Die Realität ist löslich

von Sascha Westphal

Bochum, 3. Dezember 2016. Das Bühnenbild, das Raimund Bauer für diesen Doppelabend über den Terror in der Welt und den nicht weniger terroristischen Krieg gegen ihn geschaffen hat, ist eigentlich ungeheuer simpel. Den glänzenden schwarzen Boden teilen grüne Leuchtstoffröhren in kleine Quadrate. An den Seitenwänden und der Hinterwand gehen die Röhren dann in grüne Fäden über, die auch einige Meter oberhalb der Spielfläche gespannt sind. Der ganze Raum wird damit zum Käfig, aus dem es praktisch kein Entkommen gibt.

Natürlich liegt diese Bild-Metapher auf der Hand. Schließlich ist der US-amerikanische Banker Nick Bright, den eine islamistische Splittergruppierung in Pakistan entführt hat, in Ayad Akhtars "Die unsichtbare Hand" eine Geisel, ein Gefangener, der kaum Chancen auf Befreiung hat. Der Imam, der ihn in seiner Gewalt hat, steht auf einer von den Amerikanern geführten Terrorliste. Also dürfen Nicks Arbeitgeber nicht über die zehn Millionen Dollar Lösegeldforderung mit dessen Entführern verhandeln.

"Die unsichtbare Hand": das Spielfeld der Gefangenschaft

Aber die grünen Linien evozieren auch eine zweite, weitaus abstraktere Dimension. Die Bühne wird durch sie zu einem riesigen Raster und verweist damit auf einen virtuellen Raum, der sich perfekt für Planspiele und Gedankenexperimente eignet. Und genau das ist Akhtars well-made-play eben auch. Als Nick die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst wird, macht er seinem Bewacher Bashir, der aus London nach Pakistan emigriert ist, um dort für die islamische Sache zu kämpfen, einen Vorschlag, den weder er noch der Imam Saleem ablehnen kann. Er hat drei Millionen US-Dollar auf seinen Schwarzgeld-Konten. Mit diesem Kapital will er für den Imam an der Börse spekulieren und so selbst das gesamte Lösegeld aufbringen.

die unsichtbare hand3 560 Thomas Aurin uGerastert: Heiko Raulin (Nick Bright), Samuel Simon (Dar), Omar El-Saeidi (Bashir) © Thomas Aurin

Das Geld, das vorher Mittel zum Zweck war, mit ihm konnte Saleem humanitäre Projekte finanzieren, wird zum Motor aller Überlegungen und Handlungen. Der Imam und sein Schüler erliegen seinen Verlockungen und verraten nach und nach ihre Prinzipien. Der perfekt gebaute Thriller um einen Gefangenen und seine Entführer wird zu einem Krimi der Ideen, der ganz in Raimund Bauers schwarz-grüner Matrix-Bühne aufgehen könnte. Doch Anselm Webers deutschsprachige Erstaufführung des Stücks dringt nicht in diese zweite Dimension vor. Sie erhebt sich nicht in die gedanklichen Höhen von Akhtars kühler Analyse der Kräfte, die den Markt und die globale Politik bis hin zu lokalen Verwerfungen regulieren.

Es bleibt ein wacher Geist

Aus einem faszinierenden Gedankenspiel, in dem nichts wirklich festgelegt und keine der Figuren eindeutig lesbar ist, macht Weber handfestes Genre-Theater, das vielleicht von Hollywoods großen Politthrillern träumt, aber in der Realität eher einem ARD-Fernsehfilm gleicht. So wie Heiko Raulin Nick spielt, bleibt nichts mehr von der Faszination dieser Figur übrig. Natürlich erweist sich der Banker auch bei Akhtar als Advokat des Teufels, der nicht nur seine Entführer, sondern auch das Publikum verführt. In Bochum ist er einfach nur ein gieriger Spekulant, der Saleem und Bashir auf die durchsichtigste Weise gegeneinander ausspielt. Raulin geht immer zu weit, in den Momenten der Angst, wenn er zum wimmernden Wrack wird, ebenso wie in denen seiner Triumphe, die er auf vulgäre Weise auskostet.

Ähnlich eindimensional agiert auch Matthias Redlhammer. Saleem ist bei Akhtar Idealist und Realist, Weltverbesserer und Egoist. Doch von diesen Widersprüchen ist bei Redlhammer nichts mehr zu spüren. In dem Moment, in dem er mit seinem angeklebten Bart erstmals die Bühne betritt, erkennt man in ihm den salbungsvoll säuselnden Heuchler, der ohne Zögern Gelder veruntreut und sich schamlos bereichert. Alleine Omar El-Saeidi entzieht sich diesem der Inszenierung eigenen Hang zu simplen Karikaturen. Sein Bashir ist selbst in der deutlich gestrafften Bochumer Textfassung, die viele Nuancen des Textes von vornherein eliminiert, ein komplexer, kaum fassbarer Charakter. Hinter der Fassade des zornigen jungen Mannes verbirgt sich ein wacher, aber auch skrupelloser Geist. Er vertraut sich der unsichtbaren Hand nicht einfach an, er lenkt sie.

