Diagnose Islamismus

von Michael Wolf

Berlin, 11. Dezember 2016. Im Programmheft steht, man könne an diesem Abend einem Islamisten bei seiner Radikalisierung zusehen. Im Programmheft steht auch, das Stück verurteile und entschuldige nicht, und dass der Abend die Frage nach Gott in unserer säkularen Gesellschaft stelle. Die Erwartungen sind dementsprechend hoch: Vielleicht verstehe ich durch das Stück tatsächlich ein bisschen besser, warum sich Muslime radikalisieren? Vielleicht kapiere ich endlich, warum Menschen den religiösen Zwang der westlichen Freiheit vorziehen? Vielleicht ertappe ich mich sogar bei dem Gedanken, dass der Eiferer mir etwas voraus hat? Um es abzukürzen. Die Antworten lauten Nein, nein und nein. (Sie können die Lektüre hier auch abbrechen. Schauen Sie doch lieber einen BBC-Film von Adam Curtis an.)

Nuran David Calis' eigene Uraufführung seines Stücks "Kuffar. Die Gottesleugner" erzählt eine postmigrantische Geschichte in zwei parallelen Strängen. Der erste spielt während des dritten Militärputschs durch türkische Militärs im Jahr 1980. Ayse und Ismet sind verliebt und revolutionär gestimmt. Aber dann wird Ayse schwanger, und Ismet drängt sie dazu, ins sichere Deutschland zu fliehen. Ayse wird ihm seine Feigheit nie verzeihen. Aber da sind wir schon beim zweiten Strang, der in der Gegenwart spielt: Das Paar hat sich bestens in Deutschland integriert. Ismail lebt sein Salonrevoluzzertum aus, indem er Artikel in Gewerkschaftszeitungen veröffentlicht. Ayse hat ihre Verachtung gegen ihn meist ganz gut im Griff.

Radikalisierung = Labilisierung

Nur ihr Sohn Hakan kommt nicht auf Deutschland klar. Er hat seine Stelle als Krankenhausarzt verloren, weil er Medikamente für den Roten Halbmond geklaut hat. Seine Frau hat er auch in die Wüste geschickt und ist wieder bei den Eltern eingezogen. Dort arbeitet er an seiner neuen Karriere als islamistischer Youtube-Prediger Abu Ibrahim. (Youtuber dieses Typus gibt es tatsächlich. Einer der Stars der Szene ist der deutsche Konvertit Pierre Vogel.)

Kuffar1 560 ArnoDeclair hDer Islamist und seine Eltern – (im Video:) Vidina Popov, Christoph Franken, Ismail Deniz,
(sitzend:) Harald Baumgartner, Almut Zilcher © Arno Declair

Die atheistischen Eltern schockiert der Glaubenseifer ihres Sohnes. Sie geben sich Mühe mit ihm und können doch nicht verhindern, dass ihr Sohn immer radikaler und labiler wird. Als der Vater schließlich mit ihm bricht, weint er Rotz und Wasser wie ein 14-Jähriger, der aufs katholische Internat muss.

Kühl dagegen das Bühnenbild in der Kammer des Deutschen Theaters. Ein weißer Quader trennt die Erzählstränge in der Mitte der Drehbühne voneinander und dient als Projektionsfläche für die Youtube-Videos. An der Seite zwei Bänke und ein Tisch, wo sich die Eltern zusammen finden und abwechselnd nicht fassen können, wie es mit ihnen und ihrem Sohn so weit kommen konnte. Nicht sehr überraschend. Mit ihrer pflichtschuldigen Darstellung finden Almut Zilcher und Harald Baumgartner ja selbst keine Antwort. Brav, aber auch etwas lustlos werfen sie sich ihre Repliken an den Kopf. Einmal wird Zilcher der Küchen-Realismus zu viel, woraufhin sie Baumgartner gackernd über die Bühne jagt.

