Außerhalb der Komfortzone

von Jan Fischer

Braunschweig, 28. November 2016. Am Ende ist es schnell vorbei. Der scheidende Intendant Joachim Klement vernuschelt leicht den Namen der Gewinnerproduktion des diesjährigen Fast Forward Festivals, "Die Troerinnen" von Data Tavadze aus Georgien. Der Publikumspreis geht an "How did I die" von Davy Pieters aus den Niederlanden. Dann noch Blumen für alle, und das letzte Fast Forward in Braunschweig geht in seine letzte Party über. Bei seiner kurzen Rede zur Preisverleihung erwähnt Klement es mit keinem Wort, aber: Ab der nächsten Spielzeit wird das Festival – zusammen mit Klement selbst – ans Staatsschauspiel Dresden umziehen. Data Tavadze wird seinen Preis – eine Inszenierung auf einer großen Bühne – dort einlösen.

Er herrscht also Aufbruchsstimmung auf dem diesjährigen Fast Forward, und während unweit der vier Bühnen, auf denen es stattfindet, die Lichter des gerade eröffneten Weihnachtsmarktes gemütlich leuchten, wird die Komfortzone auf den Bühnen umso öfter mal verlassen.

"Die Troerinnen" fragen, wie es weitergehen soll

In vielem ist die Gewinnerproduktion "Die Troerinnen" symptomatisch für das, was das diesjährige Fast Forward zu bieten hatte. Die Inszenierung basiert nur sehr locker auf der antiken Vorlage des Euripides. Die Zuschauer sitzen im Rechteck um die fünf Darstellerinnen herum, beleuchtet wird die nur von ein paar Stühlen gebildete Szenerie von hartem Neonröhrenlicht. In Data Tavadzes "Troerinnen" geht es um den Krieg – und wie in der Vorlage warten die Frauen. Warten darauf, dass der Krieg vorbei ist, warten auf das, was nun passiert, dass nun endlich etwas passiert. Tavadze lässt seine Troerinnen Geschichten von diversen Bürgerkriegen und militärischen Interventionen in Georgien erzählen, seit dem Ende des Kalten Krieges rumort es immer wieder in dem Kaukasusstaat. Aus Euripides, verschiedenen anderen Vorlagen und den Augenzeugenberichten ergibt sich eine dichte und deprimierende Collage, die immer wieder deutlich fragt: Und jetzt? Wie soll es weitergehen?DieTroerinnen 560 FaFo2016 NEUDie Gewinnerproduktion "Die Troerinnen" von Data Tavadze © Bobo Mkhitar

Gemeinsam haben "Die Troerinnen" mit fast allen anderen Inszenierungen des Fast Forward Festivals, dass sie inhaltlich den Bühnenraum weit hinter sich lassen, sich in die Welt hinauswagen, sich dort umschauen, Fragen stellen. Während im letzten Jahr die jungen Regisseure und Regisseurinnen den Zerfall Europas und seiner Jugend zeigten, wird in diesem Jahr nach Lösungen gesucht, gesamtgesellschaftlich und privat. "Die Troerinnen" versucht, die Kriege der Vergangenheit aufzuarbeiten, um voranzukommen. "Like a Prayer" von Corinne Maier – das Eröffnungsstück des Festivals – begibt sich auf fast ethnologische Weise in einem Kloster auf die Suche nach Spiritualität in Religion. "Situation mit Doppelgänger" von Oliver Zahn und Julian Warner versucht, die Geschichte der Aneignung von Vermarktung schwarzer Tänze spielerisch und tänzerisch nachzuzeichnen, landet dabei mitten im Rassismusdiskurs und tänzelt auch schnell wieder heraus, indem es Stereotype und einfache Erklärungen vermeidet.

