Erst nach Übersee und dann bergab

von Maximilian Pahl

Bern, 17. Dezember 2016. Zwei Augen erzählen ein Stück Weltliteratur. Sie schildern es eindringlicher und persönlicher als alles, was sie rundum beobachten müssen: In ihnen gerinnt die Heiterkeit zu Melancholie. Sie weiten sich, um keine noch so triste Aufstiegschance zu übersehen, und schielen im Angesicht des schwersten Debakels noch hoffnungsvoll. Es sind die Augen von Philippe Graber, der damit so schön (und womöglich auch kafkaesk) aus der Wäsche guckt. Der sich fleißig vorstellt mit: "Mein Name ist Karl Rossmann, ich bin ein Deutscher. Bitte sagen Sie mir Ihren Namen."

Ueli Jäggi holte Philippe Graber für seine erste Inszenierung am Konzert Theater Bern – "Amerika (Der Verschollene") nach Franz Kafka – als Gast hinzu. Die ganze Ladung zivilisatorischen Wahnwitzes kriegt er wie ausgemacht ab. Zweieinhalb Stunden lang heißt es: erst bis nach Übersee, und dann einfach immer weiter bergab. Aber Kopf hoch. Eine männliche Entscheidung, finden schließlich alle, sei nun mal eine "lebenslänglich konsequente." Wenn schon abwärts, dann wenigstens vorwärts.

Frühmoderner Selbstfindungstrip

Wäre man jetzt bloß so vif und dienstfertig wie Mariananda Schempp in ihren köstlich männlichen Auftritten. Und hätte nicht die Ansprüche (und die Einsichten) wie dieselbe als Frau. Man könnte fast an das gute Ende dieses frühmodernen Selbstfindungstrips glauben. Zumindest auf dieser Bühne, mit den Knabber-Pausen, Hampeleien und den gestellten Gruppenfotos. Aber nein, es vollzieht sich die Selbstaufgabe eines Jungen, angestoßen von seinen Eltern.Amerika 02 560 c AnnetteBoutellierPhilippe Graber trifft als Karl Rossmann eine lebenslänglich konsequente Entscheidung
© Annette Boutellier

Das gute Dutzend an Figuren ist ganz einfallsreich darin, Karl auszunutzen. Damit beginnt schon auf dem Schiff der eintönig mit dem Gehstock fuchtelnde Jürg Wisbach. Deutscher Onkel wurde zu Uncle Sam, groß sei das business, und so fort. Der will ihn groß rausbringen mit Englisch- und Reitstunden. Es sind zumindest vordergründig gute Absichten, auch seitens der Schauspieler. Viermal als überspitzte Figur kommt Nico Delpy daher, in Machtposition mit ordinärem Zungenschlag, als Untergebener dauernd verrenkt. Abzukaufen ist ihm, wie er Briefe vorliest. Je autoritärer die Figuren werden, desto mauer erscheinen sie. Manchmal tun dann Wisbach oder auch Jonathan Loosli nicht viel mehr, als eine Uniform auszufüllen.

Übermut und Elend des Karl Rossmann

Dann sprechen sie erhaben nackte Kafka-Sätze aus und hasten daraufhin wieder durch den Bühnenraum, über die Podeste. Dazwischen geht immer etwas Kraft verloren. Denn alles, was diese beide Welten ineinander überführt, ist das eine baffe Augenpaar. Das lugt besonders erbarmenswert aus seinem Liftboy-Aufzug hervor, worin sich Graber kurzzeitig wiederfindet und sich in stolzem Übermut bewusstlos taumelt.

Als verlottertes Schlosser-Duo erzeugen Gabriel Schneider und Jonathan Loosli Spannung, die Dynamik zwischen ihnen ist flexibel und nicht auszumachen. Wenn sie erscheinen, versetzen sie Karl abwechselnd in einen falschen Glauben und dann wieder ins Elend. Das Dreiergespann funktioniert miteinander bestens, nur seine Einbettung nicht. Von ihrem Bett aus geleitet es schließlich Milva Stark als entrückte Diva in die letzte Verfallsperiode hinein, die hier noch dargestellt wird. Von diesen gibt es einige, und sie werden auch sehr deutlich, fügen sich aber nicht aneinander. Auch die eigenartig eingeschobenen Schwarzweiß-Projektionen oder die einzeln verschriftlichten Sätze helfen dabei nicht. Während hier die Figuren miteinander beschäftigt bleiben, beugt sich dort der Text über sich selbst.

