"Die Frisur sitzt" – Reise durch den Osten der Theaterrepublik

Chemnitz, 12. Oktober 2016. Auf Theaterreise mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters. Nachmittags ein Gespräch mit Theatergewaltigen aus Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Theater Chemnitz.

Stengele Bernhard 280 jnm uBernhard Stengele, Schauspieldirektor in Altenburg und Gera © Nikolaus Merck

Die "Ausländer-Raus"-Regionalliga-Meister

Der Schauspieldirektor des einzigen Fünf-Sparten-Hauses in Thüringen, Altenburg-Gera, Bernhard Stengele (hier auf Deutschlandradio) ist herübergekommen ins Nachbarbundesland, dessen autochthone Bevölkerung sich derzeit so heftig um die Vereinigung mit dem Ausländer-Raus-Weltmeister Ungarn bewirbt. "In unserem Bürgerchor", sagt Stengele unter seiner afrikanischen Kappe, "sind 30 von 50 Leuten gefühlt AfD- oder Pegida-nah. Aber sie spielen trotzdem lieber bei uns mit, als zu demonstrieren.“ Kann Theater also die Welt verändern? Mag sein die Herzen und Köpfe einzelner; die Welt, das Land, die Stadt wohl eher nicht. Der schwarze Kollege aus dem Schauspielensemble des Theaters Thüringen, berichtet Stengele weiter, verlässt Gera, und Altenburg auch. Er hat es satt, dass er und seine Familie auf den Marktplätzen angepöbelt werden.

(jnm)

Frechheit triumphiert im Schauspiel-Vorsprechen in Halle

Halle, 13. Oktober 2016. Weiterfahrt nach Halle. Die Frisur sitzt. Auf dem Programm steht das ZAV-Vorsprechen der acht Leipziger Schauspielstudent*innen im Hallenser Studio. Wird schon 'ne traurige Veranstaltung werden, acht hoffnungsfrohe Absolvent*innen und ein paar griesgrämige Entscheider im Zuschauerraum. Dann die Überraschung: Das Theater quillt über, offenbar will das gesamte jugendliche Halle seine Student*innen sehen. Und es jubelt ihnen zu. Dem ministerialen Reisebus wird ein unerwartetes Zuschauglück geschenkt. Darunter ist eine Lesart von "Unterwerfung", die in ihrer kabarettistischen Frechheit verblüfft: Paul Simon (auszusprechen: Paul Siemonn) gibt Houellebecqs Literaturprofessor knallkomisch und böse als macho-haften Kotzbrocken, der Reclamhefte ins Publikum feuert und sächselnd seinen Spaziergang im Stechschritt absolviert. "Man wird doch mal nach dem Rechten sehen dürfen." Das würde man gerne ganz sehen: Paul Simon als ekliger François. Hinterher hört man Frustrierendes über die Zukunft der Schauspieler*innen: 1650 Euro monatlich mit NV Solo. Wenn es gut geht. Und der Witz fällt einem wieder ein, den Marie Scharf noch eben als Tschechows Irina gerissen hat: "Der Kühlschrank ist schon wieder kaputt. Er macht zwar noch kalt, aber es ist kein Bier mehr drin."

(wb)

IMG 2715Staatsministerin Monika Grütters und der Leiter des Berliner Theatertreffens Daniel Richter 
© Nikolaus Merck

Beim Frühstücksei kommt die Erleuchtung

Jena, 14. Oktober 2016. Da sitzt man nun schon im Reisebus mit der Ministerin und fühlt sich der politischen Einflusssphäre so nah wie nie, das Wesentliche aber bleibt für die Augen trotzdem unsichtbar. Wieder einmal! Irgendwann, während man von Halle nach Jena gondelt oder sich noch die Bissen der Theaterkantine schmecken lässt, tritt in Berlin der CDU-Vorsitzende Frank Henkel, dieser große süße Mäuserich, zurück. Frau Grütters gibt eine Erklärung ab: "Das weitere Vorgehen zur Situation und zur Zukunft der Berliner CDU ist mit mir bis auf Weiteres abgestimmt. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich mich zu Einzelheiten, zu Personalfragen und zur inhaltlichen Gestaltung erst nach einem Parteitag äußern möchte." Wann tut sie das? Keiner kriegt etwas mit, die neue Lage bleibt im Bus unbemerkt. Erst am Abend sagt die Gattin am Telefon: "Frau Grütters war eben in der Abendschau." Ach! Echt? Wie jetzt? Man fühlt sich der politischen Einflusssphäre so fern wie nie.

