Die Krise der Antworten

von Esther Slevogt

Berlin, 15. November 2016. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó verdichtet in seinen Inszenierungen für Film und Theater gesellschaftliche Befunde zu schockhaften, oft surrealen, manchmal gewaltvollen Szenarien. In Szégyen / Schande zeichnete er auf der Basis eines Stoffs des südafrikanischen Schriftstellers J. M. Coetzee das Bild einer Elite, die ihre Auslöschung durch die von ihr bisher unterdrückte Kaste widerstandslos geschehen lässt, ja fast als Erlösung erfährt. In seinem flirrenden Stück Dementia porträtierte er die ungarische Gesellschaft als von kollektivem Bewusstseinsverlust befallene Insassenschaft einer psychiatrischen Klinik. Sein 2015 auf dem Filmfestival in Cannes ausgezeichneter Film Underdog / Feher Isten erzählt vom wachsenden und zunehmen mit Gewalt verteidigten Rassismus in der Gesellschaft anhand der Geschichte eines Hundeauftstandes in Budapest.

Anfang November war Mundruczós jüngste Theaterarbeit "Imitation of Life" über die Situation der ungarischen Roma im Berliner HAU zu Gast. Das Interview mit Esther Slevogt fand am Rande des Gastspiels statt.

nachtkritik.de: Woran arbeiten Sie gerade?

Kornél Mundruczó: Ich arbeite an einem Film über eine Freundschaft zwischen einem Flüchtlingsjungen und einem ungarischen Arzt und ihre Reise durch das ungarische System.

nachtkritik.de: Wie ist die Situation für Flüchtlinge aktuell in Ungarn?

Wir haben keine Situation. Weil wir keine Flüchtlinge haben. Wir haben alle nach Deutschland und Österreich geschickt und einen hohen Zaun gebaut. Dadurch ist Ungarn inzwischen das weißeste Land in Europa. Also, das meine ich natürlich ironisch. Tatsächlich ist die Situation sehr komplex. Ungarn versucht einerseits, den EU-Richtlinien zu folgen, auf der anderen Seite wird nach innen populistische Politik gemacht. Es wird bewusst Angst vor den Flüchtlingen geschürt. Doch diese Angst hat keine Grundlage, weil es in Ungarn kaum Flüchtlinge gibt und damit auch keine Probleme darauf zurückzuführen sind. So ist das einzige Motiv für die andauernde Panikmache, Angst in der Gesellschaft zu produzieren. Denn diese Angst arbeitet Machterhalt und Politik der gegenwärtigen Regierung zu.

Ist Ungarn Europas populistische Avantgarde? Das Land gehörte vor acht Jahren zu den ersten Staaten in Europa mit einer rechtspopulistischen Regierung, die immer offensiver einen EU-feindlichen Kurs vertrat und nach innen systematisch Spielräume von Parlament und Medien beschnitt.

MundruczoKornel 2016 280 sleKornél Mundruczó Anfang November in Berlin
© Esther Slevogt
Ich würde dem nicht ganz zustimmen. Ungarn ist nicht die Avantgarde sondern eher ein exemplarisches Beispiel dafür, wie sich die Dinge in Europa zugespitzt haben, für die Enttäuschung, die sich überall breit gemacht hat. Nehmen Sie mich: ich gehöre zur Generation Null. Wir haben keine wirklichen Erinnerungen mehr an das kommunistische System. Als 1989 die Wende kam, war ich vierzehn Jahre alt. Wir glaubten an Europa, glaubten fest an die westliche Demokratie, dass sie Ungarn helfen würde, das alte System schnell hinter sich zu lassen und den demokratischen Neubeginn zu schaffen. Heute verstehe ich nicht mehr, worum es in der EU eigentlich geht. Ich habe den Glauben daran ebenso verloren, wie die meisten Ungarn. Und das ist wirklich schlimm. Doch wenn Verordnungen und Bürokratie das einzige sind, was noch aus Brüssel kommt, und wofür die EU steht, sind wir doch total weit von allem entfernt, was einmal den europäischen Gedanken ausgemacht hat. Was in Ungarn passiert ist, kann überall passieren. Beispiele findet man inzwischen überall in Europa. In Deutschland, Griechenland, England, Frankreich - überall wenden sich die Menschen von Europa ab und nationalistischen Ideen zu.

