Nicht der Gewalt erliegen

von Andreas Thamm

Coburg, 3. Dezember 2016. Das Wort "Versuch" ist wichtig an diesem Abend in Coburg, als Zustiegshilfe in das Stück, in diese Inszenierung. "Wut" ist unterteilt in zehn Versuche. Nummer eins: "Messe der Experten". Nummer zwei: "Orientierung. Zehn: "Heimatliebe". Die Bühne der Coburger Reithalle ist keine Bühne, auf der etwas vorgeführt, sondern ein "Labor", in dem etwas angerührt wird.

Installation

Das Publikum betritt diese begehbare Rauminstallation, jeder sucht sich selbst seinen Platz irgendwo zwischen Fußballtor, Waschbecken und DJ-Pult und setzt sich auf einen Styropor-Kubus. Ein Gutteil muss stehen bleiben. Die sechs Schauspieler bespielen diesen Parcours sowie das Publikum, direkt, unmittelbar. Die Kostüme sind absurd-schreckliche, bunte, falsche Collagen. Das ganze Bühnenbild steht manifest für unsere chaotische Welt post-2015.

Elfriede Jelinek schrieb "Wut" unterm Eindruck des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Sie hat den Theatern einen ihrer Textmonolithe hingeknallt, auf dass sich die Regisseure dran abarbeiten. Nicolas Stemann hat "Wut" in München uraufgeführt – schlanke vier Stunden hatte seine Inszenierung. Die Coburger Version von Axel Sichrovsky nimmt halb so viel Zeit in Anspruch. Viel, viel Textarbeit war also sicher nötig.

Sich dem Terror annähern

Und trotzdem bleibt die Jelinek überdeutlich präsent; und eben ihr Versuch: Der Text ist ein Netz, der Kontext des Terrors, eine Methode, sich schreibend an die Unbegreiflichkeit der sinnlosen Gewalt anzunähern. Angesichts einer lebhaften Debatte um das politische Theater und der Vielzahl an gelungenen und nicht so gelungenen Stücken, die sich mit dem Islam-bis-AfD-Komplex auseinandersetzen, ist es nach wie vor eine gewaltige und wohltuende Botschaft der Altmeisterin: So macht man das.

Wut1 560 Henning Rosenbusch u Eva Marianne Berger in "Wut" in Coburg  © Henning Rosenbusch

Eva Marianne Berger leiht der Autorin selbst zum Ende ihre Stimme: "Wie kann ich mich in diese Leute hineinversetzen? Ich kann es nicht!" Den Autor, der heute noch Antworten hat für die Welt, kann es nicht –, den, der die Fragen stellt, muss es vielleicht geben. Das ist nicht neu, klar, lässt sich aber auch nicht ändern.

Schau und Pathos

Sichrovskys Inszenierung des undramatischen Dramas erweitert die oft abstrakten, sperrigen Textfelder mit ordentlich Schau und Pathos. Versuch Nummer fünf heißt "Bild dir einen Gott". Nils Liebscher wird dazu aufgebahrt und eingegipst, das Publikum hilft mit. Am Ende trägt er ein Horn auf der Stirn und weiße Bahnen und über den Augen, der Brust. Die E-Gitarre und Streicher sägen, und auf einmal ist alles ganz seltsam ergreifend.

Die sechs Schauspieler haben sich festgebissen in Jelineks Text und liefern intensives, schmerzhaftes Theater. Es ist ebenfalls Liebscher, der sich am Fußballtor entlang hangelt, den Kopf unter Wasser taucht und von Sarah Zaharanski Watschen kassiert; Training für den Dschihad: "Wir lehnen es ab zu weinen!" Sie sind die Terroristen, aber sie sind auch die Zeichner, die ihren eigenen Tod reflektieren und sie sind, immer wieder, sie selbst, die Schauspieler im Labor.

