Walls - Iphigenia in Exile - Eine koreanisch-deutsche Koproduktion betrachtet am Deutschen Theater Berlin Goethes Fluchtgeschichte 'Iphigenie auf Tauris' aus heutiger Sicht
"Wo ist denn der Humanismus hin?"
von Sophie Diesselhorst
24. Oktober 2016. Am Ende ist sie die (Berliner) Mauer, die weiße Plane, mit der die schmale Spielfläche in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ab Szene zwei nach hinten abgehängt war und über die manchmal Videobilder flimmerten. Sabine Waibel erzählt ziemlich umständlich von einem David-Bowie-Konzert im Jahr 1987, natürlich auf der Westseite, und wie der Wind of Change Bowies Versprechen We can be heroes just for one day in Klangfetzen auch auf die Ostseite geblasen habe.
Aufgewirbelte Zusammenhänge
Eine Grenze trennt auch die beiden Koreas, und dass die deutsch-koreanische Koproduktion "Walls/Iphigenia in Exile" die in Waibels Auftritt konservierte Aufbruchsstimmung des in Berlin erlebten Mauerfalls dorthin transportieren möchte, ist absolut nachvollziehbar. Vielleicht kann diese Geste in ihrer Hoffnungs-Emphase auch funktionieren für ein Publikum in akuter Sehnsucht nach einem eigenen Mauerfall. Allerdings hängt dann im Gesamtbild des Abends wieder der wesentlich spannendere Exkurs in die von Katharina Matz und Gabriele Heinz auf Video eingespielten Mauerfall-Erinnerungen zweier ostdeutscher Frauen (Mario Salazar) schief. Da hatte Matz, ein paar Szenen vorher, das Volk mit seinem mittlerweile pegida-vergifteten Schlachtruf "Wir sind das Volk" kurz und schmerzlos zu Marionetten und Gorbatschow zum Alleinverantwortlichen für den Mauerfall erklärt.
Leider wird dieser Gedanke nicht weiterverfolgt und vergrößert nur die den Raum vernebelnde Wolke der anderen lediglich aufgewirbelten Zusammenhänge. Sowieso ist es schwierig, an diesem aus sechs Szenen von fünf Autoren und fünf Regisseuren bestehenden Abend einen roten Faden zu greifen. Er trägt Iphigenie, die gerade vor einer Woche nebenan im Deutschen Theater bei Ivan Panteleev den Humanismus verachtete, im Namen – und es tauchen immer wieder Figuren auf, die Iphigenie genannt werden. Auch Goethe-Text wird eingesprengselt, aber er gibt nichts vor.
Die Doppelmoral der Festung Europa
Am ehesten noch in der ersten Szene, in der ZinA Choi Iphigenies Ankunft auf Tauris als Ankunft einer aus Nordkorea nach Deutschland geflüchteten Frau erzählt. Im Interview bei der Ausländerbehörde sät die Übersetzerin, selbst mit koreanischem Migrationshintergrund, Misstrauen; und in der immer wiederkehrenden verzweifelten Frage der Schutzsuchenden: "Was muss ich denn sagen, damit ich Asyl kriege?" bricht sich die Doppelmoral der "Festung Europa" Bahn. Das von Goethes Iphigenie angerufene "Gebot, dem jeder Fremde heilig ist", gilt nicht mehr. "Wo ist denn der Humanismus hin?", fragt die nordkoreanische Iphigenie und kriegt keine Antwort, nur ein bedauerndes Schulterzucken ihres Interviewers (Helmut Mooshammer) und das vage Versprechen, dass irgendwann über ihren Antrag entschieden werde.
Der Stern der menschlichen Solidarität ist also auch hier gesunken. Als großes, völkerverbindendes Ideal funktioniert nur noch die romantische Liebe, auf die sich die Erzählerin in Szene vier (geschrieben und inszeniert von Kon Yi) obsessiv stürzt, eine Vietnamesin, die sich von koreanischen Seifenopern auf den Traum hat bringen lassen, einen koreanischen Mann zu heiraten. Parallel zu ihrer in der Desillusion endenden Erzählung spielen Sabine Waibel und Hyun Jun Ji als Iphigenie und Thoas zwei Szenen aus dem Goethe-Text, mit dem Ziel, die Liebe als Machtspiel zur Kenntlichkeit zu entstellen.
