Spy Game

von Petra Hallmayer

München, 10. Dezember 2016. Sie können Gesetze brechen, ohne belangt zu werden und in das Leben selbst des bravsten Bürgers eindringen. Spätestens seit den Enthüllungen des Whistleblowers Snowden und dem NSA-Skandal kann keiner mehr leugnen, über welch gespenstische Macht sie verfügen. Einblicke in die undurchschaubaren und kaum zu kontrollierenden Netze der Geheimdienste versprechen Rimini Protokoll in ihrem neuen Projekt "Top Secret International (Staat 1)", das den Auftakt einer Tetralogie bildet. Für die aufwendige Kammerspiel-Produktion hat die Gruppe einen ungewöhnlichen Spielort gewählt: die Münchner Glyptothek.

Am Eingang des Museums für antike Skulpturen erhalten die Besucher Kopfhörer und Notizblöcke, ehe sie einzeln zum Rundgang aufbrechen. Bald schon meldet sich im Kopfhörer wechselweise eine männliche und eine weibliche Stimme, die "das System" vertritt, das immer weiß, wo man sich gerade befindet und einen fortan durch die Säle dirigiert. Mal werden uns kleine Aufgaben gestellt ("Mach ein Stoneface!"), mal hören wir Interviews mit Experten, etwa dem früheren israelischen Botschafter Avi Primor, einem Sprecher der Firma Hacking Team, einem Geheimpolizisten, CIA- und BND-Mitarbeitern.

Wachsamkeit und Paranoia

Sie schildern Auslandseinsätze, Beschattungsaufträge und die gruselig realen Möglichkeiten der totalen Überwachung. Sie erzählen von der Ausbildung von Spionen, davon, wie man jenen Blick erlernt, für den nichts mehr selbstverständlich und harmlos ist, alles zum Indiz wird. Wie da ein Insider die Ausweitung des Verdachts beschreibt, die Verwischung der Grenze zwischen Wachsamkeit und Paranoia, das erinnert an die Thesen des Soziologen Luc Boltanski und gehört zu den fesselndsten Momenten der Inszenierung. Überhaupt stellen die Interviews, die etwas unbeholfen mit Verweisen auf die Exponate verbunden werden, den spannendsten Part von "Top Secret International" dar. Darauf hätte man sich sehr gerne in Ruhe konzentriert. Die interaktiven Spiele jedoch, die Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel um das Recherchematerial herum inszeniert haben, sind erstaunlich belanglos.

TopSecret2 560 BennoTobler uVerdächtig, verdächtig! © Benno Tobler

Beharrlich versucht uns die Stimme des Systems einzureden, dass wir von verdächtigen Subjekten umgeben sind, die nur zur Tarnung den Barberinischen Faun oder den Kopf des Marc Aurel betrachten. Das aber ist zu albern, um einen tatsächlich zu verunsichern. Via Kopfhörer werden uns Fragen gestellt, die darüber entscheiden, wie unser Parcours weiter verläuft, doch auf die man schwerlich ernsthaft antworten kann. So sollen wir mittels Handzeichen signalisieren, ob wir eine E-Mail auf dem Laptop unseres Partners öffnen würden, die einen "seltsamen Betreff" aufweist. Was bitte soll das sein? Ein Liebesgruß von Susi? Die Ankündigung eines Selbstmordattentats? Sind die Fragen konkreter formuliert, malen sie Szenarien aus, angesichts derer kein normaler Mensch weiß, wie er sich verhalten würde. Wer kann schon sagen, ob er fähig wäre, jemandem "Gewalt anzutun", um Menschenleben zu retten.

Schließlich dürfen wir noch ein bisschen Geheimagent spielen. Wir erhalten eine Einladung zu einem konspirativen Treffen im Museumscafé mit einem anderen Besucher, dem wir einen Zettel in die Hand schmuggeln müssen. Dann werden wir auf die Toilette gelotst, wo wir die Geschichte eines Iraners hören, den der Geheimdienst mit brutalsten Mitteln gezwungen hat, für ihn zu arbeiten. Daneben klingen die Versuche des Audioguides, uns das Fürchten zu lehren mit Sätzen wie "Denkst du, die Toilette wäre ein sicheres Versteck?" oder "Hörst du Geräusche aus der Kabine nebenan?" nicht nur kindisch, sondern fast obszön.

