Cornélia in Wonderland

von Thomas Rothschild

Paris, 23. November 2016. Wenn Cornélia, die Assistentin des Leiters einer Schauspieltruppe, einschläft, bekommt sie in ihrem Zimmer in Indien Besuch. Durch Fenster und Türen dringen sie ein auf die großflächige Simultanbühne mit Cornélias breitem Bett, Tischen, Sitzgelegenheiten, einer offenen Toilette im Hintergrund und einer Veranda rechts vorne für Jean-Jacques Lemêtre, der die Vorstellung mit pulsierenden Basslinien begleitet: die Affen von Mahatma Gandhi, Shakespeare, Tschechows drei Schwestern oder grotesk-schreckliche Taliban. "Une chambre en Inde" – so heißt die jüngste, größtenteils vom Kollektiv bei einem längeren Aufenthalt in Indien entwickelte Kreation an Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil. Sie könnte auch, frei nach Gian Carlo Menotti, "Cornélia and the Night Visitors" heißen.

Alles bleibt, wie es nicht ist

Bei Ariane Mnouchkine ist alles anders und gleich: anders als im vertrauten deutschen Theaterbetrieb, gleich wie seit der Gründung ihres Théâtre du Soleil im Jahr 1964 und seinem Umzug in die Cartoucherie im Pariser Bois de Vincennes sechs Jahre danach. Ariane Mnouchkine hat sich, manchen Enttäuschungen zum Trotz, jene Utopien und Ideale bewahrt, die mit der Chiffre 1968 verknüpft sind und für die die Arrivierten fast nur noch ironische Aperçus im Repertoire haben. Sie glaubt an die Einheit von politischer und ästhetischer Progressivität, von künstlerischer Produktion und Lebensweise. Sie sieht keinen Gegensatz zwischen Shakespeare, den Atriden oder "Tartuffe" auf der einen Seite und kollektiv, meist in Zusammenarbeit mit Hélène Cixous verfassten Stücken, die den Versuch unternehmen, unsere Gegenwart theatralisch zu bewältigen, auf der anderen, wie sie sich um eine Vermittlung bemüht zwischen europäischen und außereuropäischen Theaterformen.

chambreeninde3 560 MicheleLAURENT uNächtlicher Besuch: William Shakespeare erscheint der Hauptfigur von Ariane Mnouchkines
"Une chambre en Inde" höchstpersönlich im Schlafzimmer © Michèle Laurent

Nach wie vor werden vor Beginn der Vorstellungen Speisen angeboten für ein gemeinsames Mahl, nach wie vor kann man das multinationale Ensemble bei seiner Schminkzeremonie beobachten, nach wie vor steht die mittlerweile 77jährige Prinzipalin Tag für Tag an der Pforte, um die Eintrittskarten abzureißen.

Aber all dies könnte höchstens als nostalgisches Relikt einer Künstlersekte gelten, wenn die Ergebnisse der Arbeit nicht so atemberaubend singulär wären, wie sie es tatsächlich sind. Das Theater der Ariane Mnouchkine ist ein Monolith in der internationalen Theaterlandschaft geblieben wie Bob Dylan, mit oder ohne Nobelpreis, auf dem Gebiet des Songs. The Times They Are a-Changin’ – so heißt Dylans berühmtes Lied, das just im Geburtsjahr des Théâtre du Soleil entstanden ist. Ja, die Zeiten haben sich geändert, aber der Traum von einer besseren Welt, der Anspruch, diesen Traum mit den Mitteln des Theaters befördern zu können, hat kein bisschen Grünspan angelegt.

Traumlogik des Spektakels

Weil bei Ariane Mnouchkine alles anders ist, weil sie sich für ihre Inszenierungen ein Vielfaches der Zeit einräumt, die an anderen Bühnen üblich ist, und das Ergebnis dann en suite über Monate und Jahre, eingeladen auch in viele Länder, vorführt, kann sie es sich leisten, die Presse von der Premiere auszuschließen, um noch zu ändern und zu feilen, ehe die professionelle Kritik die Reaktionen des Publikums ergänzt. So auch bei "Une chambre en Inde", das noch vor kurzem als zweiteiliges sechsstündiges Spektakel angekündigt war und nun doch nur exakt vier Stunden dauert. Die Dramaturgie des Traums erlaubt eine Sequenz von heterogenen Szenen. "Une chambre en Inde" folgt von vornherein einer Logik der Assoziationen, muss sie nicht erst einem geschlossenen Text überstülpen. Eingebettet zwischen die Szenen mit aktuellem Bezug sind Reflexionen über die Bedeutung des Theaters. Cornélia bittet William Shakespeare um eine Vision, und der fragt sie seinerseits ratlos, was ein Regisseur sei. Was man am Theater brauche, sei Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit. Anton Tschechow himself wiederholt Cornélia gegenüber seinen nicht mehr sonderlich überraschenden Dissens mit Konstantin Stanislavskij, lehnt Peter Stein ab und lobt, mit den geschäftigen drei Schwestern im Hintergrund, Giorgio Strehler.

chambreeninde2 560 MicheleLAURENT uGemischt assoziierte Szenen in Mnouchkines indischem Zimmer © Michèle Laurent

