Welches Theater braucht München? - Die Podiumsdiskussion zur Debatte um die Münchner Kammerspiele zeigt Theaterkritiker und Theaterschaffende aktuell unversöhnlich
Der Genius loci meldet sich zu Wort
von Tim Slagman
München, 21. November 2016. "Das Experiment fängt erst an." Für das Publikum auf den Bänken der seit einer Spielzeit "Kammer 2" getauften Nebenspielbühne der Münchner Kammerspiele, das mehrheitlich auf der Seite von Matthias Lilienthal und hinter den Inszenierungen seiner immer noch jungen Intendanz stand, wird dieser Satz Lilienthals wie eine Verheißung geklungen haben. Für Christine Dössel wie eine Drohung. Die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung gehört zu den lautesten Stimmen in einer seit einigen Wochen tobenden Debatte um die Ausrichtung der Kammerspiele.
Am gestrigen Sonntag luden die Münchner Kammerspiele zur öffentlichen Aussprache ein: Neben Christine Dössel war Robert Braunmüller von der Münchner Abendzeitung als Kritiker gekommen, um gemeinsam mit der langjährigen Kammerspiel-Schauspielerin Annette Paulmann und Intendant Matthias Lilienthal die Frage zu diskutieren: "Welches Theater braucht München" bzw. welches Theater sollen die Kammerspiele bieten? Die Moderation übernahm Michael Krüger von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Symptome einer Krankheit
Die von Christine Dössel ausgemachte Krise der Kammerspiele war bekanntlich an konkreten Ereignissen beschrieben worden: Die Proben zu Julien Gosselins Inszenierung von "Unterwerfung" nach dem Roman von Michel Houellebecq wurden abgebrochen, die Schauspielerinnen Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler werden das Ensemble verlassen. "Symptome" einer tiefer liegenden Krankheit, behauptete Dössel. Die Diskussion drehe sich um "ästhetische und inhaltliche Differenzen", hielt Lilienthal ihr entgegen, die mit den beschriebenen Ereignissen herzlich wenig zu tun hätten.
Die Gründe für die Kündigungen seien theaterintern und sollten dies auch bleiben, sprang ihm Ensemble-Mitglied Annette Paulmann bei, die den Weggang der Kolleginnen überdies wie auch ihr Chef "schmerzhaft" fand. "Ich hatte nicht das Gefühl, da interessiert sich jemand für meine Arbeit oder mein Haus“, warf sie wiederum Dössels Leitartikel zu den "Jammerspielen" vor. Paulmann, spürbar aufgebracht, wendete Dössels Argumentation damit gegen sich selbst. Zu viel Politik, zu wenig Kunst, zu viel Diskurs, zu wenig Erzählung – und eben zu viel Performance und zu wenig Schauspiel hatte Dössel in den bisherigen Arbeiten unter Lilienthal erlebt.
Große Begabungen auf große Bühnen
Diesem Vorwurf ließe sich entgegnen: Wurde er nicht genau dafür überhaupt vom Berliner HAU geholt? "Es geht um schlechte Performance und die totale Absenz von Schauspieltheater", präzisierte Dössel: "Woran liegt es, dass Gruppen wie She She Pop oder Gob Squad in München ihre schlechtesten Arbeiten abgeliefert haben?", fragte die Kritikerin mit Blick auf 50 Grades of Shame und War and Peace. Die Antwort vermutete sie im "genius loci": "Im großen Rahmen des Schauspielhauses wirken diese Inszenierungen klein".
Das wollte Lilienthal nicht gelten lassen. Er betonte, wie wichtig es ihm gewesen sei, "extrem große Begabungen der freien Szene ins große Haus zu bringen". Genau an dieser Stelle, über die Lilienthal etwas zu rasch hinwegging, liegt aber der eigentliche Kern der Debatte: Schließen freie Szene und etabliertes Stadttheater einander aus oder nicht? Was macht der Guckkasten mit seiner so deutlichen Trennung von Bühne und Zuschauern auf gepolsterten Sitzen mit Armlehne eigentlich mit dem Performativen, Diskurshaften?