TopSecret3 560 BennoTobler uSpionage für jüng und alt © Benno Tobler

Wie viele Projekte des Regiekollektivs basiert "Top Secret International" auf der Vorstellung, dass inszenierte Live-Erlebnisse uns mehr über die Wirklichkeit vermitteln als reine künstlerische Fiktion. Darüber lässt sich streiten, doch immer wieder ist es Rimini Protokoll geglückt, Realität und Fiktion so intelligent zu verknüpfen, dass daraus unvergessliche Theaterabende entstanden sind. Hier aber wirkt die Umsetzung der Publikumseinbindung befremdend kopflos und naiv. So schlicht wie bei diesem Museumsspaziergang lässt sich Wirklichkeitserfahrung nicht simulieren. Statt es in interaktive Spielereien einzubetten, hätte man aus dem Interviewmaterial ein aufregendes Hörspiel machen können. Das wäre sinnvoller gewesen.

 

Top Secret International (Staat 1)
von Rimini Protokoll
Regie: Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, Recherche / Interviews: Kefei Cao, Timothy Carlson, Uwe Gössel, Alexander Manuiloff, Shahab Anousha, Interaction Design: Steffen Klaue, System Development: Martin Ohmann, Stefan Curow, Technische Leitung: Sven Nichterlein, Ausstattung: Dido Govic, Lena Mody, Katharina Schütz, Produktionsleitung: Jessica Páez, Spielleitung: Anna Donderer, Daniel Schauf, Dramaturgie: Imanuel Schipper,  Sprecher: Peter Brombacher, Wiebke Puls, Anna Drexler, Katja Bürkle.
Dauer: ca. 1 Stunde und 30 Minuten

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Patrick Bahners, der die Inszenierung für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.12.2016) sah, meint dieses Stück könne leicht "nach New York exportiert werden, es ist nur scheinbar ortsspezifisch." Außerdem fragt Bahners: "Ist es unfair zu erwähnen, dass am Premierentag dauernd das System zusammenbricht?" Er sah "zwei von Anfang bis Ende geheimnislose Stunden. Die Schnitzel für diese Jagd wurden produziert durch das Zerreißen eines unsichtbaren Blattes Konzeptpapier."

"Der Erlebnischarakter führt nicht zwingend bei jedem Zuschauer zu einer tieferen Reflexion", meint Christoph Leibold auf Deutschlandradio Kultur (11.12.2016). "Dauernd wird man aufgefordert, irgendwo hinzuschauen, hinzugehen." Das erfordere so viel Konzentration, dass man den Aussagen der oft hochkarätigen Experten meist nur oberflächlich folgen könne. "Bedauerlich. Die Chance richtig zuzuhören lässt einem 'Top Secret International' leider nicht."

"Auch wenn ich meine, allein zu sein, fühle ich mich beobachtet. Ist das schon Paranoia?“, fragt sich Bernd Noack auf Spiegel-Online (11.12.2016). Rimini Protokoll hätten ihn in ein perfekt ausgeklügeltes Spiel verwickelt. Ein direkter Zusammenhang zwischen der hier in Szene gesetzten antiken Wirklichkeit und der Geschichte bestehe nicht, aber gerade das mache den Reiz aus: "Der neutrale Ort wird zum Schauplatz globaler Verwicklungen, ja sogar Verbrechen und versteckter Aktivitäten, die helfen, einen Krieg vorzubereiten oder einen Terror-Anschlag zu verhindern."

"Den glaubhaft authentisch erscheinden Geschichten, erzählt in einer Umgebung aus Zeugnissen einer 'versteinerten' Vergangenheit, steht eine Spielsituation gegenüber, die auch vor Albernheiten nicht zurückschreckt", beobachtet Matthias Hejny in der Abendzeitung (12.12.2016). Eine der Regieanweisung laute, sich wie der "Barberinische Faun" zu räkeln. "Ein derart auffälliges Verhalten widerspricht den Grundregeln, die der Spion-Nachwuchs im Trainingslager Glyptothek nach wenigen Schritten begriffen hat", so Hejny: "James Bond wäre nicht gerührt, sondern hätte sich geschüttelt."

"Mit dem Stück gelingt es Rimini Protokoll kaum, Geheimdienste auf eine taktile, weniger abstrakte Ebene zu holen", schreibt Lukas Latz in der Süddeutschen Zeitung (12.12.2016). "Trotzdem könnte das Stück für viele Zuschauer ein Weckruf sein, sich mit den Gefahren von Überwachung und intransparenten Sicherheitsbehörden auseinanderzusetzen. Und Datenschützern legt es nahe, dass gute Geheimdienstarbeit die Gesellschaft schon auch sicherer macht."

Man erfahre wenig Neues, findet auch Sabine Leucht in der tageszeitung (13.12.2016). Es stecke durchaus Wissenswertes in den Interviews. Allerdings sei man zu sehr okkupiert "von diesen unbeholfenen bis ärgerlichen Immersionsspielchen. Aufforderungen wie 'Mach ein Stoneface!' sind albern, die dauernde Frage, ob man sich beobachtet fühlt, ist nur blöd."

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