Das pure Naturtheater

Das ist wiederum sicher gut – also vorsichtig – gemeint. Denn Ueli Jäggi, der Oltener Schauspieler aus Marthalers Entourage, ist kein unerfahrener Regisseur. Fast schon krampfhaft verkneift er sich, an ein anderes Amerika zu denken als jenes vor hundert Jahren. Auch kommt Sophie-Thérèse Krempl im Programmheft germanistischen Skrupeln gegenüber der Dramatisierung dieser Romanfragmente bei. Sinnvoll erscheinen die Vaudeville-Einlagen, die schnellen Szenenwechsel und dass die Nähe zum damals aufkommenden Kino gesucht wird, so wie es der Autor selbst tat. Wie mit der Pinzette wird höchste Vorsicht am Text geübt. So ist aber beispielsweise die Entscheidung umso kontrastierender, den Fernschreiber des Onkels verheißungsvoll auf der Bühne stehen zu lassen, daraus dann aber wenig zu machen. Alles in allem zeigt sich wenig von einer Dringlichkeit, mit der dieser Stoff nach einer Bühne schreit.

Dazu passt, dass die Lösung des Schlussteils dann eine wirklich starke Entscheidung trägt. Eine gegen die Darstellung. Und das, wo es ausgerechnet ums Theater geht. Jäggi schließt mit dem angefügten Fragment "Das Naturtheater in Oklahoma". Milva Stark, gerade noch figürlich entrückt, darf diesen Text einfach sprechen, barfuß. Es ist ein längerer Monolog. Und es ist beachtlich, dass dieser Schluss schärfere Bilder hinterlässt, als sie das eigene Augenpaar davor gesehen hat.

 

Amerika (Der Verschollene)
von Franz Kafka
Regie: Ueli Jäggi, Bühne: Werner Hutterli, Kostüme: Gerti Rindler-Schantl, Musikalische Leitung: Martin Schütz, Licht: Rolf Lehmanns, Video: Lisa Böffgen, Dramaturgie: Sophie-Thérèse Krempl.
Mit: Nico Delpy, Philippe Graber, Jonathan Loosli, Mariananda Schempp, Jalalu Calvert Nelson, Gabriel Schneider, Jürg Wisbach.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

"Ueli Jäggis Regiedebüt bei Konzert Theater Bern ist stellenweise langatmig – und wird damit Kafkas Albtraumwandlerei durchaus gerecht", findet Michael Feller in der Berner Zeitung (19.12.2016). Das gehe gut, "bis dem dreistündigen 'Amerika' nach der Pause aber doch die Puste ­auszugehen droht. Dennoch lohnt sich der Besuch der bestens eingerichteten ­Vidmarhalle." Fazit: "An schauspielerischer Leistung mangelt es nicht, aber bei aller Kafka-Treue hätte der ­Inszenierung etwas mehr Schwung bis zum Ende gutgetan."

"So prägnant inszeniert einzelne Momente sind, so überzeichnet kommen andere daher", schreibt Lena Rittmeyer im Bund (19.12.2016). Dem Geschehen in der Vidmar 1 gehe spätestens nach der Pause die Luft raus, "das liegt am fehlenden Fokus". Zum schnellen Takt der Szenenwechsel fallen mindestens doppelt so häufig die Gags, "man wartet nur noch auf den nächsten". Man sehe ein Amerika der verfestigten Machthierarchien, so wie wir es bis heute kennen. "Mehr Deutung ist dann aber doch nicht zu haben, und so zerfällt dieses Episodentheater in seine Einzelteile. In viele aufregende immerhin."

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