Viel Arbeit für Simon

von Wolfgang Behrens

Berlin, 4. Mai 2008. Als Kind hatte ich ein Lieblingsbilderbuch. Es hieß "Simon in the land of chalk drawings". Darin gab es einen Jungen, der für sein Leben gern Figuren an Bretterzäune malte. Aber weil er auch ein bisschen faul war, malte er sie nie fertig. Bis ihn eines Tages ein solches unfertiges Männlein vom Bretterzaun her ansprach und in das Land seiner versehrten Geschöpfe einlud – da gingen ihm die Augen über, und aus Mitleid pinselte er brav alle Figuren gesund.

Auch in der neuen Dramatik gibt es eine Tendenz – sicherlich ist es nur eine Tendenz unter vielen! –, Figuren nicht zu Ende zu malen: Sie werden nicht auserzählt, sie bleiben ohne Biographie, ohne Milieu oder psychologischen Reichtum. Ein Schelm, wer hier an Faulheit dächte – die Autoren verbinden mit diesen unfertigen Figuren doch wohl eine Absicht. Es kann beispielsweise sein, dass die Figuren Prinzipien verkörpern sollen – oder Ideen –, und im Zusammenspiel, im Aufeinanderprall der Abstraktionen entsteht das Drama. Falk Richter hat solche Stücke geschrieben, andere ließen sich nennen.

Wirkung durch Figurensound

Oder aber die Figuren bleiben plan, da sie Leerstellen sein sollen für die ergänzende Fantasie des Zuschauers. Sie werden nur angerissen, weil ihr Hingetuschtes, Skizziertes, Fragmentiertes sie als Teil eines poetischen Kosmos erkennbar werden lässt – oder lassen soll. Diese Figuren wollen über ihren Sound wirken, sie stellen sich aus über ihre Sprachoberfläche, die sie – vielleicht! – rätselhaft und anziehend macht.

"Regen in Neukölln" von Paul Brodowsky, das den diesjährigen Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eröffnende Stück, ist von solchen unfertigen Figuren bevölkert. Dem durch die Neuköllner Nacht irrlichternden Personal wird gerade einmal soviel Biographie zugestanden, wie nötig ist, um bestimmte Macken zu motivieren: Da ist etwa ein Scherenschleifer, dem 1945, als er nach Artilleriebeschuss in Trümmern eingequetscht war, ein Fuchs den Finger abgebissen hat und der seitdem mit großer Intensität eine immerwährende Fuchsjagd betreibt. Oder Ibrahim, der sein Geld einer Frau in Beirut und sechs Kindern in Amman zu schicken vorgibt und (deswegen?) manchmal sentimentale arabische Lieder trällert. Oder der Taxifahrer Karl-Heinz. Oder Ella. Oder Marten.

Wie ost der stiff?

Der Stückemarkt-Juror Nuran David Calis schreibt über Brodowsky und sein Stück: "die welt die er zeichnet ist dicht und hermetisch dabei dennoch ungemein durchlässig – das ist kunst(!) – jede figur – jeder charakter hat seine eigene sprache – seinen eigenen klang – geschliffen – immer und immer wieder". In der Sprache von Brodowskys Charakteren klingt Milieu an, beim krachend berlinernden Taxifahrer etwa, oder es sickern milieufremde Diskurse und Realitätspartikel in sie ein, so beim Migranten Ibrahim, der in Metamorphosen die verschiedensten Sprachlagen durchprobiert.

Mitunter lässt Brodowsky seine Figuren auch – im Gefühlsüberschwang? – in vokalvertauschendes Kauderwelsch verfallen ("klar, sage ich, sie: Wo ist der Stoff, wie ost der stiff, denke ich" usw.). Und, ok, da kommt ein gewisser Sound rüber, ein manchmal harter, ein surreal nächtlicher Sound, wenn diese unfertigen Figuren in schnellen Short Cuts aufeinandertreffen. Wer aber zufälligerweise nicht in den Sog dieses Sounds gerät, der ist unrettbar an die Langeweile verloren.

