Die Wahrheit ist eine wankelmütige Geliebte

von Jan Fischer

Hannover, 15. Dezember 2016. "Macht und Widerstand", inszeniert am Staatsschauspiel Hannover von Dušan David Pařízek, hätte eine Lobpreisung im Affekt verdient. Eine, die emotional geschrieben wurde wie ein guter Verriss. Nichts Wohlüberlegtes also, kein differenziertes Lob, das nicht zu groß nicht zu kitschig ist und nur spärlich gesprenkelt mit Adjektiven und Superlativen. Diese Inszenierung hätte ein richtig schmieriges Lob verdient. Eines, das von unkritischen Superlativen überquillt.

Gut. Lassen wir diese Superlative erst einmal. Beginnen wir mit einem kleinen, unscheinbaren Adjektiv, das in diesem Jahr eine große, traurige Karriere hingelegt hat: Postfaktisch. Man müsste präziser eigentlich sagen: Hyperfaktisch. Denn so verhalten sie sich, die postfaktischen Fakten: Sie werden immer und immer weiter übereinandergestapelt, erschaffen eigene Realitäten, alles wird tausendfach überschrieben, so lange, bis nichts mehr richtig ist, bis wir eben nicht in einer Rhetorik nach den Fakten leben – sondern in einer Rhetorik, die auf, über den Fakten liegt.

Zwei Spieler, zwei Versionen der Wahrheit

"Macht und Widerstand" von Ilja Trojanow ist ein Buch genau über dieses Problem. Lebens-, sogar überlebenswichtig wird es für den Anarchisten Konstantin Scheitanow, der zehn Jahre lang im sozialistischen Bulgarien für die Sprengung eines Stalindenkmals in Haft saß. Nach 1989 versucht er, Einsicht in seine Akten zu erhalten, herauszufinden, was hinter den Kulissen der Macht passierte, was man über ihn wusste – und bekommt nur wenig Brauchbares zusammen. Sein Gegenspieler – und damaliger Folterer – ist Metodi Popow, der sich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemütlich in der Politik eingerichtet hat. Die Schicksale der beiden Männer sind miteinander verwoben, doch jeder hat seine eigene Version der Wahrheit, in der immer noch die Ideale der längst vergangenen Zeiten nachhallen. Wahrheit, Fakten – nirgends zu finden. Nur Konstruktionen, die locker darauf basieren.

 macht und widerstand 254 560 katrin ribbe uSamuel Finzi und Markus John @ Katrin Ribbe

"Macht und Widerstand" ist ein massives Werk, in dem Geheimdienstberichte mit den Erzählerstimmen der beiden Gegenspieler verschränkt sind, wobei die Geheimdienstberichte zwar tatsächlichen Archiven entstammen, sich aber ihre Fakten vielleicht sogar noch mehr zurechtbiegen als die Erzählerstimmen.

Wie bekommt man so etwas nun ins Theater? Man möchte, nach der Lektüre des Buches, sagen: gar nicht. Finger von lassen. Dušan David Pařízek hat es in Hannover trotzdem versucht. Seine Bühne ist nach hinten hin offen, einzelne Tische sind aufgestellt, Stühle darum, an denen die Figuren sitzen und trinken, wenn sie gerade nicht gebraucht werden, Kaffee oder Wodka. Herzstück des Bühnenbilds ist ein Raum mit weißem Boden, von dessen Ecken Holzlatten bedrohlich weit in die Höhe zeigen.

Geheimdienstberichte als Bühnenbild

Als Verhörzimmer, Zelle, Lebensraum ragt er ein kleines Stück über den Bühnenboden hinaus ins Publikum, und hier findet die Handlung statt, werden Dialoge gesprochen, oft aber auch Monologe: Konstantins große, emotionale Abrechnung mit dem Sozialismus und der Demokratie, die auch nichts als eine Staffage für die alten Kader ist, seine verzweifelte Suche nach den Akten, die ihm sein Leben erklären. Oder der Monolog von Metodi, dem die Wende egal ist, der Systemwechsel. Das System, also er, hat die Gesellschaft so tief durchdrungen, dass alles das keine Rolle spielt.

Immer wieder werden Konstantins Akten, die Spitzel- und Geheimdiensberichte, an große und kleine Leinwände projiziert, die reichlich über die ganze Bühne verteilt sind, meistens von Tageslichtprojektoren, die aussehen, als stammten sie selbst noch aus Sowjetzeiten, mindestens aber aus dem Fundus eines Gymnasiums der späten 70er. Diese Geheimdiensberichte kontrastieren als Bühnenbild die vermeintlichen Wahrheiten, die zurechtgebauten Erinnerungen, die in dem Verhörzimmerkasten zum Besten gegeben werden: Geschönt, manipuliert sind sie alle, auf der Suche nach Wahrheit ist niemand mehr, nur nach Selbstbestätigung.

