Absehbares Desaster

26. Oktober 2016. Die Ankündigung des Intendanzwechsels an der Berliner Volksbühne schlägt auch in Polen Wellen. Nicht nur, weil Frank Castorf dort als wichtiger Impulsgeber der Szene gilt, sondern auch, weil es in Polen ebenfalls einen umstrittenen Intendantenwechsel gibt.

Von Iwona Uberman

26. Oktober 2016. Die Ankündigung des Wechsels an der Spitze der Berliner Volksbühne hat auch in Polen hohe Wellen geschlagen. Für polnische Theaterliebhaber ist Frank Castorfs Theater schon seit Langem ein wichtiger Ort für Denkanstöße und besondere Theatererlebnisse, regelmäßig reisen sie zu seinen Vorstellungen an. Castorf ist auch ein wichtiger Bezugspunkt für polnische Regisseure wie zum Beispiel die auch in Deutschland bekannten Künstler Jan Klata oder Krzysztof Garbaczewski.

Der Ablauf des Intendantenwechsels in Berlin und die damit verbundenen Turbulenzen wurden in der Öffentlichkeit Polens aber nur oberflächlich und kurz behandelt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil es gleichzeitig auch in Polen einen sehr umstrittenen Intendantenwechsel gab. Er fand am Teatr Polski we Wrocławiu statt, das zuletzt Ende 2015 internationale Aufmerksamkeit auf sich zog, als die polnische Regierung eine Jelinek-Inszenierung von Ewelina Marciniak verhindern wollte.

Massiver Druck des Kulturministers

Die Premiere der Produktion fand kurz nach der letzten Parlamentswahl statt, die von der nationalkonservativen Partei PiS gewonnen worden war. Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Kulturministers Piotr Gliński war der Versuch, sie auf Basis des Vorwurfs der "Pornografie" zu verhindern. Er stieß auf Widerstand beim liberalen Teil der polnischen Gesellschaft. Unterstützung hingegen erfuhr er von extrem rechten Gruppierungen wie den "Rosenkranz-Kreuzzüglern für das Vaterland", die am Tag der Premiere den Zutritt zum Theatergebäude blockierten und Zuschauer bedrohten. Das Theater gewann die Machtprobe, aber aus heutiger Sicht war es ein Pyrrhussieg.

Nachdem der Vertrag des bisherigen Intendanten Krzysztof Mieszkowski mit der Spielzeit 2015/16 ausgelaufen war, wurde sein Nachfolger im Eiltempo bestimmt: Im Juli 2016 wurde die Stelle ausgeschrieben, bereits am 22. August wurde die Entscheidung der Kommission nach Vorstellungsgesprächen mit sechs Bewerbern und äußerst kurzer interner Beratung verkündet. Das Ergebnis wurde sicherlich auch durch massiven Druck seitens des Kulturministers beeinflusst, der angekündigt hatte, dass die Gelder für Teatr Polski gestrichen würden, wenn Mieszkowski Leiter bliebe (das Theater wird zur einen Hälfte durch kommunale, zur anderen durch Bundes-Mittel finanziert).

dziady 560 kabanowMichal Zadaras Inszenierung von Adam Mickiewicz' "Dziady (Totenfeier)" © Kabanow

Die Proteste gegen die Absetzung von Mieszkowski waren heftig, und sie dauern bis heute an. Die letzte größere Protestversammlung fand am 8. Oktober in Warschau statt anlässlich eines Festivalgastspiels des Teatr Polski mit seiner Inszenierung von "Dziady" ("Totenfeier"). "Totenfeier" (Regie: Michał Zadara) war ein Beitrag des Theaters für "Europäische Kulturhauptstadt Wrocław 2016". Die Inszenierung ist die erste Umsetzung aller vier Teile des Nationaldramas von Adam Mickiewicz an einem Abend – und dauert 14 Stunden.

Mehrfach "Theater des Jahres"

Sie ist nur eine von vielen sehr erfolgreichen Produktionen der Intendanz Mieszkowski, die das Teatr Polski zur führenden Theatereinrichtung in der polnischen Theaterlandschaft gemacht hat. Es gewann sowohl die Anerkennung der Fachleute wie auch die Herzen eines breiten, jungen Publikums. Mit vielen Inszenierungen ist es ihm gelungen, in ganz Polen leidenschaftliche Theaterdebatten zu entfachen. Durch die polnische Fachzeitschrift "Teatr" wurde es mehrfach als "Theater des Jahres" ausgezeichnet und gilt als moderner und interessanter als die Warschauer Bühnen oder das Teatr Stary in Krakau.

