Presseschau vom 17.-24. November 2016 – Reaktionen auf den designierten Berliner Kultursenator Klaus Lederer

"Wir sind sehr neugierig"

"Wir sind sehr neugierig"

17. bis 24. November 2016. Klaus Lederer wird neuer Berliner Kultursenator – und sofort schießen Spekulationen ins Kraut. "Die Anzeichen mehren sich, dass Klaus Lederer und einige Politiker der Grünen die Uhr zurückdrehen wollen", findet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel – und warnt davor, den Dercon-Vertrag "in Donald-Trump-Manier" zu brechen: "Es wäre juristisch kompliziert und für das Land Berlin auch sehr teuer, Dercon und seine Vorbereitungstruppe zu entlassen, es wäre auch ohne Beispiel. Möglich ist es – wenn der Ruf Berlins als weltoffene Kulturhauptstadt mit fairen und seriösen Umgangsformen egal ist." Zudem schreibt er, dass Armin Petras zum Ersatzkandidaten werden könnte. Petras hatte erst Anfang der Woche angekündigt, sein Amt als Intendant des Schauspiel Stuttgart vorzeitig zu verlassen. Petras selbst sagt dazu nun im Interview mit der Welt: "Es gibt keinerlei Gespräche mit politisch Verantwortlichen in Berlin. Und ich werde mit aller Kraft meiner Arbeit in Stuttgart den Vorrang geben."

KlausLederer 280 MartinRulschKlaus Lederer © Martin RulschBrisante Stichwörter

Angeheizt werden die Volksbühnen-Spekulationen durch Lederer selbst: Im Inforadio des RBB sagte er heute morgen auf die Frage, ob er die Entscheidung für Chris Dercon als neuen Intendanten der Berliner Volksbühne rückgängig machen wolle: "Es ist sicherlich bekannt, dass nicht alles so läuft, wie es Michael Müller und Tim Renner versucht haben in Szene zu setzen. Da ist das Stichwort Volksbühne, da ist das Stichwort Staatsballett. Aber da werden wir gemeinsam miteinander gucken, ob das so, wie das damals entschieden worden ist, jetzt auch wirklich trägt."

Ob Chris Dercon auf der Kippe stehe, sei nicht der Punkt. "Die Frage ist: Wer soll was machen in der Stadt?" Die Volksbühne habe eine Tradition, Brecht, Piscator, da sei die Frage, ob das mit der Personalentscheidung von damals auf einem guten Weg sei. "Auf der anderen Seite hat auch Chris Dercon seine Fähigkeiten." Da werde man gucken müssen, das alle an der Stelle, "wo sie die Richtigen sind, das machen können, was sie machen wollen". Im Interview mit dem Tagesspiegel sagt Chris Dercon seinerseits, angesprochen auf diese Äußerungen Lederers: "Es gibt keinen Plan B. Ich denke nur über meinen Plan A nach."

Auf gute Nachbarschaft

Auf Deutschlandradio Kultur berichtet Christiane Habermalz, dass in vielen Berliner Kulturinstitutionen bei der Personalie Lederer "zunächst einmal Zurückhaltung" herrsche. "Am meisten aber dürfte die alte Volksbühne um Frank Castorf über die Berufung Lederers frohlocken. Immerhin hatte der sich öffentlich hinter den Offenen Brief der Volksbühnenmitarbeiter gestellt, in dem sie gegen den vom Duo Müller/Renner berufenen Chris Dercon als neuen Intendanten protestiert hatten." Derweil bleibe Dercon gelassen. "Sein Vertrag steht, daran dürfte ohnehin nicht viel zu rütteln sein. 'Unser Vorbereitungsbüro liegt direkt neben seinem Büro, wir sind Nachbarn am Rosa-Luxemburg-Platz', schrieb Dercon in einem ersten Statement an das Deutschlandradio. 'Wir sind sehr neugierig, Klaus Lederer kennenzulernen und mit ihm zu arbeiten, auch weil wir wissen, dass ihm die Volksbühne besonders am Herzen liegt.'"

Schwierige Bedingungen für Dercon

"In der künftigen Berliner Regierung hat Dercon jedenfalls sehr viel weniger Rückhalt", meinen Peter Laudenbach und Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung (18.11.2016). "Sollte er wie vorgesehen im nächsten Jahr seine erste Spielzeit an der Volksbühne beginnen, dann unter schwierigeren Bedingungen als erwartet." Was der Regierungswechsel für seine Pläne bedeute, habe er schon im vergangenen Monat erfahren. "Sein Antrag, zusätzlich zu dem üppigen Volksbühnenetat 500 000 Euro aus dem Topf der Lotto-Stiftung für die geplanten zweite Bühne auf dem Tempelhofer Feld zu erhalten, wurde vorläufig nicht bewilligt." Außerdem gebe es neben Lederer noch andere Dercon-Kritiker in den Reihen der neuen Koalition: "Niemand kennt Dercons Konzept. Es ist ein Unding, dass die verantwortlichen Politiker seine Pläne aus der Zeitung erfahren", zitiert die Süddeutsche Zeitung die Grünen-Kulturpolitikerin Sabine Bangert.