Ohne Diskursmief

In "Die süße Tyrannei des Ödipus" von Maria Protopappa aus Griechenland geht es um die Frage nach gerechter Herrschaft, nach den Geheimnissen, die hinter der Macht stehen – auch hier wird der antike Stoff inhaltlich ins Moderne gewendet und aktuelle griechische Verhältnisse werden reflektiert. In "Es war einmal ein Haus" von Gülce Uğurlu aus der Türkei geht es um die Frage urbaner Entwicklung in den Vororten Istanbuls und ihrer Bedeutung für die Menschen, die dort leben – erzählt anhand zweier Schwestern, die ein Haus erben und versuchen, etwas Sinnvolles damit zu tun.ForcedBeauty 560 Jan Hajdelak HustakWeibliche Körperbilder in "Forced Beauty" von T.I.T.S © Jan Hajdelak Hustak

"Forced Beauty" des Kollektiv T.I.T.S. springt mitten rein in aktuelle Diskussionen um weibliche Körperbilder und patriarchale Machtstrukturen. Und kommt mit beeindruckenden Bildern – eingesaut mit Babyöl und Tomatensaft, aber nicht mit Diskursmief – wieder raus. "Sacre – ein Triptychon" von Kevin Barz schließlich wechselt die Perspektive auf das Leben, indem es vom Tod erzählt, von dem, was danach mit dem Körper passiert. Denn nach dem Tod ist der Körper nichts mehr als Fleisch – das zeigt die Inszenierung in dicht übereinander geschichteten Bildern.

"How did I die" – die unpolitische Alternative

Die Inszenierungen aus Georgien, der Türkei und Griechenland versuchen den ganz großen gesamtgesellschaftlichen Bogen zu schlagen. "Like a prayer" und "Sacre" wagen sich aus der Komfortzone heraus, versuchen, andere Perspektiven zu zeigen, aus denen heraus man nachdenken kann. "Forced Beauty" und "Situation mit Doppelgänger" dröseln, differenziert und ungewöhnlich, aktuelle Diskurse auf, versuchen, sie ohne Klischees noch einmal zu betrachten, auf mehr oder weniger witzige und radikale Art.HowDidIDie 560 Anna von Kooji"How did I die" von Davy Peters gewinnt den Publikumspreis © Anna von Kooji

Und steht es mit "How did I die", dem Gewinner des Publikumspreises? Der Trick dieser Inszenierung besteht darin, dass die Darsteller sehr gut rückwärts laufen können. Es sieht tatsächlich aus, als würden sie zurückgespult. Erzählt wird – atmosphärisch dicht und punktgenau inszeniert – die Geschichte eines Mordes, der immer wieder an den Anfang gespult wird und in anderen Varianten und Konstellationen von vorne beginnt. "How did I die" ist sehr gut gemacht, eine spielerische, tänzerische Inszenierung mit dichter Ästhetik – aber so unpolitisch, wie es nur geht.

Untypische Inszenierung

Selbstverständlich darf und kann es keine Anforderung an Theater und junge Regisseure und Regisseurinnen sein, egal aus welchem Land sie stammen, unbedingt politisches Theater zu machen, sich unbedingt an Diskurse und Diskussionen anzukoppeln. Bemerkenswert ist allerdings, dass "How did I die" die einzige der acht eingeladenen Inszenierungen ist, bei der das tatsächlich der Fall ist. Noch bemerkenswerter ist, dass sich die Zuschauer*innen unter all diesen acht durchweg gut oder sehr gut gemachten Inszenierungen diese ausgesucht haben, um ihr den Publikumspreis zu geben. Der ebenso gut bei der Wucht und den wirkmächtigen Bildern von "Forced Beauty" aufgehoben gewesen wäre oder bei der tragikomischen Depression von "Die süße Tyrannei des Öpdipus" – bei beiden Inszenierungen gab es am Ende Standig Ovations.

Erklärungsversuche zu finden wäre müßig, oder zumindest ein eigener großer Artikel. Eine Kluft zwischen politischen Theatermachern und eher unterhaltungswilligem Publikum herbeizuschreiben wäre unfair – und kaum möglich, ohne genau zu wissen, wie viele Menschen abgestimmt haben und wie knapp die Entscheidung war. "How did I die" hat den Publikumspreis auf jeden Fall verdient. Eine typische Inszenierung für die diesjährige Ausgabe des Fast Forward war es nicht.

Von der Beobachtung zum Aktivismus

Festzuhalten bleibt, dass die jungen europäischen Regiearbeiten nicht mehr nur den Zerfall der Gesellschaft konstatieren, nicht mehr nur die Brüche finden, sondern sich mit ihren Arbeiten mitten in diese Brüche hineinstürzen und an Lösungen und Ideen arbeiten. Dass größtenteils die Politisierung von der Beobachtung hin zum Aktivismus fortgeschritten ist. Dass sich kaum eine Inszenierung brav zurücklehnt, sondern der Aufbruch hin zu neuen Ideen und Perspektiven oft zu spüren ist. Allein das stimmt – nach einem so kaputten Jahr wie 2016 – doch milde optimistisch für 2017. Auch, wenn es im nächsten Jahr nicht mehr die Gemütlichkeit des Braunschweiger Weihnachtsmarktes ist, die im Hintergrund leuchtet, sondern die des Dresdner Striezelmarktes.

