Alles kann im Leben passieren, vor allem nichts

von Daniela Barth

Hamburg, 30. April 2008. Geplättet ob der seltsam bedeutungslosen Schwere jener live kongenial gespielten Szenen der Verfilmung eines Romans, nein, des Romans an sich, nämlich Rocko Schamonis Autobiographie "Dorfpunks", im altehrwürdigen Hamburger Schauspielhaus (zur Wiederholung: im Schauspielhaus!); betört vom Gestank jener seltsam treibenden Blüten der Studio-Braun-Gewalt; gefangen, eingewickelt und gewürgt von jenem seltsam wuchernden Schlinggewächs psychedelischen Humors; angepiekst von jenem seltsam giftigen Stachel der ästhetischen Anarchie stellt sich nunmehr die Frage: darf man, kann man darüber schreiben? Besser nicht. Schlechterdings doch. Als Versuch, in Worte zu fassen, was der Geist (gemeint ist hier der Verstand, der – äh – vernünftige Verstand) noch nicht verarbeitet hat.

Jung sein heißt Faust sein

Dabei war der Anfang des Anfangs noch so schön anbiedernd normal. Als Leinwand-Projektion ein Filmvorspann. Und dann: der "beste Anfang, der je aus einem Gullydeckel heraus gespielt wurde". Ein kahlköpfiger, reimender Affe (die wirklich hässlichste Puppe von ganz Hamburg) begeifert das Publikum in mephistofelischer Manier. Bravo. Wo bleibt der jugendliche Faust? Nichts da! Nun folgt der Auftritt von Studio Braun höchstselbst in Form der Herren Jacques Palminger, Heinz Strunk und Rocko Schamoni.

Das Regie-Dream-Team lässt es sich nicht nehmen im Marilyn Monroe Look mit Fliegerbrille zu neunt – will heißen jeder des Trios hat sich selbst zwei mal als Puppen auf den Händen – seinen Ansatz zu erläutern. Aber das tut man doch nicht! Wie schön hätte man als Kritiker schreiben können: "Schauspielhaus wurde zur einfachen Kasperlebude runtergedampft!" oder: "Studio Braun verweigert sich mit einem radikal anarchistischen Ansatz den großen theatralen Mitteln." Stattdessen muss man das hier als Zitate wiedergeben! Grandiose Unverschämtheit. Studio Braun eben. Und noch mehr.

Alltag im Hamburger Speckgürtel

Denn es gibt dann doch auch richtiges Theater. Mit realistischem Bühnenbild (Damian Hitz): die norddeutsche Kleinstadt Lütjenburg beziehungsweise ein Teil davon. Typische Rotklinker-Bauten als Mikrokosmos der kleinbürgerlichen Spießigkeit, die nach dem Lego-Prinzip funktionieren, aufklappbar und hin und her schiebbar, um diverse Räume zu öffnen, die "Disco Schröder" zum Beispiel oder das Jugendzimmer des "Antihelden" namens Sören (Felix Kramer). Alltagszenen werden in ausgeklügelter Choreographie nach dem Prinzip "Und täglich grüßt das Murmeltier..." umgesetzt.

Eine Waldlandschaft mit Autobahnbrücke als quasi makrokosmische Kulisse für Sörens alias Roddys, dem SH-Punkbandmitglied "Scheiße aus Lütjenburg" (SH steht für Schleswig Holstein), LSD-Trip. Bis auf die Unterhose nackt an einen Jägerstand gefesselt fantasiert hier der Dorfpunk eine überdimensionale sprechende Schnecke und einen riesigen Puppenkopf sowie – man mag es kaum glauben – Matthias Rust, der nicht nur auf dem Roten Platz in Moskau landet, sondern auch in die Zwillingstürme in NY fliegen wird... und derlei Absurditäten mehr.

Wo wird man sein Dorf los?

Der Plot im Ganzen ist simpel und gar nicht überraschend. Pubertierende, die Anfang der 1980er Jahre aus der anödenden Kleinstadt-Idylle ausbrechen. Die im wahrsten Sinne des Wortes vom stinkigen (Punk)Affen gebissen werden – im übertragenen Sinne wohl die innere (böse, böse!) Stimme der Heranwachsenden, die sie dazu bringt, sich einer Jugendbewegung anzuschließen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt (jedenfalls nicht mehr im Ursprungsland England). Egal.

Aufbegehren gegen die Erwachsenen, die drohen: "Ihr spuckt auf den Boden, den wir euch gekachelt haben ..., eure Verweigerungshaltung drängt uns zu drastischen Maßnahmen: wir werden euch dichtkacheln..." Nichts wie weg ... als Punkmusiker ... nach Hamburg! Die Quintessenz dieser 80er-Jahre-Schose: "Dein Dorf trägst du immer mit dir rum" respektive die Mahnung von Sörens so wunderbar scheißefluchender Bilderbuch-Mama (Heinz Strunk): "Wenn du dich nicht sehr beeilst, dann verspätest du dich grotesk!" 

