Alte Wahrheiten, neue Koalitionen

von Esther Boldt

Frankfurt, 2. Mai 2008. Natürlich gibt es einen Vorhang. Er ist rot und samtig, er schiebt sich vor dem ersten Akt beiseite, er zieht sich zur Umbaupause für den zweiten Akt zu, er schließt sich zur Pause. Dahinter liegen Räume, die aus Kulissen zusammenschustert sind, aus ungleichen Glasscheiben und spärlichen Möbeln, mit einigen Türen und Vorhängen ausgestattet. Hier kann es stattfinden, das Theater.

Zunächst ist dieser Theaterabend selbst numerisch gegliedert, und das mit gebotener Strenge: Fünf Schauspieler spielen 16 Rollen. Das Spiel vollzieht sich in Echtzeit, und das gleich drei Mal: Drei Mal vergeht die Stunde von 17 Uhr bis 18:15 Uhr, jede Wiederholung ist ein Akt. Aber bei der formalen Präzision bleibt der argentinische Autor Rafael Spregelburd nicht stehen, sie sind allemal die Grundlage für "Die Sturheit".

Eines Tages im März 1939
Ein außerordentlich kluges Stück Theater, gut gebaut, mit ausnahmslos schrulligen Figuren und pointierten Dialogen. Es entstand als Auftragswerk des Festivals "Frankfurter Positionen", uraufgeführt wurde es nun von Burkhard C. Kosminski im Schauspiel Frankfurt. Es erzählt eine Stunde eines Tages im März 1939, der Spanische Bürgerkrieg ist fast vorüber. In einem Haus im Vorort von València treffen 16 Gestalten aufeinander, verschiedene Interessen verfolgend und flüchtige Bündnisse miteinander eingehend. Ständig sind sie damit beschäftigt, ihre Identität zu konstruieren, die sich im nächsten Moment als Trugbild herausstellt – und darum schon wieder wahr sein könnte. Wie heißt es im Stück einmal? "Man sucht das Richtige, und währenddessen findet man andere Dinge."

Dieses Verwechslungsspiel, die Ablenkung und eine sehr moderne Verunsicherung der Grundfesten sind – trotz oder wegen aller Bibelzitate – Motor des Abends. Politisches und Privates wird über Kreuz gesponnen, darunter dräuen Babylon, die Zehn Gebote, das Begehren seines Nächsten Gutes, und die nicht geringe Frage danach, was ein Gut überhaupt darstellt: Kapital oder Idee? Gegenwart oder Zukunft? Die Reise zum Mond oder das Erleben des nächsten Tages? Hausherr ist Jaume Planc, Kommissar bei der valencianischen Polizei. Anstelle in der Kriegswirrnis einen Rest von Ordnung herzustellen, bastelt er an einer Maschine, die den alten Menschheitstraum einer universale Sprache verwirklichen soll.

Ausgeburten einer Fiebernden
Sebastian Schindegger nimmt den humanistisch angehauchten Despoten von der körperlich-komischen Seite. Manisch hetzt er über die karge Bühne und bleckt enthusiastisch die Zähne, springt rücklings auf Bänke und macht Kniefälle. Bei der Entwicklung seines ganz eigenen Esperantos hilft ihm seine Tochter Alfonsa (Anita Iselin), die im Fieber deriliert und einen direkten Draht zu Gott hat, der ihr die Worte in den Mund legt. Jene Sprache, die Vater und Tochter entwickeln, wird zur Metapher: Basiert "Katak" als Sprachwerdung einer humanistischen Idee doch auf grober Vereinfachung, und also, wie der russische Übersetzer Dmitri anmerkt, nur auf dem, was Planc kennt. Und letztlich nicht einmal das: Letztlich sind es nur die Ausgeburten einer Fiebernden, aus der nicht Gott spricht, sondern die Last einer lebenslangen Schuld.

