Das große Daten-Katzen-Fressen

von Reingart Sauppe

Saarbrücken, 6. November 2016. Genau genommen dürfte diese Kritik gar nicht erscheinen. Denn das Stück beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem die Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf der schwarzen leeren Bühne verlesen werden. AGB 5 der Autorin Zeller lautet: "Mit dem Kauf einer Eintrittskarte verpflichten sich die Zuschauer beim Verlassen des Veranstaltungsortes sämtliche während der Aufführung zur Aufführung gebrachten Inhalte vollständig zu vergessen. Die Wiedergabe des in der Aufführung Gesehenen und Gehörten ist auch in eigenen Worten strafbar."
Ein kalkulierter Gag, weil erwachsene Zuschauer sich in der Sicherheit wiegen, dass eine Theaterbühne zwar ein analoger, also realer Ort, ein Schauspiel aber so fiktional und damit folgenlos für ihr Leben ist wie ein Computerspiel. Doch was, wenn diese Alltags-Gewissheiten, diese Annahmen nicht mehr stimmen?

In der Netzgesellschaft

Längst haben sich in unserer digitalen Welt, in der unsere Lebensäußerungen unbemerkt gesammelt und ausgewertet werden, die Grenzen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem verwischt, verschmelzen Virtualität und Realität zur virtual reality. Diese Ungewissheiten sind der Ausgangspunkt für Zellers Parforceritt durch die Bedrohungen der Netzgesellschaft, in der vier ahnungslose WG-Bewohner zu angstgetriebenen, paranoiden und schließlich wehrlosen Opfern einer dubiosen Spitzelmacht werden.

analoger bruder 560 thomas m jaukDie Digitals Barbara Behrendt, Cino Djavid, Yevgenia Korolov, Niko Eleftheriadis in Saarbrücken vor Indra Naucks übergroßem Mikado  © Thomas M. Jauk

In Felicia Zellers Analyse unserer heutigen Mediengesellschaft taucht "Big Brother=Big Data" als der "große analoge Bruder" mitsamt seinem "verfickten Kater" in einer WG auf. Zeller ist nicht die erste, die diese Idee durchspielt. Hermann Schmidt-Rahmer ließ 2015 am Schauspiel Essen für seine Mediensatire "Ich habe nichts zu verbergen - Mein Leben mit Big Data" ein gefräßiges Riesenbaby die Daten der Familie auswerten.

Auf dem Sofa

Sie könne sich vorstellen, schreibt Felicia Zeller als Regieanweisung, dass das Bühnenbild dem Studenten-WG-Wohnzimmer aus der amerikanischen TV-Serie "Big Bang Theory" gleiche. In einer solchen gemütlichen Polstersofa-WG soll also eines Tages ein Typ zweifelhafter Herkunft auftauchen, der für den Leser schnell als der Big-Data-Bruder zu identifizieren ist. Er macht sich unentwegt Notizen, hinterlässt dafür begehrte Zeitschriften und bietet kostenlose Chauffeurdienste an. Später stellt er einen Mietrabatt und andere Annehmlichkeiten für die Beantwortung einiger Fragen in Aussicht, und schließlich schleust er seinen gefräßigen Kater ein, der den Job des Datensammelns übernimmt und die WG so vollständig unter seine Kontrolle bringt. Das klingt ein bisschen nach Kasperltheater.

Unter Kafkas dunkler Sonne

Aus dem vergnüglichen WG-Abend und einer unterhaltsamen Satire auf die Generation der digital natives, die sich von Facebook, Google und What‘s App um den Finger wickeln lässt, wird aber nichts. Marie Bues inszeniert die Geschichte vom freundlichen Couch-Surfer und dessen gefräßigem Kater als düstere, kafkaeske Parabel über eine Gesellschaft, in der Individuen zu gefühlsarmen, orientierungslosen Mediensklaven degenerieren, die schließlich selbst so ferngesteuert agieren wie ihre nur künstlich intelligenten Zeitgenossen.

AnalogerBruder 2 560 thomas m Jauk uCino Djavid, Yevgenia Korolov, Niko Eleftheriadis, Barbara Behrendt © Thomas M. Jauk

Dafür schickt sie die vier WG-Bewohner (Barbara Behrendt, Cino Djavid, Niko Eleftheriadis, Yevgenia Korolov) auf die leere schwarze Bühne. Eiserne halbhohe Absperrgitter bilden ein Halbrund, kalte Neonröhren beleuchten schwach die Szenerie. Die vier setzen sich große Computerbrillen auf, doch digitale Geräte sieht man hier ebensowenig wie den dubiosen WG-Gast Alec, über den nur fortwährend geredet wird. Allein der Kater tritt als riesiger quietschrosa-weißer, an eine japanische Manga-Comic-Figur erinnernder Katzenkopf aus Pappmaschee bedrohlich in Erscheinung.

