Der Zweck des Lebens

von Steffen Becker

Memmingen, 8. Oktober 2016. Wagen wir ein Gedankenexperiment: Wer von uns würde aus seinem Leben ausbrechen? Vielleicht nach einem Schicksalsschlag oder als Folge eines katastrophalen Umfelds. Aber solange alles in halbwegs normalen Bahnen abläuft, nimmt die Mehrheit Ungerechtigkeiten hin und versucht sich einzurichten. Der Roman "Alles, was wir geben mussten" stellt die Frage an eine Gruppe Menschen, deren Bestimmung es ist, ihre Organe zu spenden. Es sind Klone, deren Leben nur funktionalen Wert hat. Das Buch von Kazuo Ishiguro macht aus dem Stoff keinen Bio-Tech-Thriller, sondern eine philosophische Betrachtung über Sinnsuche.

Auch die Inszenierung am Landestheater Schwaben von Thomas Ladwig hält sich mit dem Science-Fiction-Aspekt keine Sekunde länger als nötig auf. Zwei Übertitel verweisen auf das Szenario – in den 50ern kam es zu Durchbrüchen in der Reproduktionsmedizin. Dann ist man schon mitten drin im Internat Hailsham. Hier wachsen die Freunde Kathy, Tommy und Ruth auf. In einer Umgebung, die im Bühnenbild (von Ulrich Leitner) so zeitlich und räumlich unbestimmt ist wie die Fragen des Stücks universell sind.

Alleswaswir2 560 Monika Forster uAls Organspender gezüchtet: Kinder und Jugendliche im Klon-Internat. Vorne: Miriam Haltmeier als
Kathy © Monika Forster

Vorgezeichneter Weg

Zentrales Element sind Schiebewände, die das Ungesicherte dieser Klon-Existenzen spiegeln. Im Vordergrund spielen sich rund um wenige Stühle und Tische der abgeschottete Internatsalltag und die Dreiecksbeziehung der Hauptfiguren ab. Dahinter lugt das Schicksal hervor – die Gesundheitsuntersuchungen, das Operationsgedeck für die Spenden sowie die Malklasse, aus der eine zugeknöpfte "Madame" (Claudia Frost) Bilder für eine geheimnisvolle "Galerie" einsammelt. Diese Verschiebungen sind ein so simpler wie treffender Kniff der Regie: Die Figuren erhalten immer wieder kurze Einblicke in ihren vorgezeichneten Weg – sie wissen um ihren Zweck und ihren frühen Tod. Aber die Erkenntnis setzt sich nicht in ihrem Bewusstsein fest.

Auch dafür findet die Inszenierung den passenden Ausdruck – beim Sexualunterricht. Die strenge, aber gerechte Aufseherin (Anke Fonferek) schiebt eine Puppe auf die Bühne und vollführt die gebäuchlichsten Stellungen an ihr. Ein einerseits technischer, andererseits auch unverkrampfter Vortrag – Sex ist mit keinen moralischen oder emotionalen Hindernissen verbunden. Großer Vorteil im Vergleich zur Außenwelt. Der beiläufig erwähnte Grund – die Klone können keine Kinder bekommen – geht in der Puppensex-Darbietung unter. Die entscheidenden Dinge sind beiläufige Details. Auch im weiteren macht die Inszenierung es plausibel, warum die Figuren nicht rebellieren, sondern das Beste aus ihrem Schicksal zu machen versuchen. Den Schauspielern ist es dabei zu verdanken, dass diese Botschaft mehr melancholischen als deprimierenden Charakter hat.

Selbstbeherrschung und Empathie

Erzählt wird "Alles, was wir geben mussten" aus der Rückschau von Kathy. Mit Miriam Haltmeier hat Regisseur Ladwig die perfekte Besetzung gefunden. Wer sie auf der Bühne sieht, erinnert sich automatisch an dieses eine Mädchen, das es in jeder Klasse gibt. Ragt heraus und steht doch am Rande – weil zu groß, zu beherrscht, zu intelligent. Ergo bekommt sie Tommy nur als guten Freund, auch weil Ruth ihn sich angelt, um selbst nicht allein zu sein. Haltmeier spielt diese Kathy mit einer so gelungenen Mischung aus Traurigkeit, Selbstbeherrschung und Empathie, dass die Zuschauer von ihrer Figur fühlbar berührt werden. Aber auch Rudy Orlovius als leicht tollpatschig-emotionaler Tommy und Regina Vogel als toughe, aber doch verletzliche Ruth überzeugen. Ihr Zusammenspiel harmoniert auch deshalb so gut, weil die Dramaturgie Erzählung und Spielszenen bruchlos ineinander fließen lässt.

Dass die Bühnenadaption zu einem starken Teil aus rückblickendem Monolog der Romanfigur Kathy besteht, gereicht ihr so nicht zum Nachteil. Es bleibt genug Raum für Interaktion der Ménage à trois. Gemeinsam träumen sie ihre kleinen Träume von einem normalen Leben (als Parkwächter oder Boutique-Angestellte). Sie laufen in ordentlicher Kleidung umher, die aber wie abgelegt erscheint, schon in den Größen nicht für ihre Träger*innen gemacht (auch das ein Bestandteil des roten Stück-Fadens). Die Klone starren in Großraumbüros und Schmuddelhefte in der Hoffnung, ihre Originale zu entdecken. Sie klammern sich an Gerüchte, dass echte Liebe ihnen drei Jahre Aufschub vor der ersten Spende einbringt. Am Ende kommt es dann doch, wie es kommen muss. Sie "vollenden" ihr Schicksal, man kennt das, würde man vermutlich auch akzeptieren, denkt man sich, applaudiert kräftig und sinniert am Buffet über die Grundfragen des Lebens.

