Pfusch - Herbert Fritsch versucht mit einer aberwitzigen Jam-Session an der Volksbühne Berlin nochmal eins draufzusetzen
Heute gibt's nur Achtel
von Wolfgang Behrens
Berlin, 24. November 2016. Herbert Fritsch dürfte mittlerweile so ziemlich alles fritschisiert haben, was in einen Bühnenraum passt. Fritschisieren: das heißt, etwas ohne Rücksicht auf inhaltliche Verluste ins hochartifiziell hochvirtuos Hochnotkomische überführen. Fritsch hat Komödien und Tragödien, Possen und bürgerliche Trauerspiele, Opern und Operetten, kürzlich sogar die Apokalypse und immer mal wieder das pure Nichts (Murmel Murmel) fritschisiert. Bange fragt man sich: Was soll da noch Neues kommen? Zumal jetzt, da Fritsch ein letztes Mal an dem Haus inszeniert, das ihn berühmt gemacht hat, an der Berliner Volksbühne, bevor diese derconisiert wird?
Ekstatische Musik-Momente
Es kann nur noch "Pfusch" folgen. Ein schöner Titel, und auf der Website der Volksbühne kann man dazu verdunkelnd Kunstphilosophisches nachlesen: "Fritsch erhebt den Anspruch, den neuen deutschen Spiel-Pfusch und Kunst-Pfusch zu schaffen. Dieser neue Pfusch braucht neue Freiheiten." Aha! Man rechnet also mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen, vielleicht mit einer Fritschisierung in zweiter Potenz. Doch dann hat Fritsch tatsächlich etwas Noch-nicht-Fritschisiertes gefunden, und das ist eigentlich kein Pfusch, sondern ein ziemlicher Hammer. Etwa die Hälfte des "Pfusch"-Abends nämlich gilt einem fritschisierten Avantgarde-Konzert.
Fritschisiert und frisiert an den Instrumenten: "Pfusch" an der Berliner Volksbühne © Thomas Aurin
Und das geht so: Zwölf Darsteller*innen in pastellbunten Rüschenkleidchen kloppen auf zehn auf der Vorderbühne postierten Klavieren und auf einem Toy piano herum. Sie scheinen vom Wahnwitz ergriffen, sie lachen irre, die Augen und Münder weit aufgerissen, derweil der Musiker Ingo Günther im roten Kleid wie aufgezogen vor ihnen auf und ab hüpft, sie dirigiert, sie antreibt, sie anstachelt, sie anfeuert. Dabei aber produzieren sie Klänge, die es in sich haben: Im immergleichen Grundpuls ("Heute gibt's nur Achtel", ruft einer) erzeugen sie zuerst einen schrillen Diskantcluster, der sich in allmählicher Metamorphose zu spreizen beginnt. Der erste abrupte Klangfarbenwechsel nach einigen Minuten (es ertönt nun ein vollerer, dunklerer Cluster) ist ein jäher Einbruch von Plötzlichkeit ins bisherige Kontinuum – ein regelrecht ekstatischer Moment.
Sprung vom Einmeterbrett
Die musikalische Textur wird in der Folge komplexer, die Clusterklänge werden in sich belebter, in den immer weiter getriebenen Grundpuls (kling-kling-kling-kling-kling-kling) mischen sich nun wilde Akzente (kling-KLING-kling-kling-KLING-KLING) – und immer lachen sie dabei, die irren Kleidchenträger*innen an den Klavieren. Und lachen und lachen. Und wippen und wippen. Oder wagen ein paar Tanzschritte. Oder rufen: "Schön!" Es ist entfesselter Wahnsinn. Ein dionysischer Chor. Eine aberwitzige Jam-Session. Pi mal Daumen 45 Minuten lang. Wer von den Zuschauer*innen nicht mitrasen will, der ist verloren. Wer aber mitrast, der kann hier noch im Gelächter absolut Rauschhaftes erleben. Leider geil!
Gehüpft wie gesprungen: Wolfram Koch in action © Thomas Aurin
Die andere Hälfte des Abends ist guter Fritsch – mehr nicht, aber auch nicht weniger. Da ist eine riesige schwarze Röhre mit roter Innenwand, die anfangs die verlegen herumtapsenden Darsteller*innen ausspeit. Die Röhre kann rollen und rotieren, man kann in sie schauen, man kann über sie rutschen, und sie wird so zum Quell für so manchen (mitunter leicht etüdenhaften) Slapstick. Und dann ist da eine Bühnenvertiefung, in der Fritschs unvermeidliches Trampolin darauf wartet, besprungen zu werden. Später werden dort blaue Schaumstoffwürfel eingefüllt, und flugs hat man ein fritschisiertes Schwimmbad samt hingepfuschtem Einmeterbrett, das bei Wolfram Kochs ("Ich habe den Don Carlos gespielt!") Sprungversuch sang- und klanglos abbricht. Das ist sehr lustig, aber auch ein wenig absehbar.
