Wie der Hase vor der Schlange

von Claude Bühler

Basel, 4. November 2016. Gerade jetzt läuft hierzulande wieder ein Werbespot im Fernsehen, der eine Musterfamilie in der Küche zeigt; Immer wieder hängt sich der Regisseur aus dem Off rein, um die Szene wegen falschem Text oder verfehlter Mimik wiederholen zu lassen. Genau diese Situation hat der Schweizer Jungautor Philippe Heule zu einem eineinhalbstündigen Schauspiel ausgeweitet und auch das "Leben" der Musterfamilie auf eine Dauer von 15 Jahren ausgedehnt.

Eingesperrt in der Scheinwelt

Der Zeitpunkt, wo wir als Publikum dazu stoßen, ist bereits kurz vor Produktionsstopp. Da wird in den Aufnahmepausen zwischen den verschiedenen Spots enthüllt, dass die professionelle Musterfamilien-Realität die realen Identitäten von Papa und Mama über die Jahre hinweg zerrüttet hat. Bei Tochter Moni und Sohn Maxi haben sich Identitäten überhaupt nur in Ansätzen entwickelt. Es geht uns wie dem TV-Zuschauer: Man sieht diese Leute immerzu als Familie, ein anderes Leben abseits des Sets kann man sich gar nicht vorstellen. Sie sind eingesperrt in der Werbescheinwelt.

Retten2 560 Simon Hallstroem uDie neoliberale Idealfamilie: das Ensemble im Bühnenbild von Viva Schudt © Simon Hallström

Zum Topos des Käfigs, wo sich wie bei Sartres "Geschlossene Gesellschaft" alle gegenseitig fertig machen, kommt der Thrill der Gespaltenheit. Mit Gelächter quittiert das Publikum das Pathos der Lebenslüge, wenn Mama, "hauptberuflich Schauspielerin", hervorstößt: "Meine Seele ist im Kino, während mein Körper Werbung macht." Moni ("Ich heiße nicht Moni!") will aussteigen. Aber wohin? Maxi will auch raus – und fürchtet sich gleichzeitig davor, wegen seiner (realen) Drogensucht rausgeschmissen zu werden. Vollends die paradoxe Bewegung macht Papa, der sich einbildet, sich in seine langjährige Werbespot-Ehefrau verliebt zu haben, die er eigentlich verachtet. Hilflos zappeln die Opfer in Heules Hölle, in der eine heile Welt produziert wird.

Und diese ist fieser als bei Sartre. Denn der im Programmheft als "Schöpfer" bezeichnete Produzent, der sich nur aus dem Off meldet, ist als Marktgott ein Allesausbeuter. Da wird sogar der handfeste Mutter-Tochter-Krach, den wir anfangs für real halten, zur verwertbaren Performance, alles Menschliche also zum Produkt, das "Mama" und "Moni" frei Haus liefern. Zum Gaudi des Publikums übrigens, wenn etwa Mama die Haare der Tochter an der Kulisse festknotet.

Wenn man nun glaubt, den Kniff des Stücks begriffen zu haben, und dass die Hölle sich wohl ewig fortsetze, verkündet der "Schöpfer" das Aus der Produktionsfirma. In die allgemeine Irritation schickt Heule die Mephisto-Figur Moritz, die die "professionelle Familie" zunächst mit Einfühlsamkeit, dann diktatorisch zusammenhält und erneut auf Verwertbarkeitskurs bringt. Wie beiläufig gelingt es ihm, dem verängstigten Haufen, fremdenfeindliche Sentenzen einzuträufeln und auch wieder zu entlocken: die Angst im Neoliberalismus als Nährboden für Rechtspopulismus.

Das Elend der modernen (Werbe-) Welt

Soweit so politisch linear, wenn das Stück nicht vom Schwanzende her sein Anliegen wieder selber anfräße. Denn so leicht konsumierbar wie eine Sitcom, so versiert als Einzeiler-Pointen-Geballere ist das Stück geschrieben, dass sich das Publikum von Anfang bis Ende hörbar bestens unterhält. Dass das hohe Tempo der Wortduelle zuweilen in Hast überschlägt, gelegentlich Silben verschluckt werden, macht das Stück im Eindruck zusätzlich oberflächlicher als es ist, auch weil die Inszenierung von Felicitas Brucker immer wieder in Klamauk verfällt.