Flucht in den Klamauk

Das asiatische Theater, dem Ariane Mnouchkine von Anfang an entscheidende Anregungen verdankt, ist präsent durch leitmotivische Ausschnitte aus dem Mahabharata in der Darbietung einer indischen Truppe. Es bedeutet, auch für Mnouchkines eigenes Theater, mit der fast durchgängigen Musik, mit der Stilisierung der Körpersprache, den festgelegten Gesten, mit den überladenen Kostümen und Masken ein Bekenntnis zur totalen Künstlichkeit. Lediglich wo die Terror-Problematik ins Spiel kommt, scheint das Autorenkollektiv, überwältigt von aktuellen Erfahrungen, überfordert gewesen zu sein. Da flüchtet es vor der Anstrengung der dialektischen Analyse in den Klamauk. Ein Selbstmordattentäter verhandelt über die Zahl der Jungfrauen, die er nach erfolgter Tat bekommen soll. In der Parodie eines islamistischen Propagandafilms kann sich der Redner den Text nicht merken, nennt den vorehelichen Sex "adorable" – "anbetungswürdig" – statt "abominable" – "verwerflich" –, bis die Szene mit einer bedrückend platten Pointe endet. Auch jenes Intermezzo, in dem Isländerinnen eine Delegation von Saudiarabern über Frauenrechte beraten, zeichnet sich eher durch Gesinnung als durch Differenzierungsvermögen aus. Selbst Ariane Mnouchkines großartiges Theater schwächelt, wo die Rhetorik, die Verkündung von Thesen, die in Paris und Umgebung keinerlei Provokation mehr bedeuten, die szenische Aufbereitung ersetzt.

"Une chambre en Inde" verfügt nicht über die Stringenz der Shakespeares am Théâtre du Soleil und nicht über die unter die Haut gehende politische Brisanz früherer Stücke wie L'Age d'or oder Le Dernier Caravansérail. Die indische Tanztheaterform des Kathakali war bei den "Atriden" in die Gesamtkonzeption integriert. Ihre "arme" Straßentheatervariante Therukoothu dient diesmal nur als Einlage wie ein Ballett in einer französischen Barockoper. Wenn auch diese neueste Produktion zu einem eindrucksvollen Erlebnis wird, so verdankt sich das der Übereinstimmung von Text und szenischen Mitteln. Sie klaffen keinen Augenblick aus einander. Am Ende hört man die Schlussrede aus "Der große Diktator", in der Charlie Chaplin die Utopie einer friedlichen Welt predigt. Zwei Mal wird der Redner erschossen, zwei Mal steht er wieder auf. Er sieht aus wie ein Imam. Aber eben auch wie Charlie Chaplin.

 

Une chambre en Inde
Eine kollektive Kreation des Théâtre du Soleil
Uraufführung
Regie: Ariane Mnouchkine, Musik: Jean-Jacques Lemêtre, in Zusammenarbeit mit Hélène Cixous, unter besonderer Beteiligung von Kalaimamani Purisai Kannappa Sambandan Thambiran.
Mit: Hélène Cinque, Duccio Bellugi-Vannuccini, Shaghayegh Beheshti, Dominique Jambert, Martial Jacques, Samir Abdul Jabbar Saed, Maurice Durozier, Sébastien Brottet-Michel, Judit Jancsó, Sylvain Jailloux, Eve Doe Bruce u.v.m.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.theatre-du-soleil.fr

 

Kritikenrundschau

Mnouchkine habe ihr bisher persönlichstes Stück mit ihrem Kollektiv zusammengepuzzelt. "So persönlich, dass es fast platt ist", schreibt Grete Götze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.1.2016). Alter ego und Hauptfigur Cornélia, gerade auf Gastspiel in Indien, muss sich ein Thema überlegen, das der krisengeschüttelten Welt gerecht wird. "In kurzen Szenen und Albträumen tauchen fortan unterschiedlichste Konflikte und Ratgeber auf, welche die Träumende im Nachthemd aus dem Bett aufschrecken lassen." Insgesamt sei der vierstündige Abend ein riesiger Intertextualitäts-Teppich, "immer wieder bezieht sich die Compagnie auch auf ihre eigene Geschichte. Ihre Spielweise ist fast naiv." Der theatralische Aufruf am Ende, "sich Menschlichkeit zu bewahren und nicht zu hassen, die Welt zu befrieden", wirke aber völlig aus der Zeit gefallen. "Wenn man hinaustritt aus der geschützten Theaterwelt der Cartoucherie, stehen da immer noch die bis an die Zähne bewaffneten Polizisten und entlassen einen freundlich nickend in die Nacht."

Bei Eberhard Spreng, der "Une chambre en Inde" für Deutschlandfunk (17.11.2016) sah, löst der Abend zunächst einmal "Freude" aus. Trotzdem stimme die Inszenierung ihn "skeptisch wenn es um die Frage nach der Macht des Theaters im Angesicht einer aus allen Formen fallenden Welt geht." "Noch nie sah man Ariane Mnouchkine (..) so unverhohlen an einem theatralischen Selbstporträt arbeiten, so selbstbezogen in der Betrachtung der fragilen Rolle der zeitgenössischen Theaterregisseurin." Ganz ähnlich wie "dereinst die Stars des Slapsticks mit jedem großen Problem der Menschheitsgeschichte mit ein, zwei komischen Einfällen fertig geworden sind", so erledige Ariane Mnouchkine an diesem Abend IS-Kämpfer, frauenverachtende Hindus und andere "handwurstige Karikaturen".