Applaus für den Eisernen Vorhang
Beim Schlussapplaus wird Herbert Fritsch aus ebendiesem Schwimmbad auftauchen und seinem Publikum kurz und komisch "Tschüss!" sagen (wie alle anderen Darsteller*innen schon vor ihm). Naturgemäß wollen die Premierengäste nun ihn und sein Ensemble frenetisch feiern, doch es folgt der böseste Scherz des Abends: Der Eiserne Vorhang senkt sich dröhnend und trennt so die Zuschauer*innen von ihren Held*innen. Und wirklich: Die Fritschianer kommen nicht wieder, sie zeigen sich nicht. Man beklatscht den Eisernen Vorhang. Manch eine*r wird sich in diesem Augenblick gefragt haben, wie es sich wohl anfühlen wird, wenn das Publikum erst einmal endgültig aus seiner geliebten Castorf-Volksbühne ausgesperrt ist.
Pfusch
von Herbert Fritsch
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Licht: Torsten König, Musik: Ingo Günther, Ton: Jörg Wilkendorf, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Ingo Günther, Wolfram Koch, Annika Meier, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Varia Sjöström, Stefan Staudinger, Komi Mizrajim Togbonou, Axel Wandtke, Hubert Wild.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne-berlin.de
Peter von Becker vom Tagesspiegel (25.11.2016) schwärmt für mit und für die Akteure auf der Bühne: "Denn alles ist wahr und gut, macht Mut, sogar die immer wieder mit verzückten Lachgrimassen und schweißtreibender Energie mit Fingern, Händen, Hintern erzeugte Monotonie und Kakophonie auf den Klavieren. Eine rhythmische Teufelei, so, als hätte ein Haufen wahnwitziger Dilettanten einen Konzertsaal gehijackt und führe Minimal Music von Philip Glass auf diese Weise auf. Großer Pfusch eben."
Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (26.11.2016) schreibt, Herbert Fritsch stelle in "Pfusch" seine Ratlosigkeit aus und drehe seine Versuche, dem Theater den Sinnzwang auszutreiben, noch etwas weiter. "Die Bühne bevölkern seltsame Lemuren (...) Sie turnen lebensmüde auf, in oder hinter einer riesigen Röhre, die bedrohlich nach vorne rollt, als wollte sie die Zuschauer unter sich zerquetschen." Weil bei Fritsch die Schauspieler prinzipiell alles können, habe die Schwerkraft an diesem Abend nichts zu melden. Zur Musik schreibt Laudenbach: "Das ist keine Melodie, das ist ein Minimal-Art-Terror vom feinsten."
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (25.11.2016) ist hingerissen: "Angst, Lust, Zweifel, Rausch, Unterwürfigkeit, vorgetäuschte Professionalität sprechen aus den Fratzen. Wenn sie im Verlauf des Abends mit wohlgesetzter Danebenheit Hollywood-Coolness-Posen abstolpern – 'Timing ist keine Stadt in China!' – oder plötzlich wieder mit Würde zum Trampolin wie zum Bade schreiten − herrlich, herrlich, herrlich!"
"Nervtötend, aber kein Pfusch, zu wenig für einen Theaterabschiedsabend", meint Ute Büsing vom RBB (25.11.16). "Ein etwas einfallsloser Abgang des Neo-Dadaisten."
"Der Titel ist gewissermaßen das Programm für eine stolz verstiegene, tollkühn radikale Produktion, die nicht mehr will, als sich in ihrem eigenen Glanz zu sonnen – und dadurch das Publikum zu entzücken", schreibt Irene Bazinger von der FAZ (26.11.2016). "So freisinnig wie sinnfrei geht es munter dahin, und man muss schon ein gescheiter Regisseur sein, damit sich derlei Ungebundenes nicht in garstige Unverbindlichkeit auflöst." Herbert Fritsch sei sogar ein sehr gescheiter Regisseur, "denn er zaubert mit seinem exzellenten Ensemble, das er auf unglaubliche Touren und aberwitzige Temperaturen hochzufahren versteht, wunderbare, bei aller Chaotik streng durchchoreographierte Bilder, Szenen, Atmosphären".