Das ist erwähnenswert, weil die polnische Theaterlandschaft üblicherweise streng hierarchisch geordnet ist: An der Spitze steht Warschau, für die Provinz bleiben nur Plätze auf einer niedrigeren Etage, die einzige Ausnahme ist das Krakauer Nationaltheater Stary. Zu den Kultinszenierungen des Teatr Polski zählen auch zwei Aufführungen von Jan Klata. "Sprawa Dantona" ("Die Sache Danton") (2008) ist eine energiegeladene, schillernde, punk-konservative Aufführung über die Unmöglichkeit einer Revolution in heutigen Zeiten und "Utwór o matce i ojczyźnie" ("Über die Mutter und das Vaterland") eine bildreiche, poetische Erzählung über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, über nationale Obsessionen und das Trauma des Lebens im Schatten des Holocaust.

utwor560 kabanowAnna Ilczuk, Paulina Chapko, Halina Rasiakówna, Wojciech Ziemiański, Dominika Figurska, Kinga Preis in "Utwór o matce i ojczyźnie" © Natalia Kabanow

Oder die zwei Inszenierungen des Künstlerpaares Demirski-Strzępka (Autor/Regisseurin): "Teczowa Trybuna 2012" ("Regenbogentribüne 2012") von 2011 setzt sich mit der polnischen Homophobie auseinander und zeigt den Kampf schwuler polnischer Fußballfans um ihre Rechte und die Schwäche der polnischen Demokratie. Das ein Jahr später entstandene "Courtney Love" verbindet die Geschichte der Karriere von Kurt Cobain und der Band Nirvana mit der Realität des polnischen Showgeschäfts in den 90er Jahren.

Verlogenheit der heutigen Künstlerwelt

Zu erwähnen wäre außerdem Krystian Lupas "Wycinka" ("Holzfällen") (2014) nach dem Roman von Thomas Bernhard, eine Inszenierung, die in Polen als ein Meisterwerk gilt und mit der im Sommer 2015 erstmalig ein polnisches Stück das Festival d'Avignon eröffnete. Der Abend erzählt von der Verlogenheit der heutigen Künstlerwelt und der Wehmut der Künstler über verlorengegangene Jugendträume. Für eine frühere Umsetzung des Bernhard-Stoffs im Schauspielhaus Graz bekam Lupa in Österreich den Nestroy-Preis.

Die Liste der Erfolge könnte durch Inszenierungen von Werken von E. Jelinek, W. Gombrowicz oder dem zuvor in Polen kaum bekannten Heiner Müller fortgesetzt werden. Sein hohes Niveau verdankte das Teatr Polski aber auch auch guten Schauspielern und RegisseurInnen wie Barbara Wysocka, Krzysztof Garbaczewski, Pawel Miśkiewicz, Ewelina Marciniak und anderen, die neben den schon Genannten das heutige polnische Theater prägen.

SprawaDantona 560 Bartosz MazMarcin Czarnik in "Sprawa Dantona" © Bartosz Maz

Ein neue Wege beschreitendes Projekt stellt außerdem die Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden "Titus Andronicus" (Regie: Jan Klata) (2012) dar. Auf mehreren Ebenen trafen hier zwei Kulturen aufeinander, und aus dem Kontakt zwischen den die Goten spielenden polnischen und den die Römer verkörpernden deutschen Schauspielern ergaben sich so manche überraschenden Einblicke.

Das abrupte Ende der Ära des bisherigen Intendanten, die sich andeutende Zerschlagung des künstlerischen Ensembles und der auch sonst sehr gut funktionierenden Einrichtung, ohne ihr eine Möglichkeit zu geben, sich in einer letzten Spielzeit von ihrem Publikum zu verabschieden sind nun eine Bankrotterklärung der polnischen Kulturpolitik und ein großer Verlust für die kulturinteressierte Bevölkerung. Höchstwahrscheinlich wird man Krystian Lupas angekündigte Kafka-Inszenierung "Prozess" am Teatr Polski nicht mehr erleben dürfen, da der Regisseur aus Protest gegen den Intendantenwechsel seine Probenarbeit unterbrochen hat.

