"Die Kammerspiele haben nichts mit dem HAU zu tun"

12. November 2016. Seit einer Spielzeit ist Matthias Lilienthal Intendant der Münchner Kammerspiele – und so gespannt er erwartet worden war, so streng waren von Anfang an seine Kritiker*innen. Nachdem jüngst eine große Inszenierung abgesagt worden ist und drei prominente Schauspielerinnen ihren Abgang aus dem Kammerspiele-Ensemble verkündet haben, wird das Reden von einer Krise immer lauter. Simone Kaempf hat Matthias Lilienthal dazu befragt.

nachtkritik.de: Die Münchner Kammerspiele füllten gestern die komplette Seite 1 des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung. Das hat's vermutlich lange nicht gegeben. Der Hauptvorwurf lautet, dass Sie an den Kammerspielen das Berliner HAU machen würden und das nun in München wirke, als seien Sie auf der Höhe ihres Ruhms stehen geblieben.  

Matthias Lilienthal: Auf Seite 4 des Politikteils gibt es noch einen weiteren Text, in dem sich Feuilletonchefin Sonja Zekri für ein Theater der Auseinandersetzung einsetzt. Die verschiedenen Artikel und ihre Sortierung sind schon interessant. Christine Dössel bringt sehr deutlich ihre Unzufriedenheit mit der ästhetischen Ausrichtung zum Ausdruck, Christopher Schmidt schildert, dass die Kammerspiele historisch immer der Ort der Avantgarde und des Einspruchs unter den drei großen Münchner Theatern gewesen seien, und Egbert Tholl setzt sich mit Zahlen auseinander und entdeckt nichts wirklich Skandalöses.



nachtkritik.de: Tholl schreibt, dass es zu Beginn der zweiten Spielzeit düster aussieht, die prozentuale Gesamtauslastung sank auf derzeit 60 Prozent.

Matthias Lilienthal: Wenn man die Stadt München etwas kennt, weiß man, dass am Anfang der Spielzeit das Oktoberfest liegt und die Stadt in dieser Zeit und ein, zwei Wochen danach auf nichts anderes ansprechbar ist.

nachtkritik.de: Welche Traditionen des Münchner Hauses haben Sie denn in Ihrer Arbeit nicht mitbedacht? Die Kritik in der Süddeutschen Zeitung fällt ja trotz allem unerwartet massiv aus.

MatthiasLilienthal 280 SimaDehganiMatthias Lilienthal © Sima DehganiMatthias Lilienthal: In meinem Blick ist das nicht unerwartet massiv. Ich bin aus Berlin weggegangen, weil ich mit der Stadt nicht mehr wirklich eine Reibung entfachte. Die Gemeinsamkeiten zwischen HAU und Münchner Kammerspielen gehen allerdings gegen Null. Wir arbeiten hier an einem Repertoirebetrieb mit starken Abonnementstrukturen und mit dem Ensemble als Zentrum des Theaters. Es gibt etliche Arbeitspartner wie Nicolas Stemann, Felix Rothenhäusler oder Christopher Rüping, mit denen ich vorher überhaupt nie etwas zu tun hatte. Das ist ein programmatischer Neuentwurf, der mit dem HAU nichts zu tun hat.

nachtkritik.de: Die Rolle des Ensembles scheint für die Schauspieler nicht so klar zu sein. Anfang der Woche wurde bekannt, dass drei Schauspielerinnen die Kammerspiele verlassen. Brigitte Hobmeier sagte, dass sie angesichts der performativen Ausrichtung keine künstlerische Heimat mehr bei Ihnen sehe.

Matthias Lilienthal: Als wir die neue Intendanz angegangen sind, haben wir beschlossen, mit zwanzig Schauspielern zu arbeiten, davon zwölf aus dem alten Ensemble, acht sind dazugekommen. Wenn man das mit anderen vergleicht, oder meinem Neuanfang an der Volksbühne damals, da sind die Ensembles weitgehend neu aufgebaut worden. Hier haben wir zwei Drittel übernommen, das ist mit sehr vielen Schauspielern gut gegangen, mit drei leider nicht.

nachtkritik.de: Also gar kein Grund für soviel Aufregung?

Matthias Lilienthal: Gerade Brigitte Hobmeier ist extrem beliebt. Sie ist Münchnerin, sie hat ihre Karriere hier gemacht. Ihr Weggang ist sehr bedauerlich, aber im übrigen finde ich Wechsel normal.

nachtkritik.de: Trotzdem: Es ballen sich die Vorwürfe in diesen Tagen. Die Kammerspiele seien ein Gastspielbetrieb mit angeschlossener Partyzone. Ganz schön heftig.