 

Alles, was wir geben mussten
nach dem Roman von Kazuo Ishiguro
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Thomas Ladwig, Bühne und Kostüme: Ulrich Leitner. Dramaturgie: Kathrin Mädler.
Mit: Anke Fonferek, Claudia Frost, Miriam Haltmeier, Regina Vogel, Christian Bojidar Müller, Rudy Orlovius.
Dauer: drei Stunden, eine Pause

www.landestheater-schwaben.de

 

Kritikenrundschau

Sfü schreibt auf Die Lokale, dem Online-Informationsmagazin für Memmingen und Umgebung: Thomas Ladwig stelle die "Debatte um Reproduktionsmedizin, Ethik in der Wissenschaft" und vor allem die "Frage nach Sinn und Wert des Lebens" "eindringlich" in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. "Einfühlsam" und "intensiv" sei die Roman-Adaption. Miriam Haltmeier überzeuge als Kathy, Rudy Orlovius und Regina Vogel gelänge es eindrücklich, Tommy und Ruth darzustellen, "deren Fröhlichkeit" Schutz sei vor ihrem "unausweichlichem Schicksal". Die "Ausweitung des Spielraums in den Zuschauerraum" mache deutlich: "Ishiguros Science-Fiction Szenerie ist nicht weit von unserer Wirklichkeit entfernt". Enthusiastischer Applaus.

"Eine Geschichte, die wortwörtlich an die Nieren geht", schreibt Freddy Schissler in der Allgäuer Zeitung (10.10.2016). Dass die Inszenierung trotz kleiner Schwachstelen im ersten Teil so zu berühren vermag liegt aus seiner Sicht am "äußerst kreativen, immer wieder sich wandelnden Bühnenbild" sowie an einem "mit Elan und Verve auftretenden Ensemble" und in dem besonders Miriam Haltmeier, Regina Vogel, Anke Fonferek und Rudy Orlovius zahlreiche Glanzpunkte setzten.

 

Kommentare  
Alles was..., Memmingen: postapokalyptische Gegenwart
Am Bufett: Und, macht dann hinterher einen Organspendeausweis klar? Oder nimmt ihn zurück? Oder hofft man, weil die Leber schon nicht mehr so mitmacht, wie sie sollte, auf die humanere Variante der internierten Klone?... Immerhin könnte die ihre Liebe ja, so heißt es, über drei Jahre vor ihrer Bestimmung retten...
Übrigens gab es schon einmal nicht nur den albtraumhaften Film nach diesem Buch, der erfreulicherweise nicht die zweckdienliche Menagé a troir in den Mittelpunkt stellte. Sondern auch einen Film (Ende siebziger Jahre?, mit u.a. Oliver, Peck, Palmer u.a.), in denen gespielt wurde, dass Mengele mit international zur Adoption freigegeben Hitler-Klonen endsiegerisch die Welt über-völkern wollte. Denke manchmal, ist ihm so seelisch irgendwie gelungen-
Alles was..., Memmingen: Nachfragen
Es handelt sich um den Film "Boys Of Brazil". Auch ich habe ihn sehr bewundert wegen seines fiktionalen Plots, der näher an der Gegenwart zum damaligen Zeitpunkt bis heute dran war, als jedes gut tatsachen-basierte, recherchierte Theaterstück es sein konnte. Auch weil er mich beschenkt hat mit der Beobachtung einer schauspielerischen Qualität, die ich sehr bewundere. Und das gleich doppelt bei Gregory Peck und Laurence Olivier: ich bewundere, wenn ein Schauspieler hinter seiner Rolle verschwinden kann. Ohne Maske. Nicht, in dem Sinn, dass er sich totalitär in sie einfühlt, sondern eher in dem Sinn, dass er sich selbst vollkommen zur eigenen Marionette machen kann im Sinne des Ganzen... Das habe ich bei Olivier mehrfach bewundern können und bei Peck nie so wie in diesem Film. Und ich habe eigentlich im Laufe meiner Jahre nur zwei Schauspieler hier (D) erlebt, die das auch können. Bei Frauen scheint das noch seltener zu sein, ich glaube hierzulande schafft das Katharina Schüttler, dass man sie, die Schauspielerin als Person, hinter der Rolle als Zuschauer nicht wahrnehmen muss, wenn man gerade wahrnimmt, was sie darstellt...
Was mich interessieren würde: haben die da von Anbeginn die zu kleinen Kleider an? Oder werden die im Laufe der Inszenierung zunehmend zu klein? Ich kann das nicht sehen, weil ich da nicht hinreisen kann, um mich zu überzeugen.
Immerhin ist es kein Stück zum Buch zum Film, sondern ein Stück zum Film zum Buch. Und wenn es sehr gut gemacht ist, kann es verleiten, das Buch zu lesen und moralische Wertungen anhand der Geschichte selbst vorzunehmen und das nicht dem Theater und seiner Dramaturgie zu überlassen...
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