Ihr letzter Schrei

von Tim Slagman

München, 10. Dezember 2016. Die Häscher Kreons, sie sehen aus wie Orwell'sche Panzerknacker oder wie die grauen Herren von Momo mit schwarzer Schlafmaske. Ein popkulturelles Konglomerat irgendwelcher dystopischer Faschismen stellen sie wohl dar, und das geht in dieser Inszenierung noch als avantgardistisches Element durch. Hans Neuenfels, der ja bekanntlich ein großer Drastiker sein kann und ein zupackender, mutiger Interpret von Texten, hat in seiner ersten Premiere nach dem Lebenswerk-"Faust"eine bemerkenswert bildschwache Ästhetik gewählt, in der zwei Götter-Statuen über das Geschehen ebenso wachen wie der Schriftzug "Der Krieg ist vorbei. Das Lied der Vögel könnte beginnen" auf zartblauer Mauer. Davor eine Sitztruhe, Schränke, ein Altar, der auch als Museumsbank dient.

Alle Bewegung in, vor und zwischen diesem statischen Aufbau von Katrin Connan auf der Bühne des Münchner Residenztheaters geht von den Schauspielern aus, und manche von ihnen dehnen ihre Figuren bis an die Grenze der Karikatur und darüber hinaus: Norman Hacker wirft sich deklamatorisch in die Pose des neuen Königs von Theben, die Arme so gönnerhaft wie selbstsicher ausgebreitet zur Bekanntgabe der neuen Ordnung. Zerstört wird diese Selbstsicherheit viel zu spät durch das zombiehafte Zucken, das kehlige Raunen unter den halboffenen, verdrehten Augen von Michele Cucioffo, der als Seher Teiresias diesem Kreon sagt, dass sein Dekret die Stadt und ihn selbst ins Unglück stürzen wird.

Die statuesken Augen der Tradition

Und Anett Pachulski stakst als Königin Eurydike im gleißenden Glitzerkleid auf die Bühne und hört sich stumm und zunächst starr, dann den Oberkörper auffordernd wie ein Klappmesser nach vorne wiegend und, kurz vor der grausamen Enthüllung der Wahrheit, in irrtümlichem albernem Geklatsche den Bericht des Boten an, der ihr erzählt, dass ihr Sohn Haimon sich nach dem Tode seiner Verlobten Antigone entleibte.Antigone2 560 MatthiasHorn uDas Lied der Vögel könnte beginnen, doch es beginnt das Heulen und Hampeln
© Matthias Horn

Was aber soll dieses Gehampel unter den statuesken Augen der Tradition, eine Bildmetapher also, die doch eigentlich nichts anderes suggerieren kann als die implizite Forderung, sich diese Tradition erst recht zu eigen zu machen? Der Stein des Sisyphos möge zerstört werden, wünscht sich folgerichtig die Frau aus Theben – eine Rolle, die Neuenfels für seine Weggefährtin Elisabeth Trissenaar aus dem Chor entwickelte, dessen Text er gemeinsam mit Philipp Lossau um eigene Passagen angereichert hat. Eine Mutter ist diese Frau, die ihren jüngsten Sohn im Krieg um Theben verloren hat, und Neuenfels hat aus ihr eine große Vermittlerin gemacht, die etwa Haimon immer wieder dazu drängt, dem Vater Kreon Vernunft einzureden. Sie, die nach antiker Tradition die Bühne niemals verlässt, ist das eigentliche Zentrum einer Inszenierung, in der die Männer entweder Despoten, Jammerlappen, Clowns oder eben Panzerknacker sind.