Nur Sound, nicht die Bohne

Denn jenseits ihrer sprachlich polierten Oberfläche interessieren Brodowskys Charaktere nicht die Bohne. Sie sind nichts als Sound. Da ist keine wie auch immer geartete Tiefe, in die hinein man noch schauen wollte, und man wagt gar nicht zu denken, wie lange der Simon aus meinem Kinderbuch wohl an diesen Figuren zu zeichnen hätte, würden sie ihn in ihre unfertige Welt einladen.

Auch Jorinde Dröse, die die szenische Einrichtung der Lesung beim Stückemarkt besorgte, wusste ihnen keine Dimension hinzuzufügen. Im Gegenteil: die Diaprojektionen mit Neukölln-Impressionen, vor denen die Schauspieler das Stück anspielten, brachten zwar ein wenig Lokalkolorit, waren aber selbst wieder nur nichts als Fläche.

646 Stücke aus 33 europäischen Ländern wurden in diesem Jahr beim Stückemarkt eingereicht, fünf davon hat die fünfköpfige Jury ausgewählt. "Regen in Neukölln" ist das einzige deutschsprachige Stück darunter, und erschreckt fragt man sich, ob das wirklich alles ist, was junge Dramatiker an Welthaltigkeit zu bieten haben. Wo ist der Stoff, möchte man wissen, "wie ost der stiff"?

 

Theatertreffen 2008 - Stückemarkt I
Regen in Neukölln
von Paul Brodowsky
Szenische Lesung
Szenische Einrichtung: Jorinde Dröse, Bühne und Fotos: Julia Ries. Mit: Julischka Eichel, Katharina Lorenz, Lars Eidinger, Guido Lambrecht, Hendrik Arnst, Falk Rockstroh, Leopold Hornung.

www.berlinerfestspiele.de

 

Kommentare  
tt08 Stückemarkt Brodowsky: Juroren kultivieren Leere
Meiner Meinung nach gab es mehr interessanten Stoff, sicher nicht viel, aber mehr als solchen Sounddesign. Der Schwarze Peter liegt bei den Juroren, die die Leere kultivieren. Sie vertreten den herrschenden Geschmack. Konkret: Palmetshofer, Schimmelpfennig, Heckmanns, die hab ich zuletzt gelesen. Offenbar werden ihre Stücke in Theater Heute abgedruckt und auf die Spielpläne gesetzt, nicht obwohl sie nichts zu sagen haben, sondern WEIL. Der hohe Ton, den sie bieten, reicht, wenn man nur zeigen will, daß man sich für neue Dramatik engagiert. Servil wird dem Kunstbetrieb zugearbeitet.
Ich sehen mich nach Texten, die aus einer Notwendigkeit entstanden sind, ob persönlich oder politisch. Nur ein kleines Beispiel, wohin es vielleicht gehen könnte. In Potsdam läuft Katharina Schlenders "Der Zufriedene". Ein Mann im Zentrum, der zufrieden ist und den keiner zufrieden sehen möchte. Ehrgeiz wird ihm verordnet, Eifersucht und Ellenbogen, aber er will nicht. Ein Motiv, das ich großartig finde und wichtig für diese Zeit, wenn die Autorin ihre Auftragsarbeit auch zu früh aus den Händen gegeben hat, halb fertig (oder hat sie keinen Ehrgeiz?). Da fehlt dann Dramaturgie und Lektorat.
Paul Brodowsky: Was sagt man zum Publikumspreis in HH?
Höhö, da hat der Kritiker ja ziemlich daneben gelegen mit seiner Einschätzung von "Regen in Neukölln". Hat jetzt den Publikumspreis in Hamburg bekommen. Was sagen Sie denn dazu, geschätzter Herr Behrens? Damit haben Sie wohl nicht gerechnet? Aber die Herren Kritiker sind halt immer schlauer als das Publikum, das kennt man ja.
Regen in Neukölln: Literaturgetue
Das Hamburger Publikum. Das sollte dieses Stueck am besten behalten. Da passt dieses Literaturgetue hin. und zum Verlag der Autoren, der diesem oeden Zeilen auch noch 5000 Euro preisbeflissen hinterherwirft, auf Kosten der eigenen Autoren.
Kommentar schreiben