Zeitgeistige Debatte

Einen Tag später legt Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung (19.11.2016) solo noch einmal nach und plädiert dafür, sowohl Lederer als auch Dercon erst einmal ihren Job machen zu lassen. Berlin sei kein Einzelfall – eher ein Paradebeispiel, so Matzig. Streitereien und Personalquerelen im Kulturbetrieb fußten überall auf Besitzstandsdenken, Verlustängsten, Ressentiments und bürokratischem Furor. "Jetzt, da überall neue Mauern versprochen und neue Grenzen gezogen werden, mutet es beschämend an, wenn Leuten wie Dercon, die nicht für das Verharren und die Resignation des Betriebs, sondern für die Osmose und Evolution der Kultur sorgen, der Ausgang gezeigt wird. Aber es passt perfekt in die Zeit."

Dercon muss bleiben – für Berlins gutes Image

"Eine schöne neue, weltoffene, seriöse Kulturpolitik deutet sich an, in Wahrheit ein Abmarsch in die dunkle Provinz", unkt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (19.11.2016). Sollten Verträge nach einem Regierungswechsel so leicht zur Disposition stehen, dann seien sie ihr Papier nicht wert. "Wer hat da noch Lust, nach Berlin zu kommen und eine Institution zu übernehmen?" Schon vor Amtsantritt habe Klaus Lederer ein gewaltiges Problem: "Wie wahrt er sein Gesicht, wie verhindert er, so oder so, die Beschädigung der Volksbühne?" Alle wichtigen Posten in der Kultur seien besetzt, positioniert Schaper sich zum Schluss ganz klar: "Dabei muss es bleiben."

Christiane Peitz springt ihrem Kollegen Schaper zur Seite und regt sich in der gleichen Ausgabe des Tagesspiegel, über die Aufregung der Grünen-Kulturpolitikerin Banger auf, die sich davon brüskiert gefühlt hatte, dass Dercon seine Pläne für eine mobile Bühne in Tempelhof nicht zuerst in Berlin öffentlich gemacht hatte. "Man erschrickt darüber, wie Teile der rot-rot-grünen Koalition Kulturpolitik definieren. Will man jetzt über Inhalte mitentscheiden? Sollen Spielpläne und Jahresprogramme vorgelegt werden, wenn sich jemand für einen Intendantenposten bewirbt oder der Doppelhaushalt zur Entscheidung ansteht?" schreibt Peitz: "Die Kultur wird nur dann auskömmlich ausgestattet, wenn ihre Vorhaben das Wohlwollen der Behörde genießen? Das wären iranische Verhältnisse." Die Gestaltungsfreiheit von Künstlern und Intendanten sei eine Selbstverständlichkeit in der Demokratie. Jedes Gedankenspiel, dass Verträge Kulturschaffender von deren inhaltlichen Vorstellungen und (...) am besten auch von der Zustimmung des Ensembles abhängen sollten, sei "bei aller Offenheit fatal".

Besinnt euch und würfelt neu!

Wesentlich abgeklärter im Ton lässt Ulrich Seidler die Wendungen der "Volksbühnen-Debatte" in der Berliner Zeitung (19.11.2016) noch einmal Revue passieren und findet: "Jetzt muss weiter gestritten oder noch besser: geredet werden." Auch der größte Castorf-Aficionado müsse sich vernünftigerweise zunächst dem Argument beugen, dass man nicht über etwas meckern kann, das man noch nicht kennt. Allerdings lasse sich eben dieses Argument, "über ungelegte Eier spricht man nicht", auch gegen Dercon wenden: "Wenn die Verträge noch nicht unterschrieben sind − und das sind sie nicht, sonst wüsste die Öffentlichkeit, was Tolles auf sie zukommt − dann kann man von ihnen zurücktreten." "Wenn jetzt Intendanten für die Volksbühne und für das Staatsballett gesucht werden sollten, dann wären vielleicht auch weniger glamouröse Leute hinnehmbar, wenn sie nicht fachfremd und an den Gegebenheiten interessiert sind", so Seidler in immer expliziterer Hoffnung darauf, dass noch einmal neu gewürfelt wird: In Sachen Umorientierung sei der Regierende Bürgermeister Michael Müller "mit gutem Beispiel vorangegangen", indem er das Amt des Kultursenators abgegeben hat. "Mal sehen, ob Chris Dercon zu Nachprüfungen bereit ist. Begossene Pudel kriegen in Berlin Sympathiepunkte."

