich ist er mit dem "Revue-Eindruck", den die Inszenierung in der Vervielfachung des Faust und im Umgang mit dem Text verströmt. "Summend wie ein Kolibri tändelt die Regie von Textblümchen zu Textblümchen und nippt überall am Nektar: viel Steinbruch, wenig Drama."

"Die Inszenierung wirkt durch starke Persönlichkeiten, driftet aber hin und wieder ins grotesk bis kindische ab“, berichtet Susanne Király im Darmstädter Tageblatt (13.10.2016)

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