Einmal aber ist man dann doch ganz nah. In der neusten Ausgabe der Zeit nämlich ist am selben Tag ein umwerfender Text von Moritz von Uslar über ein Frühstück mit der Ministerin (Zitat: "Himmel, kann die reden") erschienen, der sie auf köstliche, treffende, wunderbar witzige Weise charakterisiert. Um Mitternacht wird ihr der Artikel in der Hotel-Lobby von ihren Getreuen überreicht. Sie liest. Langsam. Genau. Noch langsamer. Noch genauer. Das Gesicht ist versteinert. Ist sie getroffen? Nach einer kleinen Unendlichkeit entspannt sich plötzlich ihr Gesicht. Und sie ruft: "Schon gut! Ich habe verstanden."
(wb)

Jena 560Das Leitungsteam des Theaterhaus Jena: Friederike Weidner, Benjamin Schönecker, Veronika Bleffert, Moritz Schönecker, Marcel Klett  © Nikolaus Merck

Schluss mit der Feudalherrschaft

Jena, 14. Oktober 2016. Das Theaterhaus Jena hat kein Haus, nur eine Bühne. Das von Walter Gropius gebaute Theatergebäude fiel noch nach dem Ende der Nazi-Zeit einer neuerlichen architektonischen Rückwärtserei zum Opfer. Nach allerlei Rück- und Umbauten hatte Jena 1990 gar kein Theaterhaus mehr, aber eine kleine Schar zu allem entschlossener Wende-Aktivistinnen, die das stehen gebliebene Bühnenhaus kurzerhand besetzten und die Freien Kammerspiele gründeten. Heute gibt es hier, rundum die alte Bühne, eine Probebühne, neue Nebengelasse und eine kollektive Leitung. Die ist im Statut des Hauses fest geschrieben. Schluss mit der Feudalherrschaft der intendantelnden Regiegötter oder Managementmatadoren. "Aber da muss man nicht gleich an Hippies denken, flache Hierarchien sind in der Wirtschaft total üblich", sagt der künstlerische Leiter, ein Fünftel des fünfköpfigen Leitungsteams, Moritz Schönecker.

Misstrauen schlägt den Kollektivleitern entgegen, die kollektiv erschienen sind zur Gesprächsrunde mit der Staatsministerinnen-Reisetruppe. "Wie verhandeln Sie mit ihren Geldgebern in Stadt und Land? Auch immer zu fünft?" – "Nö, da gehen der künstlerische Leiter und der Geschäftsführer. Flache Hierarchien heißt ja nicht, keine Entscheidungen zu treffen oder dass niemand sagt, wo’s lang geht", verteidigt sich das Kollektiv. Ist das ein Leitungsmodell mit Zukunft, fragt sich die Runde und runzelt die Stirnen. Jedenfalls könnte das Jenaer Theater mit seinen 46 festen Mitarbeiter*innen, einem Mini-Etat von rund 2 Millionen Euro und mit seiner hohen künstlerischen wie institutionellen Beweglichkeit ein Muster abgeben für das, was nach dem Rückbau der großen Häuser und Orchester kommt – nicht nur in dem kleinen, unter Auszehrung der Bevölkerung leidenden Thüringen. Billige, volatile Ensembles, die es mit der Spiel-, Theater- und Schaulust der Leute in den kleineren und mittleren Städten aufnehmen.

(jnm)

Gruetters 560Monika Grütters wird pflichtgetreu aufgehalten © Nikolaus Merck 

Die Pizza steht auf dem Spiel

Senftenberg, 14. Oktober 17 Uhr. Auf dem Weg nach Senftenberg. In Sichtweite eines Unfalls sperrt die Polizei die Autobahn. Selbst die Entourage der Ministerin kann die unwilligen sächsischen Beamten nicht dazu bewegen, den Bus vorbeizulassen ("Am Bus steht nicht dranne, dass da 'ne Ministerin drin ist. Und wenn's dranstünde, wär's mir egal.") Im Bus bricht Panik aus, denn schon um 19 Uhr beginnen die Festvorstellungen zum 70. Geburtstag des Senftenberger Theaters – muss das zuvor vorgesehene Abendessen beim "Standard-Italiener" abgesagt werden? Aber nein, der Intendant Manuel Soubeyrand höchstpersönlich transportiert Pizzen und Pasten vom Restaurant ins Theater. Gott sei Dank: Im Osten ist das Theater noch serviceorientiert. Was im Bus währenddessen besprochen wurde, können Sie hier nachhören.

(wb)

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Blog Theaterreise mit Grütters: Hinweis
http://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/nahaufnahme/201610/63348.html
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