Samuel Finzi als liebender Idealist

Das Ensemble – neben Samuel Finzi als Konstantin und Markus John als Metodi Popow Sarah Franke und Henning Hartmann in wechselnden Rollen – ist dabei großartig in Form, hochkörperlich und immer da, immer wach.

MachtWiderstande 560 ribbeBühne als Projektionsfläche – und Franke, John (im Hintergrund), Finzi, Hartmann © Katrin Ribbe

Finzis idealistischer Anarchist, ungebrochen von 20 Jahren Haft und Folter, hält energetische und immer wieder leicht stotternde Reden über Ideale und Liebe, unbeirrbar auf der Suche. Johns Metodi Popow ist ein schmieriger Funktionär, durch und durch Wiesel, Macho und Apparatschik jedes Systems, das ihm einen Vorteil verschafft. Sie erzählen nicht nur ein Stück Zeitgeschichte, sondern auch von der Unmöglichkeit von Fakten – egal, ob auf der Seite des Widerstands oder der Macht. Diese Erzählung gipfelt in einem Vaterschaftstest, den Metodi gezwungen ist machen zu lassen. Das Ergebnis kommt in zwei Umschlägen, "das Richtige und das Bestellte". Sie bleiben ungeöffnet – ob die Ergebnisse sich unterscheiden, wird nie aufgelöst. Die Wahrheit bleibt im Ungewissen.

Auflockernde Absurditäten

Das große Wunder an Pařízeks Drei-Stunden-Inszenierung ist, dass all das nie trocken, nie belehrend oder moralisierend wird. Im Gegenteil: In dieser großen, ernsten Erzählung gibt es immer wieder lustige Stellen, kleine Absurditäten, beispielsweise Henning Hartmann in einer Rolle als Hund. Oder den Wahnsinn einer Kostümparty, auf der die ehemaligen Geheimdienstfunktionäre sich als die Personen verkleiden, die sie einst observiert haben.

"Macht und Widerstand" von Ilija Trojanow ist ein Brocken von Roman, lohnenswert, aber mit einer Menge Arbeit verbunden. Pařízeks "Macht und Widerstand" ist eine leichtfüßige, spannende Angelegenheit, gute drei Stunden, die nie langweilig werden – ohne dass die Ernsthaftigkeit des Themas leidet. Und das, gepaart mit Schauspielern, die kraftvoll und subtil mit ihren Figuren arbeiten, ist tatsächlich eine Lobpreisung wert.

Macht und Widerstand
von Ilija Trojanow
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostümbild: Kamila Polívková, Dramaturgie: Judith Gerstenberg.
Mit: Samuel Finzi, Sarah Franke, Henning Hartmann, Markus John.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.schauspielhannover.de

 
Kritikenrundschau

"Fast alles, was Ilija Trojanow in seinem Roman auf fast fünfhundert Seiten an ständig wechselnden Schauplätzen bietet, passt in den Würfel, den Dušan David Pařízek auf die Bühne gesetzt hat", schreibt Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.12.2016). Trojanows Vorlage ähnele einem Pas de deux von Täter und Opfer, beide Figuren seien gleichgewichtig. "Das ist bei Pařízek auf der Bühne nicht so. Hier steht Konstantin im Mittelpunkt. Samuel Finzi, der ihn spielt, sei erst fünfzig Jahre alt, "doch so, wie er Konstantin spielt, verschwendet man daran keinen Gedanken." Samuel Finzi sei als Schmerzensmann der ständige Blickfang der Aufführung, selbst wenn er stumm am entferntesten Tisch kauere. "Eine Paraderolle für Finzi, in der er den rastlosen Stillstand nie belohnter Dissidenz sichtbar macht." Fazit: "In der bulgarischen Demokratie, wie sie Trojanow im Buch und noch mehr nun Pařízek auf der Bühne präsentiert, wird die innere Leere immer größer(...) Großer Jubel über dieses große Trauerspiel."

"Pařízek gelingt es mit viel Einfühlungsvermögen, die Essenz des Buches auf die Bühne zu transportieren", so Katharina Sieckmann im NDR (16.12.2016). Es gehe um die Reflektion, was Macht und Widerstand mit den Menschen mache und wie sehr unsere Biografien von der Art und Weise geprägt seien, wie man sich positioniert hat. "Die schauspielerische Leistung an diesem Abend ist herausragend. Auch lange Monologe in virtuoser Wortgewalt schaffen eine atmosphärische Dichte, die die enorme Spannung transportiert. Trotz der Schwere des Themas gelingen humoristische Sequenzen."