Neu würfeln ist viel zu teuer

"Die, die seit Mittwoch davon träumen, dass Lederer den Vertrag mit Dercon aufkündigen und stattdessen einen Mann wie Armin Petras berufen wird (...), wissen offenbar nicht, dass das einem politischen Selbstmord Lederers gleichkäme", gibt Barbara Möller in der Welt (19.11.2016) zu bedenken: Allein zur Vorbereitung seiner Intendanz an der Volksbühne habe man Dercon "spektakuläre 2,98 Millionen Euro" bewilligt. "Angesichts dieser astronomischen Summe hat man eine Idee von der Größenordnung, in der er verdient. Beziehungsweise was es kosten würde, den Mann abzufinden, bevor er überhaupt angefangen hat." Angesichts solcher Summen könne Lederer auch nicht darauf hoffen, "dass Dercon freiwillig demissioniert".


Populismus und postfaktische Wurstigkeit

In der Berliner Zeitung (22.11.2016) werfen Jens Balzer und Christian Schlüter dem designierten Kultursenator Klaus Lederer "eine neue populistische, geradezu postfaktische Wurstigkeit" vor und vergleichen ihn mit dem noch amtierenden Kulturstaatssekretär Tim Renner: An "Klientelismus und Dilettantismus hat ihn sein Nachfolger, bevor er das Amt überhaupt angetreten hat, jetzt bereits in beeindruckender Art überboten" (mehr in der Presseschau vom 22.11.2016).

Rechtskräftige Verträge

Die B.Z. (23.11.2016) befragt mehrere Kulturpolitiker sowie Dercon-Anwalt Peter Raue zum Berliner Kulturkampf. Raue und CDU-Kulturexperte Michael Braun greifen den designierten Kultursenator Klaus Lederer frontal an – mit Schützenhilfe eines Parteikollegen Lederers. O-Ton Raue: "Wir haben einen rechtskräftig geschlossenen Vertrag zwischen dem Regierenden Bürgermeister und Chris Dercon über eine Laufzeit von fünf Jahren. Vorher ist der Vertrag nicht kündbar. So etwas öffentlich zu sagen, ist vollkommen stillos, das habe ich in 40 Jahren Kulturarbeit in Berlin noch nicht erlebt." Mehr auf bz-berlin.de.

Macht euch nicht lächerlich

In der Zeit (24.11.2016) nimmt Peter Kümmel die Äußerungen Lederers zum Anlass, noch einmal auf die enge Verbindung von "Volksbühne und Volksbühnen-Volk" zu blicken und auf die Empörung in der Stadt, die "über übliches Maß weit hinausgeht". Kümmel bezweifelt, dass es eine "hausexterne Castorf-Nachfolge gegeben" hätte, die vom Stammpublikum akzeptiert worden wäre. Denn die Volksbühnen-Fans könnten sich eine Zeit nach Castorf nicht vorstellen, "weil sie nämlich auch eine Zeit vor Castorf nicht erlebt haben". Den Geist, der diese Castorf'sche Volksbühne durchwehe, macht Kümmel auch im FAZ-Text des Philosophen Christoph Menke aus (siehe Presseschau vom 4.11.2016): "Wo wir sind, ist vorn. Der weltverändernde Moment entsteht hier – anderswo nicht! Hier, und nur hier, wird Berlin gegen den Kommerz verteidigt." Diese Haltung sieht Kümmel als Hintergrund der Äußerungen Lederers und resümiert: "Allmählich muss die große Theaterstadt Berlin ein wenig achtgeben, dass sie sich nicht komplett lächerlich macht."


Freie Hand, mit Entscheidungen anders umzugehen?

Via dpa, zitiert im Berliner Tagesspiegel, teilt Berlins Bürgermeister Michael Müller mit, er halte die getroffene Volksbühnen-Entscheidung "nach wie vor für richtig. Das könne er inhaltlich auch gut vertreten." Klaus Lederers Stellungnahme zur Causa spricht Müller indirekt an: "Jeder in ein Amt kommender politisch Verantwortlicher kann auch getroffene Entscheidungen hinterfragen – in eigener Verantwortung muss das dann vollzogen werden und geguckt werden, ob man Möglichkeiten sieht, mit getroffenen Entscheidungen auch anders umzugehen als bisher."

(geka / sd / chr)

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