"Am Boden": ins Grau der Wüste schießen

Während Akhtar erzählt, wie Geld zu Terror wird, der wiederum neue Geldquellen sprudeln lässt, konzentriert sich George Brant in seinem Monologstück "Am Boden" ganz auf die Kämpfer*innen, die das US-Militär in seinen "War on Terror" schickt. Bis zu ihrer Schwangerschaft war die von Sarah Grunert gespielte Kampfpilotin immer mitten im Kriegsgeschehen. Doch nun bekommt sie eine neue Aufgabe. Von einem Air-Force-Stützpunkt in Nevada aus soll sie eine Reaper-Drohne steuern. Nur kann das Grau der Monitorbilder aus der Wüste am anderen Ende der Welt kein Ersatz für das Blau des Himmels sein, das sie früher so berauscht hat.

Natürlich ergänzen sich die beiden Stücke thematisch. Doch reizvoll wird das Doppel durch eine eher unterschwellige Verbindung: Auch Brant löst eine realistische Situation Schritt für Schritt auf. Die Pilotin verliert an ihrem Bildschirm mehr und mehr den Kontakt zur Realität. Die ständige Überwachung und ein Krieg, der eben nicht mehr auf dem Schlachtfeld geführt wird, gebären paranoide Phantasien und Wahnvorstellungen – die Sarah Grunert allerdings nur ansatzweise mit Leben füllen kann. In der nicht einmal eine Stunde dauernden Inszenierung von "Am Boden" muss sie von einem Gefühlszustand zum nächsten hetzen. Aus einem graduellen Prozess wird so ein plakatives Psychodrama, das die Fragen, die es aufwirft, viel zu schnell beantwortet.

 

Die unsichtbare Hand
von Ayad Akhtar
Deutsche Erstaufführung
Deutsch von Barbara Christ

Am Boden
von George Brant
Deutsch von Henning Bochert

Regie: Anselm Weber, Bühne: Raimund Bauer, Kostüme: Irina Bartels, Musik: Thomas Osterhoff, Video: Bibi Abel, Sounddesign: Friedrich M. Dosch, Licht: Bernd Felder, Dramaturgie: Olaf Kröck / Alexander Leiffheidt, Sprachcoach Punjabi: Qamar Naqvi.
Mit: Samuel Simon, Heiko Raulin, Omar El-Saeidi, Matthias Redlhammer / Sarah Grunert.

Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, zwei Pausen

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"'Die unsichtbare Hand' (...) wirkt wie ein Stück virtuelle Realität, eine Versuchsanordnung auf Basis tatsächlicher Konflikte", schreibt Max Florian Kühlem in den Ruhrnachrichten (5.12.2016). Die Darsteller, "allen voran Omar El-Saeidis doppelgesichtiger Entführer Bashir", hielten die Spannung durch "solides, aber manchmal etwas eindimensionales Spiel" am Kochen. Sarah Grunerts Monolog in "Am Boden" würdigt Kühlem als "eindrucksvolles Solo".

Im Deutschlandradio Fazit (4.12.2016) spricht und auf der Seite des Deutschlandfunks (5.12.2016) schreibt Dorothea Marcus begeistert von Stück und Inszenierung, die zum Ausdruck brächten, "wie jede moralische und demokratische Veranstaltung ein hilfloses Feigenblättchen ist, angesichts der digitalen Übermacht, der wir letztlich ausgeliefert sind". die Schauspieler agierten "glänzend", allen voran Omar El-Saedi, der den Terroristen Bashir als "schillernde Robin Hood-Figur anlegt". Nur "schlüssig" sei es , wenn im Monolog "Am Boden" Sarah Grunert eine Drohnenpilotin spiele, die "vor lauter Entfremdung und Überwachung in den Wahnsinn" gehe. "Letztlich erscheinen an diesem Abend doch alle menschliche Schicksale und moralischen Werte nur noch lächerliches Spielmaterial im Netz des Finanzkapitalismus."

Mit dem ersten Teil dieses Doppelabends ist Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (7.12.2016) unzufrieden: "Zieht man die Thriller-Effekte ab, erweist sich 'Die unsichtbare Hand' als satirisch zugespitztes Denkspiel für BWLer auf der einen, Globalisierungskritiker auf der anderen Seite. Doch Anselm Webers schwerfällige Regie mag sich weder für den kompakten Thriller noch für die smarte Satire entscheiden; in dieser Form sind Stück und Regie tot wie kaltes Hammelfleisch." Bei "Am Boden" hingegen herrsche "eine ganz andere Dynamik. In diesem Fall erweist sich Webers vornehme Zurückhaltung einmal als Vorteil". Aus dem Monolog werde in Bochum ein "fabelhaft morbides Solo für Sarah Grunert".

 

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