Assoziationsfeuerwerk
Albern kostümiert wie Puppen aus dem Kasperletheater, bewegen sie sich hölzern und grimassieren um die Wette. Auch in den anderen Szenen wird viel mit Verfremdungsinstrumenten hantiert, wenn zum Beispiel Tilmann Köhler in seiner von Mario Salazar geschriebenen Szene Iphigenie, hier eine nordkoreanische Prostituierte in Seoul, als Puppe auf ihrem Freier sitzen lässt – später wirft sie ihm, der ihr zärtlich zugewandt ist, vor, er sehe sie, die unterprivilegierte Nordkoreanerin, die sich ausbeutet, um ihre Kinder rüberzuholen, nur als "Loch mit Beinen". Nun ja.
Je öfter sie beschworen wird, desto mehr geht Iphigenie verloren in diesem hektisch gezündeten Assoziationsfeuerwerk mit zu vielen, oft übers Ziel hinausschießenden special effects, dem zwar bestimmt nicht der gute Wille zur internationalen und interkulturellen Verständigung fehlt, aber ganz eindeutig die Konzentration, sich so weit aufeinander einzulassen, dass ein Spannungsbogen entstehen könnte.
In der finalen Szene von Kyungsung Lee wirft das die tapfere Sabine Waibel geradezu symptomatisch auf sich selbst zurück. In ihrem vom Bowie-Erlebnis gerahmten banal ausufernden Selbstporträt (es geht um Sissi als Initiationserlebnis, Yoga und den beruhigenden Effekt von Bäumen) zerlegt sie sich spielerisch offensiv selbst, lächelt entschuldigend und trinkt zwischendurch eine Zweiliterflasche Wasser aus. Leider hilft das alles nichts.
Walls - Iphigenia in Exile
von ZinA Choi, Tilmann Köhler, Kyungsung Lee, Mario Salazar, Jungung Yang, Kon Yi und Ensemble
Regie: ZinA Choi, Tilmann Köhler, Kyungsung Lee, Jungung Yang, Kon Yi, Bühne / Kostüme: Karoly Risz, Video / Sound: Daniel Hengst, Dramaturgie: Sonja Anders, Ulrich Beck, Danbi Yi.
Mit: Hyun Jun Ji, Helmut Mooshammer, Sabine Waibel, Dakyung Yoon, Kotti Yun
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.deutschestheater.de
"Was lehren uns diese (..) betont disparaten Szenen?", fragt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (25.10.2016). Der Kritiker sah eine "multiperspektivische Inszenierung" mit "wohltuend schmucklose(n) Berichten(n) mit bitteren Nebentönen", aus denen "auffallenderweise" nichts folgt. Als Ergebnis der Seherfahrung stehe laut Pilz die Erkenntnis, "dass Kulturgrenzen keine bloßen Sprach- und Gewohnheitsbarrieren sind, dass man die Differenzen loben muss, um die Gemeinsamkeiten würdigen zu können. (..) Das ist es, was dieser Abend erfahren lässt, es ist mehr als gewöhnlich im Theater."
"Alles an diesem knapp zweistündigen Abend" wirke "nur angerissen und zugleich breitgetreten", findet Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (25.10.2016). "Aufgebauschte Petitesse(n)" überall. "Das Theaterprojekt, das in sechs Nummern auf einem schmalen Steg an der Rampe immer wieder neu Schauspieler, Dramatiker und Regisseure von hüben wie drüben durcheinanderwürfelt," trägt wenig zur Vermittlung zwischen (Süd-)Korea und bei, anstatt dessen wundert man sich "über die übergroßen Gesten und Gefühle der Koreaner, mal über die Klischees, die hier hin- und hergeschoben werden." Und was bleibt? "Der Wunsch, die wunderbare Sabine Waibel wieder öfter in Berlin zu sehen. Die Neugier auf eine Schauspielerin wie Kotti Yun auch jenseits von derart gut gemeinten Projekten."
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Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/26/der-humanismus-ein-schatten-seiner-selbst/
Aufgrund der zahlreichen Nachfragen verweisen wir auf unsere
Pressemitteilung
Am Dienstag, dem 25.10.2016, gegen 22 Uhr ist unsere Schauspielerin Anne Kulbatzki auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters von einem Mann mit einem Messer angegriffen worden. Mitarbeiter des Deutschen Theaters sowie Passanten haben den Täter überwältigt und der Polizei übergeben. Anne Kulbatzki hat Schnittverletzungen erlitten und ist sofort im Krankenhaus behandelt worden. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir zu Herkunft und Motiv des Angreifers keine Angaben machen, da polizeiliche Ermittlungen laufen. Aus diesem Grund werden wir von weiteren Stellungnahmen absehen. Wir sind entsetzt über diesen Vorfall und hoffen, dass es Anne Kulbatzki bald wieder besser geht.