 

Like a prayer
Regie: Corinne Maier, Ausstattung: Valerie Hess, Dramaturgie: Johanna Höhmann, Künstlerische Mitarbeit: Kris Merken, Musik & Sound Design: Bernhard La Dous, Video: Gernot Wöltjen, Licht, Technische Leitung: Thomas Kohler, Produktion: Franziska Schmidt / stranger in company.
Mit: Julia Bihl, Johannes Dullin.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

Die Troerinnen
von Euripides
Regie: Data Tavadze, Inspizienz: Maia Sakhitkhusisvili, Musik: Nika Pasuri, Ton: Teimuraz Margishvili, Dramaturgie: Davit Gabunia.
Mit: Nato Kakhidze, Ekatarina Kalatozishvili, Magda Lebanidze, Ketevan Shatirishvili, Ia Tchilai. Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

Situation mit Doppelgänger
Regie und Konzept: Oliver Zahn, Julian Warner, Tanzcoaching: Quindell Orton, Klaus Steinbacher, Stimme: Tinka Kleffner, Regieassistenz: Sara Tamburini, Ton: Udo Terlisten, Lichtdesign: Fabian Eichner, Videoassistenz: Hannah Saar, Technische Leitung: Jonaid Khodabakhshi.
Mit: Julian Warner, Oliver Zahn.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Die süße Tyrannei des Ödipus
von Sophokles
Regie: Maria Protopappa, Choreografie: Rhythm Hoppers (Avgoustinos Tran & Vassia Panayiotou), Lichtdesign: Sakis Birbilis, Regieassistenz: Andreas Andreou, Georgia Sotirianakou.
Mit: Maria Apostolakea, Ektor Liatsos, Giorgos Papandreou, Apostolos Pelekanos, Thodoris Skyftoulis, Manos Stefanakis.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

Es war einmal ein Haus
Regie: Gülce Uğurlu, Bühne: Meryem Bayram, Lichtdesign: Yakup Çartık, Sounddesign: Gökhan Deneç, Licht: Rüştü Karabayram, Ton: Hakan Atmaca, Umut Gülday, Produktionsassistenz: Dilara Akan, Yasin Çıray, Furkan Ak, Turan Tayar, Englische Übersetzung: Deniz Vural, Koproduktion mit dem İstanbul Theater Festival.
Mit: Bedir Bedir, Funda Eryiğit, Esme Madra.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

How did I die
Regie, Text und Bühne: Davy Pieters, Tonkonzept: Jimi Zoet, Lichtdesign und Technik: Bob Ages, Coaching: Marc Linssen, Jetse Batelaan, Loes van der Pligt.
Mit: Klára Alexová, Indra Cauwels, Joey Schrauwen.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Forced Beauty
Regie, Konzept und Choreografie: Nela H. Kornetová, Choreografie: Lærke Grøntved, Bühne, Kostüm und Licht: Ann Sofie Godø, Heidi Dalene, Musik und Tonkonzept: Jonas Qvale, Video und Grafik: Jan Hajdelak Husták.
Mit: Lærke Grøntved, Nela H. Kornetová.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

Sacre – Ein Triptychon
Regie: Kevin Barz, Bühne und Kostüme: Josefine Gindorf.
Mit: Fabian Kulp, Maj-Britt Klenke.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

 

Kritikenrundschau

Michael Laages kommentiert auf Deutschlandradio Kultur (27.11.2016): "Klar wird an jedem der vier überraschungsreichen Braunschweiger Abende, wie wenig sich die junge Generation noch um die Traditionen des Schauspieler- und Literatur-Theaters kümmert. Nur aus Griechenland und Georgien kamen Auseinandersetzungen mit echten Texten, und auch dort immer fundamental gebrochen." Ansonsten sei praktisch alles 'Performance' – und wer wolle damit schon wirklich an die großen Häuser; und nicht vor allem in die freie Szene?

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