Es gebe viele starke Momente in Pařízeks Inszenierung von Trojanows Buch, "das einem ziemlich unspielbar vorkommen kann und hier doch großes Theater wird", schreibt Daniel Alexander Schacht in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (17.12.2016). Wenn etwa beim Showdown Samuel Finzi das oppositionelle Psychiatrieopfer und sein Gegenüber, den übermächtigen Professor, allein verkörpere, dann demonstriere das beispielhaft, "was gutes Sprechtheater zu leisten vermag", denn "die Szene ersteht nur vor dem geisteigen Auge des Publikums". Den Schauspielern sei es zu danken, "dass die Inszenierung ihr sperriges Thema auf unterhaltsame Weise auf die Bühne bringt."

Bernhard Doppler schreibt auf der Website des Wiener Standard (19.12.2016): Es sei "verblüffend", wie "theatralisch effektvoll" Ilija Trojanows Roman in der minimalistischen Inszenierung von Dušan David Pařízek wirke. "Macht und Widerstand" sei ein" Tanz voll bitterer Traurigkeit, auch wenn die Darsteller hin und wieder zum "Blasmusikquartett" würden, Finzi in Frauenkleidern plötzlich komödiantisch ausraste. Folterszenen seien nicht ausgespart, "aber leise und damit umso unerträglicher". Eine "beschädigte Gesellschaft voller Spitzel und Anpassung" sei wohl nicht auf den Ostblock Ende der 1990er beschränkt. Ein beklemmend aktueller Abend."

"Ein thematisch und schauspielerisch lohnender, auch komischer Abend, der durch die gestalterische Zurückhaltung von Parizek in diesem Fall an Wucht gewinnt." So schätzt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (5.10.2017) die Produktion bei ihrer Berlin-Premiere ein.

Kommentare  
Leserkritik: Macht und Widerstand, DT Berlin
Berlin-Premiere am DT
Diesen großartigen, umfangreichen, aber nie ausschweifenden Roman voller Anspielungen auf die postsozialistische Gesellschaft Bulgariens auf die Bühne zu bringen, ist eine Herausforderung. Der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek ist für seine sperrigen, oft recht spröden Adaptionen bekannt. Dass ihm die „Macht und Widerstand“-Inszenierung wesentlich besser gelang als Kafkas „Amerika“, mit dem er vor einer Woche an selber Stelle langweilte, hat eine ganze Reihe von Gründen:

Erstens hat Trojanow seinen Roman sehr szenisch angelegt. In schnellen Schnitten, die sich auch sehr gut für eine Verfilmung eignen würden, wechselt er zwischen den Perspektiven der beiden Hauptfiguren hin und her. Das Buch führt den Leser furios durch die Umbruchzeiten und ist gespickt mit lebendigen Dialogen, teilweise sogar regelrechten Streitgesprächen wie im klassischen Drama. Das ist ein Vergnügen beim Lesen und gibt auch dem Abend einen bei Pařízek bisher ungewohnten Drive.

Zweitens kann diese Inszenierung mit einem beliebten Star punkten: Samuel Finzi, der sich in den vergangenen Jahren mehr auf Fernsehauftritte konzentrierte, darf einige Register seines Könnens ziehen. Er spielt den Konstantin als wütenden alten Mann, der nach zehnjähriger Haft vergeblich die an ihren Sesseln klebenden Eliten zur Rechenschaft ziehen will. Er variiert zwischen lauten Wutausbrüchen und stillen Rückblicken auf die Verhöre und Demütigungen. Zwischendurch unterhält er mit Klaviersoli und pantomimischen Slapstick-Einlagen. Als Sahnehäubchen bekommt er Szenenapplaus für seine kurzen Auftritte als exzentrische Gattin von Metodi.

