Überall Kindfrauen?

von Steffen Becker

Stuttgart, 3. November 2016. Der Tag beginnt mit der Lektüre einer Schlagzeile über Kinderehen. Der Abend startet mit einem blonden Mädchen in kurzen Jeans, Mickey-Mouse-Shirt und Zopf, das eine Fanta trinkt. Hinter ihr – auf der Bühne der Stuttgarter "Lolita"-Inszenierung – steht ein sie anstarrender Mann. Er strahlt sexuelle Energie aus, er ist noch nicht alt, er sieht gut aus – und ist so fixiert auf das Mädchen, dass man im Publikum fürchten muss, dass er sich jeden Moment den weißen Anzug vom Leib reißen und sie sich nehmen werde.

Unverfilmbares Labyrinth

Dies ist einer dieser Theatermomente, in dessen Beschreibung man sich nicht vor dem Wort "Gänsehaut" schämt, weil er die Beziehung zwischen den Figuren "Lolita" und "Humbert Humbert" so drastisch wie möglich deutet. Im Begleitheft zu Christoph Rüpings Inszenierung des Nabokov-Stoffes ist eine Art Logbuch abgedruckt. Es vermischt Ereignisse aus dem Leben der männlichen Hauptrolle (die erste Liebe als Jugendlicher, die ihn nie wieder loslässt) mit Daten der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Romans. Eine solche Montage ist auch die Inszenierung geworden. Sie verarbeitet Nabokovs Drehbuchfassung für Stanley Kubrick. Der verwarf sie wegen Unverfilmbarkeit. Das Begleitheft bezeichnet sie als "labyrinthisch". Rüping lässt dieses Konzept optisch durch eine modulare Sperrholzbühne umsetzen. Sie dreht sich viel und schnell. Aus ihren Einzelteilen lässt sich die verschachtelte Villa von Lolita und ihrer Mutter ebenso zusammensetzen wie die schäbigen Motels, in denen Humpert mit dem Objekt seiner Begierde unterkommt. Größere Umbauarbeiten erledigt bei Bedarf ein alter Mercedes-Kombi, der auf der Bühne umhergeschoben wird.

lolita1 560 conny mirbach uLolita und ihre Schatten © Conny Mirbach

Mit Schnitten arbeitet Rüping auch bei der Besetzung. Lolita und Humpert werden von mehreren Darstellern gespielt, die verschiedene Sichtweisen auf die Geschichte präsentieren. Klar verteilt sind die Rollen bei der Erstbesetzung mit Peer Oscar Musinowski als jüngstem und gierigstem Humpert, der mit Jana Neumann als Konterpart ein Mädchen im tatsächlichen Alter der Lolita-Figur gegenüber steht. Missbrauch liegt in der Luft. Das Tabu der Beziehung legt Musinowski durch seine angefixte, aber nicht ins monströse abgleitende Darstellung schonungslos offen. Den Gegenentwurf liefert Andreas Leupold. Er begehrt gequält, gebeugt und im Verlauf zunehmend verwahrlost – provoziert von Svenja Liesau. Lolli-lutschend räkelt sie sich auf Beifahrersitzen, Betten und Humperts Schoß und genießt ihre Macht. Dann übernimmt mit Paul Grill und Matti Krause ein Jekyll- und Hyde-Duo, das sich auf der Flucht mit einer weiteren Lolita (Julischka Eichel als bockige Göre) mit Eifersuchtsausbrüchen und weinerlichen Besänftigungen abwechselt.

Adäquat drastisch

Die einzelnen Abschnitte sind nicht scharf getrennt. Ähnlich wie die über die Bühne flatternden Textblätter vermischt sich die Szenerie immer stärker. Gegen Ende des Abends spielen dann alle gleichzeitig ihre Rollen. Aus den Boxen erklingt eine Variante des Popsongs "Moi, Lolita". Der hatte in jüngerer Vergangenheit das Klischee der sexy Kindfrau reproduziert. Auf der Bühne dagegen montiert, ist die Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit der Rollenverteilungen und Deutungen. Dass dieses Geflecht nicht überfordert, verdankt die Inszenierung einem gut eingespielten Ensemble. Schnitte und Übergänge klappen reibungslos. Die krankheitsbedingte Verschiebung der Premiere hat der fiebrigen Atmosphäre auf der Bühne womöglich sogar gut getan.