Der Moment der Begegnung und die Sprache der Zahlen
Eine Zuhörerin aus dem Publikum berichtete von einem Konzert des syrischen Popstars Omar Souleyman, bei dem viele seiner Landsleute und ein paar deutsche Konzertgäste gemeinsam getanzt hätten und schwärmte von diesem seltenen Moment der Begegnung. "Aber braucht man dafür den Apparat des Stadttheaters?“, fragte AZ-Kulturredakteur Robert Braunmüller zurück. Nein, natürlich braucht man ihn nicht.
Doch bedeutet das wiederum automatisch, man dürfe ihn dafür nicht nutzen, weil das eigene Programm sonst der Beliebigkeit anheimfalle? Christine Dössel schreibt den Kammerspielen ein "Kommunikationsproblem" zu, der Spielplan sei zu unübersichtlich, Quantität solle man nicht mit Qualität verwechseln. Eine akribische Analyse ihres SZ-Kollegen Egbert Tholl scheint sie zu bestätigen: Nach einer ökonomisch soliden ersten Spielzeit mit allerdings deutlich mehr Aufführungen und Veranstaltungen als im letzten Jahr unter Johan Simons starteten die Kammerspiele schwach in Spielzeit Zwei. Diese neuen Zahlen kommentierte Lilienthal nicht, betonte allerdings, eine Auslastung von 73% und eine Zuschauerzahl von 153000 in 2015/2016 lägen ziemlich im Schnitt der vergangenen dreizehn Jahre.
Tiefe Gräben, sprunghafte Argumente
Nicht nur da hatte man den Eindruck, dass die Diskutanten viel zu oft aneinander vorbei redeten. Dabei sprangen sie von Publikumswirksamkeit zur Performanceästhetik und der Wirkmacht von Sprache und von dort weiter zur Fürsorgepflicht für das etablierte Ensemble, das man nach Christine Dössel angesichts der Kündigungen nun nicht "am ausgestreckten Arm verhungern“ lassen sollte. "Diesen Graben kann man nicht zuschütten", konstatierte Moderator Michael Krüger am Ende einigermaßen resigniert.
Und damit hat er wohl Recht: Im Wesentlichen liegt dies freilich daran, dass die Kritiker ihre ästhetischen Urteile bei aller Differenzierung letztlich doch in normative Kategorien gießen wollten, die Lilienthal, seine Regisseure und sein Ensemble aber nicht akzeptieren werden. Sonst wäre das Experiment ja auch allzu schnell an sein Ende gelangt.
Mehr zur Debatte um die Münchner Kammerspiele:
– Presseschau vom 17. November 2016 – Die Debatte um Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele in der Übersicht
– Interview mit Matthias Lilienthal vom 12. November 2016 – Die Kammerspiele haben nichts mit dem HAU zu tun
– Podcast vom 27. April 2016 – Die turbulente erste Spielzeit Matthias Lilienthals an den Münchner Kammerspielen
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Weshalb man sagen muss: hier kann eine Kritikerin offenbar mehr und genauer Vielfalt beurteilen, als ein Theaterleiter bisher Vielfalt qualitätssicher bedienen kann.
Und DAS ist der Graben, der nicht zugeschüttet werden kann. Und aus meiner Sicht auch nicht zugeschüttet werden sollte. Das gibt einfach im Moment eine Menge HA für Experimentatoren. Und irgendwann kann und wird es auch wieder sein, dass es wieder einmal eine Menge HA für die Kritik zu erledigen gibt. Im Moment scheint sie mir jedenfalls gerade stärker zu sein als das Theater selbst. Und das ist normal und gut so. Ein Zeichen dafür, dass der Patient Stadttheatersystem lebt.
Welches Theater braucht München? Dieses kann nicht ein Intendant alleine wissen!