Am Beginn dieser Entwicklung stand auch, dass für die freien Theater die staatliche Unterstützung gekappt wurde. Wie arbeitet das 2009 von ihnen gegründete Budapester Proton Theater unter diesen Bedingungen, das ja eines der bekanntesten und international erfolgreichsten freien Theater Ungarns ist?

Es ist zwar einerseits eine Schande, dass wir in Ungarn jetzt finanziell sozusagen bei Null stehen. Aber wir haben auch Glück. Denn wir werden von europäischen Theatern und Festivals wie dem Berliner Hebbel am Ufer, dem Europäischen Zentrum der Künste in Dresden-Hellerau, den Wiener Festwochen oder dem belgischen Kunstenfestivaldesarts unterstützt, so dass wir unsere Arbeiten als internationale Koproduktionen realisieren können. Das macht uns auch sehr unabhängig. Wir können unabhängig denken und arbeiten. Das ist unser zentrales Ding. Deswegen arbeiten wir überhaupt in dieser Konstellation: um dieser Freiheit willen.

Der Regisseur Árpád Schilling hat vor einiger Zeit abgelehnt, Subventionen für sein Krétakör Theater anzunehmen.

Also, ich würde sagen: wenn man Geld beantragt und es bekommt, dann nimmt und verwendet man es. Wir leben immer noch in einer Demokratie und ich möchte ein Teil davon sein. Ich muss auch sagen, diese Regierung ist immerhin vom Volk gewählt worden.

Imitationoflife 560 MarcellREV uVerhältnisse auf den Kopf gestellt: in Mundruczós "Imitation of Life" mit der Unordnung und
Zerstörung, nachdem sich der Bühnenkasten 360 Grad um sich selbst gedreht hat © Marcell Rév

Wenn ich wirklich an die Demokratie glaube, muss ich doch auch dieses Geld annehmen, das mir von der Regierung zugestanden wird. Und falls möglich beantragen wir auch Subventionen. Aber die Summen, die wir bekommen, reichen gerade dafür, dass wir nicht sagen können, wir wurden ignoriert. Doch leben können wir leider nicht davon.

Warum werden Sie als einer der bekanntesten ungarischen Theatermacher nicht ausreichend gefördert? Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ja, aber es ist etwas komplizierter, wie es in den ausländischen Medien oft beschrieben wird. Es gibt jetzt einfach viel weniger Geld für Kultur in Ungarn. In Ungarn arbeiten etwa 60 freie Theater. Für diese Theater stehen pro Jahr etwa eine Millionen Euro zur Verfügung. Um etwas davon beantragen zu können, wurden zum Teil paradoxe Regeln aufgestellt. So gibt es eine vorgeschriebene Anzahl von Stücken, die man als freies Theater produziert haben muss, um überhaupt eine bestimmte Summe beantragen zu können. Gleichzeitig muss man eine vorgeschriebene Anzahl von Vorstellungen garantieren, für die dann aber das Geld, das man beantragen möchte, gar nicht reicht. Das kann man als unlösbare Situation betrachten, einen Catch 22. Und man kann dahinter natürlich auch die Absicht vermuten, die Geldkanäle für freie Theater zu verstopfen.

Kann man sagen, Ungarns berühmte freie Szene wurde durch die Politik der letzten Jahre ausgetrocknet?