Knoppeske Zeitzeugen

Noch schwerer macht es der Text den jüngeren Versionen der Figuren. Die vielen Monologe mögen auf authentischem Material beruhen, für die Bühne geeignete Sprechtexte sind es nicht. Und Calis lässt Vidina Popov und Ismail Deniz damit sehr allein. Ständig müssen sie mit Blick ins Publikum ihre Ideale und die Bedrohung durch die Folterknechte der Putschisten behaupten. Immer schön im Präteritum. Selbst Guido Knopps heulende Zeitzeugen im Close-Up vor schwarzem Hintergrund wirken dagegen wahrhaftig inszeniert.

Auch der tapfere Christoph Franken kann nicht viel retten. Lautstärke und Kostüme markieren die Wandlung seines Hakan zu Abu Ibrahim. Zunächst antwortet er noch in Hemd und Hose auf die Frage, wie man auch auf der Toilette ein guter Muslim bleiben könne und verkündet mit seligem Lächeln seine verspätete Beschneidung. Wenig später erklärt er Schuhe im Haus für haram und brüllt "Allahu Akbar!" Was hat den 36-jährigen Arzt nur so ruiniert, dass er am Ende geifernd und stammelnd zum Dschihad aufruft? Der Abend bleibt die Antwort schuldig.

Die Frage nach Gott wird nicht gestellt, sondern pathologisiert. Der Islamist ist hier nicht nur ein Unsympath vor dem Herrn, sondern auch ein Irrer. So hält sich die Inszenierung ihr Thema bequem vom Leib. Die einzig klare Erkenntnis bleibt: Programmheften ist nicht zu trauen.

Kuffar. Die Gottesleugner
von Nuran David Calis
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Amélie von Bülow, Carina von Bülow-Conrad, Musik: Vivan Bhatti, Video: Adrian Figueroa, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Harald Baumgartner, İsmail Deniz, Christoph Franken, Vidina Popov, Almut Zilcher.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das Psychogramm eines langsam zum Fanatiker mutierenden Losers könnte spannend sein, weil Calis auf die üblichen Dämonisierungen verzichtet, seinen Protagonisten eher verstehen als reflexhaft verurteilen will", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (13.12.2016). Aber nicht nur die Konstruktion, die Revolteposen des Nachwuchs-Islamisten mit den einstigen Untergrund-Aktivitäten seiner Eltern zu parallelisieren, sei arg mechanisch: "Die Oberflächen-Regie macht die Figuren zu reinen Thesenträgern."

"Systemwechsel, Generationskonflikt, Migration, Religion, politischer und privater Illusionsverlust: Was für ein thematisches Potenzial, das der Autor und Regisseur Nuran David Calis, der selbst türkisch-armenische Wurzeln hat, hier aufschüttet!", findet Christine Wahl im Tagesspiegel (13.12.2016). "Aber leider nur theoretisch. Denn in der Praxis wird es unfassbar verschenkt – ganz gleich, welche Ebene, welchen Handlungsstrang man verfolgt."

"So übersichtlich die Inszenierung angelegt ist, so komplex und vielleicht auch tragisch ist die Konfliktlage" – eher zurückhaltend in der Wertung bleibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (13.12.2016). "Es werden viele Erklärungsmuster angetippt, nur um zu zeigen, dass sie für sich genommen zu einfach sind. Es wird an Sinn-, Halt- und Orientierungslosigkeit gelitten; der Vater-Sohn-Komplex spielt eine Rolle; Traumata aus drei Generationen werden zurückverfolgt und strukturelle Eheprobleme aufgedröselt. Es wird einem klar, dass es auf dieser Welt mehr Handlungsmuster als Individuen gibt."

So übersichtlich die Inszenierung angelegt ist, so komplex und vielleicht auch tragisch ist die Konfliktlage. Es werden viele Erklärungsmuster angetippt, nur um zu zeigen, dass sie für sich genommen zu einfach sind. Es wird an Sinn-, Halt- und Orientierungslosigkeit gelitten; der Vater-Sohn-Komplex spielt eine Rolle; Traumata aus drei Generationen werden zurückverfolgt und strukturelle Eheprobleme aufgedröselt. Es wird einem klar, dass es auf dieser Welt mehr Handlungsmuster als Individuen gibt. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/25266468 ©2016

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