Jan Küveler von der Welt (28.11.2016) schreibt, 'Pfusch' sei ein Witz. "Und selbst wenn er, wie viele Witze, am Ende, wenn die Pointe kommt, zur Müdigkeit neigt, ist es doch eine bekokste Müdigkeit aus lauter Übersprungshandlungen, durchaus im akrobatischen Sinn, wie wenn einer Faxen macht, weil er sich sonst in den Schlaf heulen müsste."
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In meiner Vorstellung wurden Schauspieler nie unterschätzt, denn sie sind und waren immer die Stars. Regisseure kennen nur die Insider, die Theatermacher, der Rest interessiert sich nur für Schauspieler und das war schon immer so. In den Besprechungen von Frisches Stücken werden jedoch fast nie Schauspieler erwähnt, immer aber er und sein Konzept. Klingt nicht nach einem Schauspieler-Regisseur?
PS: By the way, Hamlet ist ein Hammer-Text.
PPS: Siehe dazu auch (sicherlich: Performance!): www.hamlet-x.de/
Die meisten Feuilletons rutschten vor Anbetung fast schon auf den Knien. Schon anderthalb Stunden vor Beginn hoffte eine Menschentraube auf ihr Losglück bei den Restkarten. Aus dem Publikum kommt während der dadaistischen Bühnen-Performance immer wieder vergnügtes Glucksen. Ist der Abend wirklich so "Schön!"?
Umwerfend "Schön!" ist dieser "Pfusch"-Abend nicht. Herbert Fritsch und sein Ensemble bieten eine nette Spielerei, die sich selbst genug und an einigen Stellen zu sehr in die Länge gezogen ist. Es ist schon hübsch, Wolfram Koch und seinen Mitstreitern dabeizuzusehen, wie sie ihr schwarzes Abwasserrohr über die Bühne rollen, auf ihr herumturnen und fast wortlos Grimassen schneiden.
(...)
Das Ensemble frönt seiner Lust am Slapstick. Auch hier ist wieder einiges zum Schmunzeln dabei. Der Abend eignet sich gut als launiges, bereits ausverkauftes Silvester-Programm, hebt aber nicht richtig ab, sondern kommt über Variationen seiner Grundmotive nicht hinaus.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2016/12/10/pfusch-herbert-fritsch-sagt-tschuess-an-der-volksbuehne/
Und wer füllt die Vertiefung, die natürlich – wir sind bei Fritsch! – ein Trampolin verbirgt als Schwimmbad der traurigen Gestalt mit blauen Schaumstoffwürfen, wagt sich aufs eilig gezimmerte Sprungbrett, das natürlich abbricht (was Wolfram Koch in metatheatraler Aufgebrachtheit wüten lässt: “Ich war mal der Don Karlos, du Arschloch!”), taucht in grotesken Posen in die imaginierten Fluten. Wie stets bei Fritsch – der vielleicht Becketts einzig würdiger Erbe ist – sehen wir hier Menschen (oder ihren verzerrten abbildern) beim Scheitern zu, lächerlichen Verlierern, albernen Absurditätsleugnern. Nie war der Abgrund so nah, nie das Lachen so wenig befreiend. Und doch, natürlich befreit es, auch wenn die Tränen gefährlich nahe kommen. Nicht von den Fesseln des Absurden, das wir nicht hinter uns lassen, wenn sich die Saaltüren öffnen. Aber vielleicht – und sei es nur für Minuten – von dem Zwang der Bedeutung, der Notwendigkleit, in allem Sinn zu finden, allem einen Zweck zu geben. Hier führt nichts weiter oder auf irgend etwas zu – die beiden riesigen roten Pfeile, die auf die Darsteller weisen, sind vielleicht der grausamste Scherz des Abends – hier nützt nichts niemandem. Doch was passiert, wenn der Sinn verschwunden ist? Was füllt seinen Raum, nimmt seinen Platz ein? Hier unterscheidet sich Fritsch von Beckett: Wo letzterer die Welt verschließt, öffnet Fritsch sie. Ja, sie ist leer, aber was leer ist, lässt sich füllen. Womit? Versuchen wir es mal mit Fantasie.
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2016/12/10/auf-zehn-klavieren-ins-blaue/
Vielleicht gibt es ausnahmsweise eine Wiederholung?
Gefreut habe ich mich jedenfalls meinen Namen in großen LETTERN an der Berliner Volksbühne zu lesen. Mein verstorbener Vater hätte sich auch sehr gefreut !!!
Fast ein bisschen schade, dass dieser Kommentar kassiert werden wird, denn er ist wahr.