Atemlos im Diskussionsyoga

Marie Bues lässt in ihrer minimalistischen Inszenierung bewusst vieles im Unklaren und erhöht mit Kalkül die Irritation beim Publikum. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Zellersche Sprache. Zellers Sätze sind meist fragmentarische Textbausteine, die sich wiederholen, widersprechen, unterbrechen, assoziative Haken schlagen und immer wieder anders zusammengesetzt werden. Dialoge werden mal vor und mal zurückgespult: Willkommen in der Grammatik der kurzen, schnellen Tweets und oberflächlichen Facebook-Posts.

In atemloser Sprechgeschwindigkeit erörtern die Figuren Annahmen, Verdächtigungen, Anschuldigungen, Beschwichtigungen und Verschwörungstheorien in einer Art sinnlosem "Diskussionsyoga". Soll man seine Daten an den Unbekannten ruhig weitergeben, weil es doch schön ist, wenn sich endlich mal jemand für einen interessiert? Welche Nachteile sind zu befürchten, wenn man sich dem Ausspionieren privater Gewohnheiten widersetzt? Und macht es überhaupt noch Sinn, die Datenkatze mit Gewalt loszuwerden, wenn andere WG-Mitglieder längst seine Kontrollfunktion freiwillig übernommen haben und Informationen weitergeben? Zeller tippt in ihrer atemlosen Textcollage die Absurditäten einer erbarmungslosen, auf Kontrolle, Selbstoptimierung und Effizienz setzenden Gesellschaft an, bis sich auch beim Zuschauer das Aufmerksamkeitsüberforderungssyndrom einstellt und man sich nach der Reset-Taste sehnt.

Keine Zeit zum Luftholen

Als treffendes Sinnbild dieses dauerbeschleunigten, komplizierten Lebens, in dem es keine Sicherheiten, sondern nur noch Möglichkeiten und fragile Konstruktionen gibt, erfindet Bühnenbildnerin Indra Nauck ein übermannshohes Mikadospiel, über dessen Stäbe die Spieler klettern müssen, ohne die Balance zu verlieren. Immerhin das zwingt zeitweise zur Entschleunigung. Ungewohnt selten blitzt dagegen der Humor von Felicia Zeller in dieser hoch verdichteten, mitunter aber angestrengt wirkenden Inszenierung auf. Das liegt nicht an den Schauspielern, denen es in kurzen Momenten durchaus gelingt, die naive Deformiertheit ihrer Figuren auszuspielen. Doch als gehetzte Sklaven der digitalen Leistungsgesellschaft bleibt ihnen kaum Zeit zum Luftholen. Marie Bues versucht in ihrer Inszenierung, dieses Tempo durchzuhalten. Mit bewundernswerter Konzentration agieren die vier Darsteller zunehmend roboterhaft - ein durchaus gewollter und nachvollziehbarer Effekt.

Wenn der Text dann aber auch noch den Bogen zu menschenverachtenden Praktiken politischer Spitzeldiktaturen thematisiert, gerät die Inszenierung an ihre Grenzen. Zu abstrakt, zu fern, zu oberflächlich schweben diese Berichte, die durchs Mikrophon gesprochen und durch akustische Verdoppelungen zusätzlich verfremdet werden, als Metaebene über dem WG-Geschehen. Klar wird allerdings: Eine Flucht aus der Internetdiktatur gibt es nicht. Damit endet der Abend nach intensiven 100 Minuten in tiefstem Kulturpessimismus und dem Gefühl, dass die digitale Welt ein unbehauster Ort ist, auf dem menschenwertes Leben nicht gedeihen kann. Gerne würde man am Ende wissen, wie Zellers Textfragment "Ich, dein großer, analoger Bruder, sein verfickter Kater und du" von den heute 10-jährigen einmal inszeniert werden wird ...

 

Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du
von Felicia Zeller
Auftragswerk in Koproduktion mit dem „Theater Rampe“ Stuttgart
Uraufführung
Regie: Marie Bues, Bühnenbild und Kostüme: Indra Nauck, Dramaturgie: Bettina Schuster-Gäb.
Mit: Barbara Behrendt, Cino Djavid, Niko Eleftheriadis, Yevgenia Korolov.  
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.saarland

 

Kritikenrundschau

Esther Brenner schreibt auf der Website der Saarbrücker Zeitung (8.11.2016): Zeller habe ihren "kalauernden Sound" abgeschwächt, "ihren Stakkato-Stil aus unvollendeten Sätzen, Wiederholungen und Leer-Floskeln radikalisiert". Aber das Stück liefere nur "Szenen-Fetzen", "halbgar und inhaltlich schütter". Marie Bues richte ein "nicht sehr aussagekräftiges Kunstreich" ein für "wenig tiefgründiges 'Diskussions-Yoga' ". Minimalismus ersetze szenische Phantasie: "Keck, kühn oder crazy ist hier nichts." Trotzdem langweile Zellers Wohngemeinschafts-Überwachungs-Thriller nicht. Das liege an der "überzeugenden darstellerischen Leistung". Zeller habe "ihr Potenzial nicht ausgeschöpft" und die Regisseurin finde sich zu sehr damit ab.