Heulen und Zähneklappern

Nun gehört es zum Los der Vermittlerin – zumal zu dem der erfolglosen –, dass sie unauffällig bleibt. So unauffällig wie Neuenfels' andere behutsame Modernisierungen, die letztlich doch nichts weiter sind als Tropfen auf dem heißen Stein des Sisyphos. Wie etwa Valery Tscheplanowa nach der Ergreifung Antigones, die widerrechtlich ihren Bruder beerdigen wollte, an Händen und Füßen gefesselt und mit erstaunlicher Entschlossenheit Schiebeschritt für Schiebeschritt Richtung Bühnenrand drängt und mit lauter, kalter, beinahe roboterhafter Stimme ihre Motivation erklärt – das Recht der Götter –, dabei "Ewigkeit" brüllt, wie sie überhaupt immer wieder ins Brüllen gerät – das zeugt in aufgeklärten und gleichzeitig terrorverängstigten Zeiten von einem Fundamentalismus, der sofort Distanz zu dieser Figur herstellt.Antigone1 560 MatthiasHorn uVermittlerin, Fundamentalistin, Gott (Elisabeth Trissenaar, Valery Tscheplanova, Statue)
© Matthias Horn

Die verlorene Nähe kann die Inszenierung aber nicht zurückgewinnen. Und Nähe ist entscheidend für eine Theaterkonzeption, die an den Menschen in der Figur glaubt, die sich in die inneren Kämpfe stürzen möchte, die da toben – für eine Konzeption, die ihre Darsteller schreien und heulen und verzweifeln und zusammenbrechen lässt.

 

Antigone
von Sophokles
Übersetzung von Ernst Buschor in einer Bearbeitung von Hans Neuenfels und Philipp Lossau
Regie: Hans Neuenfels, Mitarbeit Regie: Philipp Lossau, Bühne: Katrin Connan, Kostüme: Michaela Barth, Komposition: Arno Waschk, Licht: Stefan Bolliger, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Valery Tscheplanowa, Anna Graenzer, Elisabeth Trissenaar, Norman Hacker, Jörg Lichtenstein, Christian Erdt, Michele Cuciuffo, Thomas Huber.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Ein arger Humbug und ziemlich schwacher Tobak" sei das, was da auf der Bühne abgehe, findet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (12.12.2016) klare Worte. Als Schreihälse polterten die Figuren über die Bedeutung ihrer Worte hinweg. "Irgendetwas ist grandios falsch gelaufen in dieser hohlbrüstigen, dick überzeichneten Neuenfels-Inszenierung, die aber so daherkommt, als sei das alles gewollt und in bester Ordnung."

"Als ob da jemand im Museum der Inszenierungen nochmal nachgeschaut hat und auf dem Weg zurück ein paar Kisten aufgeplatzt sind, aus denen dann die traditionellen Vorstellungen von Spiel und Rolle und Sprechen herausquellen", schreibt Michael Stadler in der Abendzeitung (12.12.2016) – Neuenfels arbeite gewiss nicht an der Zukunft des Theaters. "Aber er zeigt Geschlechterdramen auf, die wohl noch nicht zu Ende sind: Die Frau von Kreon (Anett Pachulski) steckt drall in einem Glitzerkleid, der Ausschnitt öffnet den Blick auf die Mutterbrust. Mehr darf sie nicht sein: eine Mutter und ein Ausstellungsstück." Und auch Antigone (Valery Tscheplanowa) verschaffe sich als "Frau im Anbruch der Moderne" immerhin "vehement kraftvoll" Gehör.

"Eine etwas harmlos-handwerkliche Inszenierung, die neben einer phantastischen Hauptdarstellerin vor allem von ihrer guten Ausstattung – Licht, Tonspur und Requisiten – lebt" hat Simon Strauss gesehen und schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.12.2016): Immer wieder wirke die Regie "geradezu opernhaft-statisch". Was man "zumindest" sagen könne, sei, dass Neuenfels' "Antigone" nicht prahlend-überheblich daherkomme, sich nicht über, sondern hinter den Text stelle. "Allerdings durchdringt sie ihn auch nicht wirklich."

Michael Skasa schreibt in der Zeit (15.12.2016): Neuenfels knalle den Zuschauern Antigone "im gebrüllten Stechschritt vor die Lätze". Zwei Stunden, "Satz um Satz zerhackt, verschluckt und röhrend ausgespuckt, mit Volldampf und der Kraft von Hantelstemmern." Kaum was sei zu verstehen. Statt "die Diskussion der Thesen und Behauptungen in ihrer Gefährlichkeit unsrer scharfen Überprüfung auszuliefern", haue Neuenfels "aufs Theaterblech". Er zeige "keine Menschen", sondern "Kasperlfiguren", die »Theater« spielen müssten.