 

Dorpunks – Die Blüten der Gewalt
nach dem Roman von Rocko Schamoni
Regie: Studio Braun (Jacques Palminger, Heinz Strunk und Rocko Schamoni), Bühne: Damian Hitz, Kostüme: Dorle Bahlburg, Choreographie: Rica Blunck, Puppenbauer: Thomas Klemm, Video: Marcel Didolff, Peter Stein.
Mit: Studio Braun, Achim Buch, Stephan "Partyschaum" Cay, Felix Kramer, Marie Leuenberger, Hagen Oechel, Jens Rachut, Jana Schulz, Tristan Seith. Musiker: Lieven "Las Vegas" Brunckhorst, Carsten "Erobique" Meyer, Matthias "Tex" Strzoda, Puppenspieler Philipp Pleßmann.

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (2.5.2008) schreibt Till Briegleb: "Theaterpunks" sei die treffende Bezeichnung für all jene, die, wie Schorsch Kamerun, Christoph Schlingensief, Rene Pollesch oder eben Studio Braun "mit einer unglaublichen Begeisterung für Verkleidungen ihr altes stachliges Weltbild in eine ironische Kunstsprache gerettet haben". Die munter sprudelnde, alberne Phantasie der drei Regisseuren von "Dorfpunks"  lasse Schamonis "trist-komische Originalerzählung" auf der Bühne wirken, als sei "die Augsburger Puppenkiste auf LSD". Die "eigentlichen Erzählbrocken" gäben nur den "Kitt für immer neue groteske Vergrößerungen von Klischees und Hohlformeln." Nur wenn die "Klischeevorlagen" nicht mehr "getopt" werden könnten, verebbe das "Kasperletheater" vorübergehend. Nena-Parodien oder Chefs, die ihre Angestellten befummeln, fehle einfach das Potential zur überraschenden Satire. "Doch wenn die mitgebrachten Nichtschauspieler und die drei Kostümpunks selbst hemmungslos werden und sich um keine Theaterkonvention mehr scheren, gelingt Studio Braun eine ansteckende Satire auf den Erlebniszwang und die Depressionen im globalen Dorf."

In der taz (2.5.2008) schreibt Julian Weber: "In 'Dorfpunks' ist die große Konfusion in der Provinz eingefangen. Songs aus der Hitparade stehen neben linksradikalem Protestgut, vor der Modelleisenbahn-Kulisse wird Speed gezogen. 'Anarchos, hieß die Losung der Hellenen', deklamiert eine Punk-Affen-Marionette und schneidet Sören und seinen Kumpels die Haare ab. Die gründen die Band 'Scheiße aus Lütjenburg' und tauchen ab in eine finstere Waldwelt unter einer Autobahnbrücke." "Dorfpunks" bewege sich in choreografischem Neuland, "irgendwo zwischen Spagettiwestern-Atmosphäre, Musikrevue und dem verdrogten Um-Kopf-und-Kragen-Reden eines Lenny Bruce."

Auf Welt online (1.5.2008) schreibt Matthias Heine, bei vielen, die keine Ahnung hätten, gelte Theater noch immer als elitär. Dabei mühe sich das Stadttheater bis an die "Grenzen der Selbstaufgabe" immerfort, "Maler, Migranten, Filmemacher, Behinderte, Popmusiker, Unterprivilegierte" zum Mitmachen zu überreden. Und bekämen diese "Theaterfremden"  erst einmal den Bühnenapparat in die Finger, wollten sie ihn am liebsten gar nicht mehr hergeben. So zu sehen bei der Begeisterung von Studio Braun für Apparate und Kostüme. Schamonis autobiographischer Roman über eine Punkjugend in der Holsteinischen Schweiz werde "nicht brav nachbuchstabiert, sondern sehr frei neu erzählt". Genau genommen handelt es sich um eine "heimliche 'Faust'-Paraphrase". Den Prolog spreche die Affenpuppe in goetheschen Knittelversen und die Dorfdisco 'Schröder' sei eindeutig identisch mit Auerbachs Keller. "Auch sonst ist diese Inszenierung bildungsgesättigt: Die Szene, in der Sören vom Obertöpfermeister Paco di Luscha (Rocko Schamoni) die Sinnlichkeit des Töpfern demonstriert bekommt, spielt gleichzeitig auf den Achtziger-Liebesfilm 'Ghost' und auf dessen Verhohnepiepelung in 'Die Nackte Kanone 2 ½' an. Und wer weiß heute schon noch, dass 'Schneid dir die Haare bevor du verpennst!' ein genialer Slogan des Fehlfarben-Sängers Peter Hein war?" Die Aufführung sei "komisch", "bunt", aber auch "tiefsinnig" und "voller Sprachwitz" und am schönsten, wenn Musik im Spiel sei.

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