Ich fand das Publikum nicht repräsentiert weder auf dem Podium noch bei dem Gespräch danach. Der Kritik rechne ich Ihre Emotionalität hoch an während auf der anderen Seite nur Coolness wahrzunehmen war.
Die Plakate können nicht ohne Verrenkungen gelesen werden und der Spielplan bietet eine Vielzahl von der ich misch zugeschüttet fühle.
Ich werde weiterhin den Weg verfolgen.
Ich halte sie nämlich für etwas das nur durch die Projektmittel und die Quersubventionen aus den Stadttheatern so groß werden konnte.
Das Bedürfnis danach hinkt aber der Aufgeblasenheit dieses Phänomens hinterher. Man sieht es an den Auslastungszahlen.
Den Trend weg vom konventionellen, präzise psychologischen Schauspieler gibt es beispielsweise in England gar nicht. Die tragen ihre großen Schauspieler auf Händen.
Ich fände ein bisschen mehr Respekt von Seiten der coolen Performer gut. Wäre doch schön, wenn sie wenigstens wahrnehmen würden, wieviel Arbeit und Hingabe Schauspielkunst auf dem Level von Brigitte Hobmeier erfordert.
In den Kritiken von Frau Dössel bricht sich doch letztlich die Enttäuschung Bahn, dass viele Sachen an den Kammerspielen einfach nicht gelungen sind. Und das fällt natürlich auch immer auf den Intendanten zurück, denn er trägt die Verantwortung dafür.
Wenn dann noch - neben den schwer zu bestimmenden - Qualitätsmaßstaben objektiv Sachen nicht klappen, zB Aufführungen abgesagt werden müssen oder die Website ein einziges Chaos ist, stellt sich halt die Frage, ob der Intendant es kann oder nicht.
Nun würde ich grundsätzlich sagen: geben wir ihm mal etwas Zeit, vielleicht renkt sich das ein. In der Kunst ist es nur leider oft so: Strukturen und Ästhetiken, die einmal wegbrechen, lassen sich kaum wieder beleben. So ist meine Sorge, dass nach ein, zwei weiteren Spielzeiten "Experiment" die Kammerspiele ihr Kapital (großartige Schauspieler*innen, treues kunstsinniges Publikum, interessante Räume) verspielt haben.
[Warum ich das mit den Räumen schreibe? - Weil es mich manchmal schaudert, wenn ich sehe, wie bei manchen Partys die Kammerspielräumlichkeiten abgefeiert werden...]
Warum war das so? Herr Slagmann kommt wohl nicht von hier, sonst hätte er bemerkt, dass der Saal vor allem mit Mitarbeitern der Kammerspiele, Freunden und Schauspielern gefüllt war. Na klar stehen die alle hinter Lilienthal und haben sich auch gleich zu Wort gemeldet, das war gut einstudiert. Der junge Schauspieler und der Hausregisseur finden natürlich nichts falsch am Programm, aber die normalen Zuschauer mussten mehrheitlich draußen bleiben! Eine reine Medienveranstaltung, die sich nicht für die Meinung der Zuschauer interessierte. Genau wie die Leitung das Hauses.
http://www.mucbook.de/2016/11/21/jammern-an-den-kammerspielen-eine-premierenkritik/
P.S. Leider ist sowas wie "Zimt und Sterne" im Glasspitz (Sandra Hüller ganz nah in der Teufel mit den 3 goldenen Haaren) völlig undenkbar geworden. Für Kinder bis 12 Jahren gibt es also nichts mehr. Wenn Lilienthal glaubt, dass Jugendliche bis ca. 17 Jahren sich für die Kammerspiele interessieren würden, Antwort NEIN; zumindestens ergab das eine Umfrage in unserem Münchner Gymnasium.
Am Ende ist alles eine Frage der Qualität; leider hat sich noch keine Neuinszenierung oder irgendein ein Gastspiel ! wirklich als herausragender Wurf dargestellt.