Nein, das ist zu schwarz-weiß gedacht. Ich würde sagen, insgesamt bringt das ungarische System gute Kunst hervor. Ich glaube auch, sowohl im Film aber auch im Theater arbeiten eine Menge guter Künstler. Aber wir leben in sehr harten Zeiten. Doch es stimmt natürlich: Ungarn braucht ein System, das uns mehr unterstützt. Das Proton Theater würden sehr gerne auch in Ungarn Theater machen können. Es ist eigentlich eine Schande, dass das kaum möglich ist. Die Hälfte unserer Produktionen können wir nur im Ausland zeigen. Zwischen zwei Produktionen vergehen manchmal zwei bis drei Jahre. Das ist eine sehr lange Zeit. Außer Dóra Büki, die Direktorin des Proton Theaters, arbeiten alle Mitglieder auch noch woanders. Ich arbeite hauptsächlich als Filmregisseur, aber auch an anderen Theatern und Opern im Ausland.

Kornél Mundruczós preisgekrönter Film "Feher Isten / Underdog"  (der international unter dem Titel "White God" lief) im Trailer

Doch es ist unsere freie Entscheidung, Proton weiter aufrecht zu erhalten, auch wenn es ökonomisch vollkommen sinnlos ist. Wir halten daran fest, weil es uns wichtig ist, weil wir an die Kunst und an die Freiheit glauben.

Kann das Theater die Welt verändern, oder wenigstens Ungarn?

Ich glaube nicht an explizit politische Kunst, wenn sie von der Bühne herab Propaganda zu machen versucht. Ich lege Wert auf Distanz und Unabhängigkeit. Die Art politischer Kunst, die mehr Ideologie und Meinung als Kunst ist, hat aus meiner Sicht keine Wirkung. Sie kann auch ein System nicht zerstören, weil sie sich im Grunde affirmativ dazu verhält. Zeitstücke oder Agitprop-Theater erscheinen mir auch deswegen kontraproduktiv zu sein, weil sie politische Antriebskräfte schwächen. Ein Werk jedoch, das ein Hindernis darstellt, über das ich stolpere, über das ich nicht hinweggehen kann, mobilisiert. Ich suche daher eher nach den Löchern und Rissen im Beton der Macht, um die Wasser meiner Kunst dort hineinzuschütten. Dann hoffe ich auf den nächsten Temperatursturz.

Wir leben in komplizierten Zeiten. Was wird?

Ich glaube, es ist eine Zeit voller Hoffnung. Denn es ist eine Zeit voller offener Fragen. Als ich erwachsen wurde, schien die Welt fest gefügt, fertig und unveränderbar. Jetzt hat niemand mehr Antworten. Die gegenwärtige Krise ist auch eine Krise der Antworten. Die Ideologien und Konzepte der Vergangenheit sind zerbrochen. Niemand begreift mehr wirklich, was gerade geschieht. Wir müssen uns also Zeit nehmen und nachdenken, was im Kern dieser Krise eigentlich vor sich geht. Darin besteht für mich eine große Hoffnung. Denn jetzt leben wir wirklich in der Gegenwart. Das war vor einigen Jahren noch nicht so. Da bezahlten wir immer noch die Rechnungen der Vergangenheit. Sie merken, ich sehe die gegenwärtige Situation positiver als viele andere. Eine Weltordnung befindet sich in Auflösung und jetzt, da wir dem Unbekannten begegnen und uns ihm auf zunächst nicht bestimmbaren Wegen nähern, hat Zukunft wieder Bedeutung. Oder dramatischer formuliert: haben wir endlich wieder eine Zukunft.

(Das Gespräch wurde in englischer Sprache geführt. Übersetzung: Esther Slevogt)

Kornél Mundruczó wurde 1975 in Gödöllö bei Budapest geboren. Er studierte Theater- und Filmregie an der ungarischen Schauspiel- und Filmhochschule in Budapest. Seine Filme wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem bei den Filmfesten in Cannes und Locarno. 2009 gründete er das freie Budapester Theater Proton.

www.protontheatre.hu

 

Mehr zu Ungarn und den Auswirkungen der rechtsnationalen Politik auf Arbeit und Ästhetik der ungarischen Theaterszene im Lexikon.

 

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