Gastspiele in der eigenen Stadt

Die noch von Mieszkowski geschlossenen Gastspielverträge müssen wahrscheinlich eingehalten werden, aber wird man diese Inszenierungen auch noch in Breslau sehen können? Zurzeit werden die herausragenden Produktionen kaum gespielt, stattdessen stehen das Boulevardstück "Mayday" von Ray Cooney (seit 21 Jahren im Repertoire) und ein sehr beliebtes Chanson-Soloprogramm (seit zehn Jahren im Repertoire) von Bartosz Porczyk, der bis zur letzten Spielzeit Ensemblemitglied war, auf dem Spielplan. Es bleiben aus Mieszkowskis Programm nur die Vorstellungen von "Totenfeier" und "Holzfällen", die in Breslau im Rahmen des Festivals Theaterolympiade stattfinden, also als Gastspiele in der eigenen Stadt.

Man sollte nicht verheimlichen, dass auch der bisherige Intendant eine gewisse Mitschuld an der Situation trägt. Durch das Überschreiten des Budgets gab er den Kulturpolitikern der Wojewodchaft einen Anlass, sich seiner aus nachvollziehbaren Gründen zu entledigen. Angesichts der chronisch unterfinanzierten Kultur in Polen ist allerdings die Einhaltung eines Budgets auch alles andere als einfach.

wycinka 560 kabanow"Wycinka" (Holzfällen) © Natalia Kabanow

Man konnte auch deutlich sehen, dass die lokalen Politiker keineswegs ein Interesse daran hatten, den Konflikt zu lösen. Ein von der vorherigen Kulturministerin Małgorzata Omilanowska 2014 vorgeschlagener Kompromiss, dem Mieszkowski zugestimmt hatte, wurde von ihnen nie umgesetzt. Stattdessen wartete man ab, bis der Vertrag des Intendanten auslief, um seine Stelle sofort mit jemandem anderen besetzen zu können. Diesem versprach man sogleich, dem Theater die bisherigen Schulden zu erlassen.

Der neue Intendant Cezary Morawski hat anders als Chris Dercon in Berlin keine großen Leistungen und keinen international bekannten Namen vorzuweisen. Morawski hat noch nie ein Theater geleitet, er ist einem breiteren Fernsehpublikum als Schauspieler aus der TV-Serie "M jak miłość" ("L wie Liebe") bekannt und ist außerdem seit Jahren als Lehrkraft an der Warschauer Schauspielschule tätig. Einige Jahre war er auch Schatzmeister des ZASP (Verband der polnischen Bühnenkünstler), was mit einem Gerichtsprozess endete, da man ihm leichtsinnigen Umgang mit den Finanzen des Verbands vorwarf; offensichtlich spielte das für die Auswahlkommission keine Rolle.

Eine Spielzeit mit nur zwei Premieren

Auf immaterieller Ebene verliert die polnische Kultur gerade eine ihrer internationalen Visitenkarten – das Teatr Polski vertrat in den letzten Jahren polnisches Theater auf zahlreichen Festivals und Gastspielen in vielen Ländern von Argentinien bis China, Korea, Japan und natürlich auch in Europa. Es knüpfte so an die Wrocławer Theatertradition in den großen Zeiten des "Laboratorium" von Jerzy Grotowski und an das "Teatr Pantomimy" von Henryk Tomaszewski an.

Viel verliert natürlich das Publikum des Teatr Polski, das aus dem ganzen Land nach Breslau pilgerte, und dieser Verlust ist noch schwerwiegender als der bei der Berliner Volksbühne. Castorfs Theater wird es in seinen künftigen Inszenierungen weiterhin geben, und sie werden ähnlich wie die Inszenierungen von Christoph Marthaler zumindest als Gastspiele auch in Berlin zu sehen sein. Elemente der Volksbühne leben zudem in Arbeiten von Herbert Fritsch an der Schaubühne fort. Auch ohne die jetzige Volksbühne wird Berlin also eine international gewichtige Theaterstadt bleiben. Anders als Wroclaw, wo das Theaterangebot mit dem in Berlin nicht zu vergleichen ist. Im Teatr Polski sind in dieser Spielzeit zwei Premieren angekündigt: Molieres "Der eingebildete Kranke" und Gogols "Revisor". Es ist noch offen, wer Regie führen wird.