Cornelia Fiedler von der Süddeutschen Zeitung (9.11.2016) schreibt, die "wortgewandte Zeitdiagnostikerin Felicia Zeller" habe ohne erhobenen Zeigefinger ein zentrales Dilemma der Big-Data-Ära greifbar gemacht: "Das angesagte, blauäugige Nichts-zu-Verbergen-Haben ist ein Luxus. Leisten kann ihn sich, wer in einer einigermaßen stabilen Demokratie lebt." Die WG-Komödie werde zum Politthriller. Regisseurin Marie Bues inszeniere die Uraufführung als "Wort-Hürdenlauf in Hochgeschwindigkeit".

Kommentare  
großer, analoger Bruder, Saarbrücken: wussten wir das nicht schon?
"Damit endet der Abend [---------] in [...] dem Gefühl, dass die digitale Welt ein unbehauster Ort ist, auf dem menschenwertes Leben nicht gedeihen kann."
Das wüssten wir alle schon vorher, oder? Also, was nutzt es, sowas auf die Bühne zu bringen?
großer, analoger Bruder, Saarbrücken: was wollen wir beitragen?
Ich finde es total wichtig, das auf die Bühne zu bringen. Denn wir wussten das ja alle schon ... aber machen wir es uns auch bewusst? Haben wir die Auswirkungen und Konsequenzen auf dem Schirm? Was können und wollen wir beitragen um das System zu gestalten, zu verändern...?
großer, analoger Bruder, Saarbrücken: Eigenbeitrag
Wenn es so wichtig ist, das auf die Bühne zu bringen, sagen Sie, Marita, was du, zum Beispiel, beitragen willst um das System zu gestalten, zu verändern....oder hat der Abend dir auch ratlos gemacht?
Wenn so....
Ich, dein großer, analoger Bruder ..., Saarbrücken: vergeudetes Thema
Ich finde das Stück ziemlich schlecht. Die Aussage der zunehmenden Verstrickung ins worldwide web bleibt im Stakkato der Sätze völlig unklar. Autorin und Regisseurin überfordern das Medium Theater, wo eben nichts nochmal nachgelesen werden kann. Die Idee mit den Mikadostäben wirkt künstlich aufgesetzt und trägt nichts zur Aussage bei. Schade: Ein gutes Thema wird hier leider vergeudet.
großer, analoger Bruder, Saarbrücken: Unterdrückungsregime
Das Leitmotiv des Zitierens, des Zurückspielens des Gesagten (oder Getweeteten) als Waffe gegen seinen Urheber, das webgerechte Spiel aufs Wiederholung und Zurückspulen: Das Unterdrückungsregime als Alleswisser, Aufzeichner, das Individuum-gegen-sich-selbst-Wender – ist es wirklich so weit weg von den Facebooks und Googles und Amazons und ihren auf dem gleichen Grundprinzip beruhenden Dienstleistungsversprechen? Man muss Zellers etwas pessimistischen Schlussfolgerungen nicht teilen, um die Gefahr zu erkennen, die sich aus der Ambivalenz des Datenzeitalters ergeben. Unternehmen, die ihre Kunden genauestens kennen möchten und Regimes, die alles über ihre Untertanen wissen wollen, gab es immer. Doch heute haben sie die Mittel, ihre Ziele umzusetzen. Und diese Mittel sind, das lässt sich kaum bestreiten, die gleichen. Bues’ Uraufführung verfolgt diesen Strang bis zum bitteren Ende. Das hat Nachteile: Zellers spielerischer Humor kommt deutlich zu kurz, das exzellente Ensemble lässt ihn nur selten aufblitzen – etwa in der schönen exemplarischen Möglichkeitsgeschichte der sich immer irrsinnigeren narrativen Schleifen entgegen steigernden Geschichte der Zerstörung einer Lavalampe.

Über weite Strecken hinweg lässt Bues vielmehr Zellers Fragmentsprache in maschinengewehrartigen Salven ins Publikum feuern, ein äußerst anstrengendes Dauerfeuer, das den Raum verdüstert, den Zuschauer zuweilen aber auch überfordert – bis hin zum zeitweiligen Abschalten. Das ist denn streckenweise ein wenig viel des Guten, kippt mitunter ins arg Plakative, lässt den Zeigefinger nicht immer unten. Es tut auch dem Text nicht durchgängig gut: Zellers elliptische Sprachbruchstücke knallt Bues auf die Bühne, als wären es die wilden Assoziationsspiralen Elfriede Jelineks, eine Parallele, bei der Zeller nur verlieren kann. Und doch wirkt der dystopische Furor dieser konsequent den Text zu Ende denkenden Inszenierungen, überträgt sich seine düster klaustrophobische Paranoia auf das Publikum, das ob der zu sehenden grotesken Überspitzung gern lachen würde, doch sich selbst immer wieder in die Parade fährt, die Selbstbeobachtung des Stückes aufnehmend. Denn Alec wohnt samt Kater natürlich auch bei uns. Ihn abzuweisen, ist längst zu spät.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/02/05/katerstimmung/
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