Wut3 560 Henning Rosenbusch uOliver Baesler und Sarah Zaharanski in "Wut", die Bühne baute Michael Graessner 
© Henning Rosenbusch

Heidegger-Schuhplattler

Das Heraustreten aus der gebotenen Ernsthaftigkeit ist ein essenzielles Element, um nicht dem Pathos von Gewalt und Sprache zu erliegen. Oliver Baesler, soeben noch junger Rekrut und überzeugt, dass nur sein Gott groß sei, möchte das alles nochmal ganz anders angehen: "Nehmen wir Zeus, damit beleidigen wir niemanden!" Die Kollegen und ein Publikumsmitglied sind angehalten über eine Zeus-Reflektion zu improvisieren, Baesler loopt die Sprachfetzen über einen Beat, bis ein irrsinniger Zeus-Track entstanden ist: "Huaaa!"

Und wo Wut ist und postdramatische Ironie, ist der Weg nicht weit zur popkulturellen Ikone ebendieser Emotion: Nils Liebscher verpackt Thorsten Köhler in einen grünen Ganzkörperanzug und triezt ihn, bis aus einer Labor-Ratte ein Hulk geworden ist, der stühleschmeißend durch die Arena tobt. Papierflieger segeln, es dröhnt aus den Boxen. Dann aber raus aus dem Hulkanzug und rein in den Lodenjanker: "Lederjacke: Deutschland! Fielmann: Deutschland! Give me five, Deutschland!" Auf Comic-Geschmetter folgt Heidegger-Schuhplattler.

Durchatmen. Eine Inszenierung voller Ideen, die den Effekt nicht scheuen, sechs Schauspieler, die sich verausgaben, ein Text auf der Höhe der Zeit, das alles im kleinen Saal im kleinen Coburg. Jelineks "Wut" in der Inszenierung von Axel Sichrovsky wühlt ziemlich tief und wird in dieser Nacht noch viele Hirne beschäftigen. Der Applaus ist entsprechend laut und lang. Fragen gibt es sicher viele, neue Antworten leider nie: "Das Problem ist wie üblich, dass sie niemand liebt."

 

Wut
von Elfriede Jelinek
Regie: Axel Sichrovsky, Bühne und Kostüme: Michael Graessner, Moritz Nitsche, Musik: Oliver Baesler, Choreografie: Mark McClain, Dramaturgie: Carola von Gradulewski.
Mit: Eva Marianne Berger, Sarah Zaharanski, Oliver Baesler, Thorsten Köhler, Nils Liebscher, Boris Stark.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.landestheater-coburg.de

 

Kritikenrundschau

Ein "unkonventionelles Theatererlebnis" mit "darstellerischer Intensität" nennt Dieter Ungelenk Axel Sichrovksys Jelinek-Versuchsanordnung in der Neuen Presse (5.12.2016). Der Abend lohne den Besuch, auch wenn manches kryptisch bleibe. Als tragikomischen Höhepunkt des Abends bezeichnet Ungelenk die "Monsternummer" von Thorsten Köhler, "in der ein systematisch Gedemütigter ausrastet und schließlich unter den Klängen des Deutschlandlieds seinen pathetischen Nationalismus förmlich herauskotzt". Das Ende liest der Rezensent als "Kapitulation der Kunst vor der Gewalt": "Das Stück geht in die Luft."

"Spannend, oft skurril, sehr einfallsreich, auch vorsichtig witzig trotz des mörderischen Schreckens unserer Terror-Zeit" fand's Carolin Herrmann und schreibt im Coburger Tageblatt (5.12.2016): Die Zuschauer seien mittendrin, aber "keine Angst, sie müssen keine blöden Dinge tun." Das Ensemble verweigere sich "niederdonnernder Epochaldüsternis" und gehe Jelinek satirisch an, produziere so ein "ganz starkes Stück Theater" und rege nebenbei auch noch zur Jelinek-Lektüre an.

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