 

Uberman Iwona 100 uIwona Uberman, geboren in Polen, in München promovierte Theaterwissenschaftlerin und Skandinavistin. Als Theaterkritikerin arbeitet sie für die polnische Theaterzeitschrift "Teatr" und berichtet über das deutschsprachige Theater. Als Übersetzerin von Theaterstücken arbeitet sie regelmäßig mit der in Warschau erscheinenden Zeitschrift für moderne Dramatik "Dialog" zusammen. Lebt in Berlin.

Mehr über die Theaterlandschaft Polen erfahren Sie im nachtkritik.de-Lexikoneintrag.

 

Kommentare  
Intendanzwechsel Teatr Polski: einseitige Berichterstattung
Warum derart einseitige Berichterstattung? Nichts über die horrende Schulden, die Herr Mieszkowski gemacht hat. als er das Theater leitete. Er wurde auch nicht "abgesetzt", sondern er nahm nicht an der Ausschreibung teil, nachdem sein Vertrag abgelaufen war. Und vergessen Sie nicht: Er ist ein aktiver Politiker der Partei Nowoczesna und vermischte sein Amt als Direktor des Teatr Polski mit seiner politischen Tätigkeit. Er nutzte das Theater aus als Instrument seines politischen Kampfes.
Intendanzwechsel Teatr Polski: Nachtrag
Die Höhe der in meinem Artikel erwähnten Verschuldung des Theaters ist noch nicht bekannt. Eine Finanzprüfung wurde erst vor kurzem eingeleitet. Dem neuen Direktor wurde aber ein schuldenfreies Haus versprochen, also scheint die Budgetüberziehung für die Geldgeber kein gravierendes Problem zu sein.
An der Intendanten-Ausschreibung konnte K. Mieszkowski nicht teilnehmen, da er die Anforderungen nicht erfüllte. Auch der neue Intendant ist zuerst durchgefallen und erfüllte erst die Anforderungen der zweiten Ausschreibung (Mieszkowski weiterhin nicht). Auch hier läuft gerade eine Untersuchung, ob der Wettbewerb üblichen Regeln entsprach.
Mieszkowski ist in die Politik gegangen, als sich deutlich abzeichnete, dass eine weitere Leitung des Theaters durch ihn unwahrscheinlich ist. Die Frage, ob er sein Mandat behalten wird, wenn er vielleicht Intendant bleibt, wurde ihm meines Wissens nie gestellt. Der Spielplan des Theaters wies keine Anzeichen eines Missbrauchs für politische Zwecke auf.
Theaterbrief Polen: notwendige politische Arbeit
@dulnik - Es ist eine Notwendigkeit im polnischen Theater politische Arbeit zu leisten. die jetzige Regierung erfordert das. Polnische Theaterleute führen seit Jahren eine hoch diskursive und lebendige Debatte mit der Wirklichkeit. Der Widerstand and den Bühnen gegen die rechtsnationale Regierung ist notwendig und geschieht, noch, überall. Die Tatsache daß K. Mieszkowski in die Politik gegangen ist, ist ausschliesslich der regierenden Partei ein Dorn im Auge. Schliesslich beteiligt er sich an der Opposition.
Schulden hin oder her (und das beschreibt der Artikel genau) ist das Teatr Polski eine der wichtigsten Bühnen Polens. Mit einem der besten Ensembles -eine klare und deutliche Stimme in der polnischen Landschaft.
Lieber Herr Dulnik - das Theater ist immer ein Ort der politischen Auseinandersetzung!
Fakt ist: die rechtsgerichtete polnische Regierung verfügt über keinerlei Künstler oder auch wenigstens kulturaffinen Menschen, die sie als Kader stellen könnte. Deswegen ist auch Herr Morawski, im theatralen Sinne komplett unbekannt und unfähig , eine typische Besetzung. Der Versuch Kadern auszutauschen, wie bereits im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geschehen, führt an den Theatern zur Einsetzung inkompetenter Figuren an wichtigen Stellen. Gleiches geschieht auch an anderen Stellen, so z.B. am Adam Mickiewicz Institut (in etwa polnisches Pendant zum Goethe). Wertvolle jahrelange Arbeit wird im Handumdrehen vernichtet, weil die polnischen Machthaber im Affekt versuchen alles andere Denken in den Institutionen auszumerzen.
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