Quelle: Homepage des DT
http://www.bz-berlin.de/berlin/mitte/schauspielerin-vorm-deutschen-theater-mit-messer-verletzt
Und könnte die Rezensentin bitte noch ausführen, was mit "Sissi als Initiationserlebnis" gemeint ist? Dazu könnte ich nämlich auch noch etwas assoziieren. (...)
(Liebe*r "Inga, nicht #4" –
1. wurde wohl gestern abend im DT auch "Walls" gespielt, so dass auch das Publikum dieses Stücks etwas von der Messerattacke auf dem Theatervorplatz mitbekam.
2. meint die Rezensentin damit, dass Sabine Waibel in der letzten Szene von "Walls" berichtet, dass Romy Schneider als Sissi sie so sehr beeindruckt hätte, dass sie daraufhin beschlossen habe, Schauspielerin zu werden – mit freundlichem Gruß, sd / Redaktion)
(Liebe Liora, es werden keineswegs Informationen unterdrückt, wie Sie in ebendiesem Kommentarthread, in den Sie schreiben, sehen können. Mit freundlichen Grüßen, sd/Redaktion)
Das ist hier ein Theaterportal, eine ausführliche Berichterstattung über Kriminalfälle gehört wirklich nicht hier hin. Es gibt sensible Seiten, Opfer- und auch Taterschutz, Vorverurteilung, Gefährdung der Ermittlungen. Das sollen Journalisten machen, die mit sowas Erfahrung haben, die in einer großen Redaktion mit Spezialisten für Juristisches sitzen, nicht Theaterkritiker.
Handelt es sich bei dem Niedergestochenwerden um eine geprobte Vorstellung mit Hauptdarstellerin? Wo man deren Chef toitoitoi wünscht? Oder wie? Im Zusammenhang mit einem immerhin versuchten Mord, den gewiss irgendwer auf versuchten Totschlag herunterhandeln kann, weil es immer genug Täterschutz gibt in diesen Dingen? Und das ist vielleicht, Thomas Fischer kann das besonders gut erklären! – auch gut so-
Allerdings nur, wenn man nicht gerade selbst verletzt und offenbar nur durch beherzte Kollegenhilfe vor Ermordung gerettet wurde… Warum müssen wir Zeuge werden, dass die Berliner Festspiele via Oberender persönlich dem Deutschen Theater alle guten Wünsche für die Schauspielerin zukommen lassen? Kann man das bitte als moralisch fragwürdige und geschmacklose Oberender-bf-Werbung aus der hier öffentlich einsehbaren Tweed-Leiste löschen? – Danke. (Jeh doch hin, mensch, wenns dir echt auf Herz und Seele liegt – ins Krankenhaus, Blumen, Karte ran – kriegt dann ja keiner mit? -...)
In diesem Zusammenhang: Es ist wirklich großartig, dass es nachtkritik gibt, dass es läuft, dass die Redaktion sich reinhängt, das alles auf die Beine stellt, am Laufen hält und weiterentwickelt. Das ist einzigartig und eine immense Leistung. Ich ziehe den Hut vor dieser Anstrengung. Sie bereichert uns alle. Auch wenn dieses oder jenes diskutabel ist, das große Ganze stimmt. Und das ist Ihr Verdienst! Weiter so. Danke.
"Ich bin ebenfalls etwas verwundert/irritiert und hätte eine Meldung erwartet. Aber ich vertraue darauf, dass die Redaktion das intern diskutiert hat."
In der Tat ist in der Redaktion diskutiert worden – und zwar kontrovers –, ob dieser Fall gemeldet werden sollte oder nicht. Wir haben uns letztlich dagegen entschieden, weil uns bei der Informationslage nicht klar schien, inwieweit wir hier von der Theatersphäre in die Privatsphäre überwechseln. Man hätte da aber auch anders entscheiden können - nicht zuletzt deshalb haben wir auch die Kommentare an dieser Stelle veröffentlicht. Ich möchte aber dafür plädieren, die Diskussion um diese "Nicht-Meldung" in diesem Thread hiermit zu beenden.
PS Und für das Lob bedanken wir uns natürlich!