Matthias Lilienthal: Und totaler Unsinn. Wir machen zu 70 Prozent ganz normales Stadt-Repertoire-Ensembletheater. Es gab die unglückliche Situation mit Gosselin und der Houellebecq-Produktion und die mit der Kündigung von Brigitte Hobmeier. Ansonsten hatten wir einen unglaublich erfolgreichen Start in die Spielzeit mit der Meursault-Produktion, mit Yael Ronen und Felix Rothenhäusler.

nachtkritik.de: Was unterscheidet denn die Arbeit an den Kammerspielen positiv von dem, was am HAU geschah?

Matthias Lilienthal: Na, wir versuchen schon einen neuen Mix. Internationales, freie Gruppe und Stadttheater einer so wilden Mischung zu unterziehen, dass man sich am Ende nicht mehr auskennt.

nachtkritik.de: … und dieses Sich-nicht-mehr-Auskennen hängt gerade den ein oder anderen ab und lässt Kritiker laut werden …

Matthias Lilienthal: Ich kann nur versuchen zu sagen, wie es sich aus meiner Sicht darstellt. Ich kann mir auch nicht jeden Vorwurf anziehen.

nachtkritik.de: Die SZ zitiert noch einmal den Begriff der "Kunstkacke" von Ihnen, der als Beschreibung für Stadttheater im Umlauf ist. Was ist denn an dieser "Kunstkacke" so schlimm?

Matthias Lilienthal: Der Begriff bezog sich am HAU auf die Konzeptionsformate im Tanz aus dem Jahr 2000. Und war bei mir eine Lanzenbrechung für das dokumentarische Theater. Seit der Berufung nach München hängt mir das hinterher. Mich auf den Begriff anzusprechen ist so wie früher Christoph Schlingensief auf Agent Provocateur.

nachtkritik.de: Julien Gosselins Inszenierung von "Unterwerfung" kam nicht zustande. Nun erfährt man, dass er in seiner Arbeit nach "etwas, was Schönheit ist" gesucht habe, aber aus dem Haus heraus verlangt wurde, politische Botschaften rüberzubringen. Das klingt schon nach einer programmatischen Kluft.

Matthias Lilienthal: Christine Dössel zitiert aus der internen Mail eines Regisseurs, der gerade nicht weiter weiß. Die war sicher nicht dazu gedacht, die allgemeine Öffentlichkeit zu informieren.

nachtkritik.de: Woran ist die Arbeit denn gescheitert? Offiziell gab es keine Begründung.

Matthias Lilienthal: Ein Drittel, dass wir technische Rahmenbedingungen bei ihm auf der Probebühne unterschätzt haben. Ein Drittel, dass er gerade eine 12-Stunden-Inszenierung von "2666" abgeliefert hatte. Houellebecq entpuppte sich mit der Doppelung "Plattform" und "Unterwerfung" als Riesenschinken, der nach der dritten Probenwoche für eine schwierige Situation sorgte und mit Gosselins eigenem Druck nach extremer Qualität nicht mehr zusammenging. Das war auch ein systematischer Betriebsunfall, ein junger Regisseur kommt in ein kulturelles Umfeld, das er so nicht kennt, zu viele Klippen auf einmal.

nachtkritik.de: Ist die Erweiterung des Stadttheaterbetriebs, die Internationalität und Vermischung in der Praxis also doch schwierig?

Matthias Lilienthal: Nein, ich finde es sogar weniger schwierig als ich vorher gedacht habe. Es ist doch eine Sensation, dass wir bei einem inhaltlich und ästhetisch deutlich veränderten Programm die Zuschauerzahl gleich halten können. Die Stadt München ist diesen Weg mit Großzügigkeit und Nonchalance mitgegangen. Jetzt äußert ein Teil des Bürgertums mit der Südddeutschen Zeitung als Sprecherin seine Unzufriedenheit. Das gehört dazu.

 

Mehr zum Thema:


– Presseschau vom 12. November 2016 – Spiegel online stellt sich an des angegriffenen Lilienthals Seite

– Presseschau vom 11. November 2016 – die Süddeutsche Zeitung widmet sich ganzseitig der vermuteten Krise an Matthias Lilienthals Münchner Kammerspielen

– Presseschau vom 8. November 2016 – die Münchner Abendzeitung interviewt Matthias Lilienthal

– Presseschau vom 3. November 2016 – die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die Schauspielerin Brigitte Hobmeier ihren Vertrag mit den Münchner Kammerspielen kündigt

– Meldung vom 31. Oktober 2016 – Münchner Kammerspiele sagen "Unterwerfung" ab

– Podcast vom 27. April 2016 – die turbulente erste Spielzeit Matthias Lilienthals an den Münchner Kammerspielen

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