Auch Überraschungen wie die kurzfristige Umbesetzung der Mutterrolle durch Birgit Unterweger bringen "Lolita" nicht aus dem Takt. Im Gegenteil. Unterweger setzt mit der exaltierten Darstellung einer Witwe, die ihre Reize unbedingt noch mal an einen neuen Mann bringen will, einen Grundsound, der Lolita zusätzlich aus der schwülstigen Kindfrauen-Ecke holt. Die sexualisierte Atmosphäre, die das Balzen der Mutter schafft, ist unangenehm und nimmt auch der Begegnung von Humpert und Lolita (in jeder Konstellation) die Anmut des Harmlos-Spielerischen. Was die Popkultur am Tabu niedlifiziert hat, bringt die Inszenierung durch das Graben im Labyrinth des Textes mit adäquater Drastik auf die Bühne.

 

Lolita – ein Drehbuch
von Vladimir Nabokov
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Musik: Christoph Hart, Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Julischka Eichel, Paul Grill, Matti Krause, Andreas Leupold, Svenja Liesau, Peer Oscar Musinowski, Malwine Lauxmann,  Jana Neumann.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (4.11.2016) erlebte einen "in seiner Konzeptlosigkeit fast unerträglichen, drei Stunden weilenden Abend". Rüping nähere sich dem komplexen Stoff "treuherzig naiv" und mit "kokett ausgestellte(r) Unbedarftheit". "Konventionell, aber völlig orientierungslos turnt er sich durch den Plot des Romans, ohne auch nur ein Argument zu liefern, weshalb man das Prosawerk überhaupt auf die Bühne bringen sollte." Die Inszenierung stehe nicht mal "auf eigenen Beinen". Wer den Plot nicht kenne, verliere sich hoffnungslos im Dickicht der Figuren und Orte. "Mit diesem Saisonauftakt hat der Intendant Armin Petras nichts gewonnen. Sein Schauspielhaus steckt tiefer in der Krise denn je."

"In Rüpings' postheroischem Regietheater gibt es keine kohärenten Figuren, sondern viele sich widersprechende, an den Rändern ausfransende Konzeptideen", schreibt Martin Halter von der FAZ (5.11.2016) "Das alles ist aufwendig und stellenweise kühn gemacht, postheroisch und postdramatisch gedacht, aber der Blick hinter die Filmkulissen lässt dennoch kalt. Will man wirklich drei Lolitas auf der Bühne sehen, wenn man im Roman alle in einer haben kann?"

"(Z)unehmend viel Geschrei und Zeitvertreib im zunehmend zerfleddernden Bühnengeschehen“ erlebte Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (8.11.2016). Es fange fabelhaft an, ende aber in heilloser Beliebigkeit. "Auch wer Christopher Rüping als Regisseur vertraut, weil er probiert, wagt, gewitzte Konzepte in sinnliches Theater setzen kann, steht diesmal vor einer Herausforderung."

Christopher Rüping schaufele "die Story von allen überlagernden Ikonisierungen frei und setzt ausschließlich das Drehbuch in Szene – was gleich mal ein Pluspunkt seiner Annäherung an 'Lolita' ist", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest-Presse (5.11.2016). "Denn auf diese Weise wird die langsame Entwicklung einer Obsession – die Fixierung des Literaturdozenten Humbert auf so genannte 'Nymphetten', wie er sie nennt – erst deutlich, ganz zu schweigen von der ästhetischen Dimension des Textes." Zudem verzichte Rüping "fast ganz auf Szenen, in denen Sexualität ausgestellt wird – ein weiterer Pluspunkt." Rüping habe so "fast alles richtig gemacht – und eine diskutable, ernsthafte und doch inspirierte Realisierung des Nabokovschen Drehbuchs geliefert."

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