Kommentare  
Antigone, München: hochqualitativ
Da hat der Kritiker wohl nur hingesehen und nicht hingehört.
Und selbst dabei jene gefühlten 100 Quadratmeter exquisitester Malerei(?) übersehen, die zwar den offensichtlich vorgeprägten Wunsch des Kritikers nach sogenannter bildstarker "Ästhetik" wohl nicht befriedigen, mich hingegen mühelos ohne weiteres in eine weitere Vorstellung ziehen werden.
Nun muss ja nicht jeder ein Freund des hochqualitativen stehenden Bildes sein.
Aber der könnte ja zuhören.
Und dann wäre ja schnell klar, dass die beschriebene mangelnde "Nähe" mitnichten ein Mangel der Inszenierung ist und auch keine Zutat derselben: Es ist Kern des Stücks dass Kreon und Antigone jegliche menschliche Nähe oder Wärme ablehnen (müssen) und alle anderen diese nicht finden (können). Oder waren Sie inicht einem anderen Stück?
Und das hat sich für mich hervorragend eingelöst, an einem Abend, an dem es sich schlichtweg verbietet, ihn mit Kleinigkeiten wie der auch nur gelegentlich eigenwilligen Tonfärbung von Frau Tschepanowa oder einer sicherlich skurril beabsichtigten Verrenkung einer Statistik herunterreden zu wollen.
Und Herrn Lichtenstein muss man erwähnen, sein Wächter ist Weltklasse. Für meine Empfindung jedenfalls.
Antigone, München: seltsam fremd
Ich erlebte die Premiere ähnlich. Anfangs hoch motiviert, immer wieder von der Frau von Theben gebunden. Die anderen Figuren scherten trotz ihrer Professionalität schnell aus. Antigone schrie oft, Kreon gestikulierte stolz herum, die Wache (Bühnenarbeiter?) drapierte sich martialisch. In der zweiten Stunde wanderte mein Blick oft auf die Uhr. Es zog sich und die acts blieben in ihrer Kumulation seltsam fremd. Antigone starb, Haimon starb, Kreon kroch, die Königin stakste ohne ersichtlichen Auftrag. Lichtblick der Seher als Solo eines Geschehens, das mich zunehmend nicht mehr berührte. Was blieb? Elisabeth Trissenaar.
Antigone, München: Rettungsanker
Mir erging es ganz ähnlich. Die Inszenierung war sehr erfüllt von Pathos, Heiligkeit und demonstrativem Leiden der Schauspieler. Doch auch ich finde neben Frau Trissenaar sollt man Jörg Lichtenstein als Rettungsanker nicht unerwähnt lassen... wieso der Kritiker den stärksten Auftritt des Abends hier verschweigt ist mir ein Rätsel!
Antigone, München: Gesamtleistung
Einfach peinlich, wie hier einzelne Schauspieler herausgehoben werden (...). Wenn denn jemand zu erwähnen wäre bei einer so geschlossenen Gesamtleistung, dann ist das doch Philipp Lossau. Die Zukunft wírd es zeigen.
Antigone, München: Zukunftsweisend
Wozu werden wohl Programmhefte gedruckt? Gerade bei einer Premiere sollten auch die allwissenden Theaterkritikerinnen u. -Kritiker diese Hefte kurz lesen. Hans Neuenfels hat darin deutlich beschrieben, dass er nicht an einem Wiederkäuen der Jahrhunderte üblichen Antigone-Deutung interessiert ist, diesem Konflikt zwischen Gesetzeshörigkeit u. Zivilcourage. Nein, Neuenfels will die Kraft des einzelnen Menschen aufzeigen und jeden Einzelnen animieren dem Mythos, dem Schicksalhaften zu widerstehen. Das gelingt ihm in der Aufführung erstaunlich überzeugend. Und das Wegwischen des Mythischen, des üblichen Klassiker-Getues hin zu einer modernen, dem epischen Theater Brechts ähnlichen Inszenierung hat diesen Antigone-Abend für mich einmalig gemacht. Eine neue Art mit den tollen alten Griechen-Mythen und Autoren umzugehen!Zukunftsweisend!
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