Ein wenig Offenheit

von Johannes Siegmund

Wien, 2. November 2016. Die alarmierenden politischen Nachrichten aus der Türkei überschlagen sich, seit das Land von der Regierung Erdogan mit harter Hand in eine Autokratie umgeformt wird. Das Theater kann in solchen Situationen entweder direkt politisch werden, Missstände anprangern und sich den Empörungs- und Erregungsdiskursen von Politik und Medien anschließen. Oder es kann ein realistisches Kammerspiel der sozialen Spannungen liefern und leise und präzise nach den gesellschaftlichen Umbrüchen fragen, die unter den Schlagzeilen liegen. Dafür hat sich Ülkü Akbaba mit ihrer Inszenierung des Stücks "Du schaust, und die Wolken ziehen" von Özen Yula im Eldorado, der kleine Spielstätte des Werk X, entschieden.

Homeshopping-Glücksgefühle

Betüls neues Leben kreist ums Shopping. Die Heirat mit Orhan brachte ihr Wohlstand, den sie nutzt, um die gemeinsame Stadt-Wohnung mit Handtaschen, Einrichtungsgegenständen und allerlei glitzerndem Kitsch zu füllen. Doch ihre kleine Homeshoppingwelt zerbricht, denn Orhan hat sich vor zwei Monaten das Leben genommen und lässt Betül mit einem Berg Schulden und einer bohrenden Frage zurück: Warum ist er an einem ganz normalen Tag anstatt zur Arbeit zu gehen in ein anderes Stadtviertel gefahren, um sich dort von einem Hochhaus zu stürzen?  Vielleicht kann ein Brief des Toten das Rätsel lösen, den Kaya bei Betül vorbei bringt. Kaya stellt sich als Orhans Kollege vor und lässt sich von Betül auf einen Kaffee hereinbitten.

duschaust 560 BarbaraPalffy uDer Besuch bringt einen besonderen Brief: Kenan Ece und Zeynep Buyraç spielen im Bühnenbild von Ülkü Akbaba © Barbara Palffy

Damit ist das Kammerspiel-Setting komplett: In einer Wohnung treffen sich zwei Figuren und müssen für einen Abend in psychologische Tiefenschichten hinabsteigen, um einen Selbstmord zu erklären. Der ungeöffnete Brief fungiert als McGuffin. So nannte Alfred Hitchcock solche letztendlich beliebigen Gegenstände, die genutzt werden, um die Handlung voranzutreiben. Während sich Betül und Kaya lange nicht trauen, den Brief zu öffnen, werden ihre Leben ausgeleuchtet: Die arrangierte Ehe mit Orhan wird als Ausbruch aus einer armen und gewaltsamen Familie beschrieben.

Vitale Soap-Szene am Bosporus

Betüls Shoppingmanie spiegelt die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit einer jungen Hausfrau, deren Leben immer noch auf konservativen Familienstrukturen aufbaut und die sich außerhalb davon noch keine neuen, städtischen Lebensformen erschlossen hat. Kaya erzählt von korrupten Geschäftspraktiken und Seilschaften. Außerdem erzählt er, dass sein Name Fels bedeute und sich seine Eltern demnach wohl einen harten und unbeugbaren Sohn gewünscht haben müssten.

Wer bei diesen ernsten Themen jetzt an Schwere, Weltschmerz und Selbstmarterung denkt, liegt falsch. Passend zur vitalen Istanbuler Soap- und Serienkultur, wird das alles als Komödie verhandelt und ein leichter und unterhaltsamer Ton angeschlagen.

Suche zwischen den Welten Wien und Istanbul

Transparenz ist das Leitmotiv. Passend dazu hat Akbaba zur samtenen Couchgarnitur allerlei durchsichtige Glasaccessoires gestellt. Die Wände der Wohnung werden durch einen Vorhang aus Schnüren markiert, auf den dann und wann absurde Homeshoppingszenen projiziert werden. Ansonsten nimmt sich die Regisseurin keine auffälligen Gesten heraus. Muss sie auch nicht, denn Kenan Ece und Zeynep Buyraç füllen die Suche nach Wahrheit und Offenheit mit dem nötigen Subtext.

Die Übersetzung von Akbaba schafft einen hybriden Raum des Dazwischen: zwischen Wien und Istanbul berichtet die Inszenierung vom Ringen um Selbstbestimmung in einem konservativen türkischen Milieu. Das "Erfolgsstück der vergangenen Istanbuler Theatersaison" gibt, auf Deutsch gespielt, dem Wiener Theaterpublikum einen Einblick in die zeitgenössische türkische Theaterlandschaft. Das Stück wird auch auf Türkisch zu sehen sein. Man darf gespannt sein, ob es sich ein österreichisch-türkisches Publikum erspielen wird.

Du schaust, und die Wolken ziehen
von Özen Yula
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Ülkü Akbaba, Regieassistenz: Agnes Kitzler, Produktionsleitung: Andreas Görg, Licht/Ton und Videotechnik: Martin Kaspar.
Mit: Zeynep Buyraç, Kenan Ece.

www.werk-x.at

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