Drittens passt Pařízeks Lieblingsstilmittel, die an die Wand projizierten Overhead-Folien, diesmal sehr gut. Auch der Roman wird an vielen Stellen von kurzen Ausschnitten aus den Akten des bulgarischen Pendants zur Stasi-Unterlagenbehörde unterbrochen. Anfangs muss Konstantin um jeden Schnipsel kämpfen. Nach einigen Interventionen wird er derart mit Akten-Müll zugeschüttet, dass er daraus kaum noch wertvolle Informationen destillieren kann. In dieser Szene wird die ansonsten kahle Bühne mit den Overhead-Projektionen der Akten regelrecht zutapeziert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/03/macht-und-widerstand-ilja-trojanows-grosser-roman-auf-der-buehne-mit-samuel-finzi/
Macht und Widerstand, Berlin: bitterkomischer Macht-Slapstick
Nein, Hoffnung ist hier wenig. Wer das Kubus-Skelett betritt, sich ins Licht wagt, steht auf der großen Bühne, dort, wo Wahrheit, wie es Popow einmal ausdrückt, „geschaffen wird“. Scheitanow rennt von Pontius zu Pilatus, um Einsicht in seine Geheimdienstakten zu erlangen. Zunächst speist man ihn mit vereinzelten, nichtssagenden einzelnen Dokumenten, später schüttet man ihn mit einem Übermaß an Information zu. Die Akten werden – wie stets bei Pařízek –per Overhead-Projektor an Leinwände geworfen. Zunächst sachlich übersichtlich and die großen, später kommen auch die immer kleineren, überall im Raum verteilten, ins Spiel. Dort erscheinen nunmehr nur noch Fragmente, Wort- und Satzfetzen, jeglichen Zusammenhangs, aller Bedeutung beraubt. Eine „Offenlegungsinflation“ nennt Popow das. Ein Symbol dafür, dass auch eine Überfülle an Informationen die Erkenntnis verunmöglichen kann. Sie zwingt den Einzelnen, nur noch Teile zu sehen und nicht mehr das Ganze. Der direkte Blick in die Sonne verhindert das sehen genauso wie die Dunkelheit. Wer die Information kontrolliert, das weiß Popow und lernt Scheitanow, hat die Macht. Die Macht über die Wahrheit. Was das bedeutet, ist derzeit etwa in Amerika exemplarisch zu beobachten. Und hier: Sie verformt, begrenzt, zwängt den menschen ein, bis er zum zwanghaften Anhängsel seiner“ Wahrheit wird, ihrem Büttel. Das gilt für Popow, aber auch Scheitanow. Wo die Wahrheit nur noch Macht ist, findet sie Täter wie Opfer.

So ernst, so von stiller Verzweiflung aufgepumpt der Abend ist, so sehr setzt er immer wieder satirische Akzente. Großartig die – natürlich am Ende kippende Szene – in der sich ehemalige Kollegen zu Popows siebzigstem Geburtstag als ihre ehemaligen Observationsobjekte verkleiden. Oder jene todtraurige Clownerie, in der Scheitanow aufgefordert wird sich zu setzen, sich zunächst weigert, dann widerwillig mitzieht, begleitet von grotesken Tubaklängen. Ein bitterkomischer Macht-Slapstick. Die ganze Anlage hat etwas Komisches, ist doch der Abend eine Folge von Konstantins Anrennen gegen (künstliche) Wände, ein sich stets wiederholendes Scheitern, Auskunft, Erkenntnis zu erlangen, in immer wieder neuen, stets perfideren Ausprägungen. Dazu kommt das Vaterschaftsdrama, auch ein komödiantisches Versatzstück – das mit zwei Vaterschaftstest-Ergebnissen endet. einem tatsächlichen und einem bestellten. Ob sie sich unterscheiden, erfahren wir so wenig, wie es wichtig ist. Wahrheiten sind ohnehin fabriziert, erschaffen, gewollt. Welche zählt, hängt einzig davon ab, wer die Macht hat. Am Ende liegt sie in den Händen einer neuen, wendigeren Generation. Und bleibt Verfügungsmasse. Eine post- und alternativfaktische Welt. Da lässt sich nur noch traurig schräge Blasmusik machen. Der Verklärung geht weiter, die Aufklärung ist tot. „Wir haben hier nichts mehr verloren“, sagt Finzi. Und dann wird – nein, bleibt – es dunkel.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/05/wahrheit-macht-nichts/#more-7451
Macht und Widerstand, Hannover/Berlin: Referenz-Inszenierung
Die derzeit beste Inszenierung am Deutschen Theater. Eine Liga mit Gosch. Ein Ensemble in Hochform, alle vier. Beeindruckend, lebendig, humorvoll, hochintelligent. Dank an alle Beteiligten. Referenzpunkt für ein Theatergedächtnis.
Macht und Widerstand, Hannover/Berlin: fein
Sehr fein, humorvoll, geil gespielt. Bei dem Thema!
Und deutlich besser als Parizeks Berliner Arbeiten.
Macht & Widerstand, Hannover: an die Theaterleitung
Diese großartige Arbeit soll bitte nicht abgesetzt sondern weiterhin in Berlin gespielt werden!
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