Zugleich fällt Planc eine Liste in die Hände, auf der die Namen angeblicher Rotgardisten und Anarchisten stehen, die einen Hof geplündert haben sollen. Die Liste wird zum zweiten Objekt der Begierde, um das das Verwechslungsspiel seinen Lauf nimmt. Präzise hat Spregelburd die drei Räume zur gleichen Stunde konzipiert, und so entwirrt sich während der drei Akte das Verhältnis der Akteure, eröffnen sich neue Koalitionen und alte Wahrheiten. Kosminski macht aus dem türenschlagenden Metatheater eine kurzweilige Burleske mit ungeheurem Tempo: Sprechgeschwindigkeit, Rollen- und Szenenwechsel sind rapide.

Die Halbwertzeit politischer Ideen
Was geht, wird verdoppelt: Reinhard Mahlberg zeichnet als Roderic Aribau jedes Wort mit einer Geste nach, erhebt als Pater Francisco permanent flehend die Hände zum Himmel über seinem rotwangigen Gesicht, hängt als Schriftsteller Sanchis wie ein weintrunkener Mehlsack in der Ecke. Auch Tim Egloff als internationales Kommando ist hinreißend – er spielt unter anderem den Russen Dmitri und den britischen Brigadisten John. Zwischendurch flattert mit luftiger Leichtigkeit Isabelle Barth als französisches Dienstmädchen, erste Ehefrau oder zweite Tochter durchs Bild. Bei aller Heiterkeit findet diese Versammlung keinen Frieden. Mit rotem Samt, doppeltem Spiel und allem erzählt "Die Sturheit" höchst plausibel von der Halbwertszeit politischer Ideen und persönlicher Lebenskonzepte.


Die Sturheit (UA)
von Rafael Spregelburd
Deutsch von Sonja und Patrick Wengenroth
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer.
Mit: Sebastian Schindegger, Reinhard Mahlberg, Tim Egloff, Anita Iselin und Isabelle Barth.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

In seinem Stück "Die Sturheit" gebe der argentinische Dramatiker Rafael Spregelburd "eine nachdrückliche Vorstellung von der Atmosphäre, die am Beginn von Unterdrückung und Bespitzelung in einem Staat stehen mag", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (5.5.2008). Trotzdem sei es "nicht diese politische Dimension, die das Stück ungemein interessant" mache, sondern die "Logik der Dichtung". Spregelburd spanne "einen dreidimensionalen Theaterraum auf, weil die gleiche Stunde dreimal an je unterschiedlichen Orten im Hause des Polizeichefs Planc auf der Bühne abläuft, lernt der Zuschauer, dass man auch das anscheinend objektive Geschehen auf einer Bühne (und damit in der Wirklichkeit) noch ganz anders und damit noch mal objektiver sehen kann". Der Autor habe damit "endgültig das Genre des philosophischen Slapsticks etabliert, wo die Brüchigkeit und Konstruiertheit dessen, was wir Realität nennen, nicht nur behauptet, sondern sichtbar wird." Regisseur Burkhard C. Kosminiski habe das Stück am Schauspiel Frankfurt "typengenau, mehr als flott, passgenau, aufgekratzt komisch und genregerecht umgesetzt."

Spregelburds "Die Sturheit" entdecke "hinter der humanistischen Sehnsucht nach universeller Verständigung Neid, Wollust und Trägheit", meint Ursula Böhmer in der Frankfurter Allgemeinen (5.5.2008). Dabei seien die "gordischen Handlungsknoten, die Rafael Spregelburd knüpft, ... ungemein amüsant". Er spiele "in seinen Stücken mit Verfremdungseffekten und dem Provisorischen, wenn seine Schauspieler gleich in mehrere Rollen schlüpfen müssen." Dieser "Rollenschlagabtausch, in Frankfurt logistisch brillant verwirklicht, ist für die Akteure ein Fest – und sie feiern mit Lust".

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