Retten3 560 Simon Hallstroem uOpfer des TV-Terrors: Nicola Fritzen und Nicola Kirsch © Simon Hallstroem

Es ist zweischneidig, dass die hermetische Abgeschlossenheit der Werbewelt und der Werbefiguren keine Bruchstelle kennt. Inhaltlich verständlich, denn niemand kann da raus, heißt: Wir alle sind gemeint. Kommunikativ problematisch, denn wir sehen wohl, der Familie wird übel mitgespielt, aber es sind die Figuren einer schrillen und künstlichen Welt, die man fast zu leicht von sich weisen kann. Deren Untiefen man kaum erlebt. Es bleibt unklar, ob es eine andere, nackte Seite überhaupt gibt oder gegeben hat. Da bricht nichts Unerwartetes hervor.

Was einem aber wehtut und woran das differenziert aufspielende Ensemble großen Anteil hat: dass die Figuren, durchaus sensibel, immer wieder nüchtern ihre Lage erkennen. Aber sie bleiben innerlich erstarrt wie der Hase vor der Schlange, können im durch Angst angetriebenen Produktionsdruck keine realistischen Ansätze zu Alternativen nennen, ja nicht mal wahrnehmen. Kommt einem das nicht bekannt vor, wenn man sich die Lage vieler Menschen ansieht? So gesehen hat Philippe Heule einen unangenehmen und präzisen Bericht zum Zustand der globalen Nation gegeben. Schematisierend vielleicht, aber tauglich als Diskussionsanstoß, den man ernst nehmen muss.

 

Retten, was zu retten ist
von Philippe Heule
Uraufführung, entstanden im Rahmen des Autorenförderprogramms Stück Labor Basel
Inszenierung: Felicitas Brucker, Bühne: Viva Schudt, Kostüme: Benjamin Burgunder, Musik: Patric Catani, Licht: HeidVoegelinLights, Dramaturgie: Constanze Kargl, Ewald Palmetshofer.
Mit: Nicola Fritzen, Mario Fuchs, Florian Jahr, Nicola Kirsch, Leonie Merlin Young.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Auf www.tageswoche.ch schreibt Dominique Spirgi (5.11.2016): Heule habe eine "Dauer-Werbe-Soap" geschaffen, welche die Familie "fast das ganze Leben begleitet". Es werde "rasch klargemacht", dass die Zuschauer sich "einem Abbild einer grotesken Inszenierung aus der Welt der Werbung" gegenüber sähen. Aus der Zerrissenheit der Figuren schöpfe der mit "lakonischen Wortpointen durchwirkte Text" seine "Spannung". Die Pointen säßen, das Spiel sei "ausgesprochen unterhaltend", der Abend spiele sich "leichtfüssig" ab, so leichtfüssig allerdings, dass sich "die Einblicke in diese groteske und eigentlich schreckliche Welt" sich letztlich zu einem "Plätschern" besänftigten. Es scheine, als ob "die Beteiligten die Handbremsen nicht ganz gelöst haben".

"Theater als gelungene Parabel auf die Jetzt-Zeit hält uns den gesellschaftlichen Spiegel vor, ohne vordergründig politisch zu sei", jubelt Anja Wernicke von der Basellandschaftlichen Zeitung (7.11.2016) über den Abend. Heules Text hält sie für eine "gelungene Zuspitzung der neoliberalen Konsumgesellschaft, die sich auch mangelnden Alternativen selbst imitiert und gleich noch parodiert".

Stephan Reuter von der Basler Zeitung (7.11.2016) schreibt, Heules Dialoge "haben Witz, die haben Tempo, und doppelte Böden haben sie auch". Das Stück nehme aber leider eine krude Wendung, mit der auch Regisseurin Brucker ihre erzählerische Not habe. Komisch sei das dann nicht mehr. "Auch nicht absurd. Eher unausgegoren. Und am Ende eine leise Enttäuschung für ein Stück mit so starker Ausgangslage."

"(W)o die Werbe-Parodie ins Politische kippt, verliert das Stück etwas an Drive. Auch der Regie fällt nicht mehr viel ein", heißt es in der Oberbadischen (9.11.2016). So bleibe vor allem die erste Hälfte im Gedächtnis haften, in der die absurde Komik des Texts "wunderbar" umgesetzt worden sei. Dieser erste Teil sei "so hinreißend" inszeniert, dass er die Schwächen des letzten Drittels spielend aufwiege.

 

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