Onkel Wanja - Karin Henkel erzählt am Schauspielhaus Zürich den Tschechow-Stoff mittels vielfältiger Grautöne
Dieses lange, graue Leben
von Valeria Heintges
Zürich, 14. Januar 2017. Siggi Schwientek steht da, hängende Schultern, große traurige Augen, Tränensäcke, graue Hosen, graue Haare. Ein Pullover mit Blumen, wenig grün, viel grau, natürlich. Farblos in der Farbigkeit. In einer Hand schlenkert der Revolver, in der anderen die Wodkaflasche. Zweimal Rettung, zweimal Untergang. "Onkel Wanja" von Karin Henkel am Pfauen des Zürcher Schauspielhauses beginnt mit dem Ende – und doch nicht: Wanja hat einen misslungenen Tötungsversuch hinter sich. Er wollte die Waffe gegen sich selbst richten, sich umbringen, endlich. Noch vielleicht 13 Jahre zu leben, das ist ihm viel zu lang. "Man muss nun mal leben, auch wenn man es gar nicht will", sagt Sonja zu ihm, am Anfang statt am Ende. Der Grundton ist gesetzt.
Der Ton für die Melancholie, die Düsternis, die Lebensmüdigkeit. Die Bühne ist in Schwarz und Weiß, nein: in Grau und Weiß gehalten, denn hier sind alle und alles grau. Auf einer Videowand sieht man eine hypnotische Fahrt in den Tunnel, sieht Kreuz und Bett. "Schlafen und trinken, das ist so langweilig", sagt Wanja, der sich ein Leben lang für einen scheinbar tollen Kunstprofessor – seinen Schwager – abgerackert hat und der nun auf ein verpfuschtes Leben zurückschaut, weil dieser nur ein Scharlatan, ein Abschreiber war. Aber sagt es wirklich Wanja oder doch der Professor, der sich vernachlässigt, krank und bemitleidet fühlt, obwohl er doch im Mittelpunkt des Interesses steht? Oder sagt es Sonja, die Professorentochter, die für des Vaters Faulheit schuftet und sich auch noch unglücklich verliebt hat? Oder sagt es Jelena, die junge, zweite Frau des Professors, die sich an diesen viel zu alten, viel zu langweiligen Mann gebunden hat? Oder Astrow, der Arzt, der sich nur noch betrinkt und seine ökologischen Studien vergisst und seine Patienten sowieso. Sie alle trinken nur und schlafen. Oder arbeiten nur und schlafen. Oder tun sonst Dinge, die sie anöden und an denen sie verzweifeln.
Pure Wehmut
Ein "Mosaik der Depression" hatte das Schauspielhaus angekündigt – und das bekommt das Publikum in diesen zwei Stunden geliefert. Nur ein Tölpel wie der Gutsbesitzer Telegin, gespielt von Alexander Maria Schmidt, kann hier noch Hoffnung entdecken. Grauer als die von Stéphane Laimé kann eine Bühne nicht sein, kaum trostloser könnten auch die 50er-Jahre-Verlierer-Kostüme von Aino Laberenz daherkommen, kaum trauriger kann Musik klingen als die, die Alain Croubalian seinen Instrumenten für diesen Abend entlockt. Und wehmütiger Schauspieler nicht spielen. Sie nutzen jede noch so kleine Umarmung zu einer Umklammerung, der sich der andere nur durch wirbelsäulenstrapazierende Verbiegungen entziehen kann.
Carolin Conrads Sonja, schwarz umrandete Augen, schwerer Gang, beneidet Jelena – Verzweiflung über die eigene Hässlichkeit in jeder Geste. Nur Lena Schwarz' Jelena macht auch in Grau gute Figur, lässt es glitzern und figurbetont an sich herunterfallen. Sie ist neben dem grantigen, wütenden Professor von Gottfried Breitfuss das Licht, um das die Motten schwirren, doch dem Licht ist das bekanntlich egal. Marcus Scheumanns Arzt Astrow schwankt durch Suff und Leben und verknotet sich verzweifelt so mit Jelena, dass sie beinahe in seinem Hemd erstickt. Viele solcher feinen Szenen hat Karin Henkel mit ihren Schauspielern erdacht, Solo- oder Duostücke gedrechselt, in denen sie ihrer Schauspielkunst freien Lauf lassen können. Und sie hat für Nikola Weisse eine bodenständige Marina/Maria geschaffen, die selbst zum Medikamentenschrank noch mit Würde stapft.
Melancholia
Stringent ist das alles, in seiner depressiven Untätigkeit, seinem Aneinandervorbeireden, seinen Versuchen, aus der Lethargie zu krabbeln. Vor allem in seinem triefenden Zuviel. Das ist wörtlich zu nehmen, entpuppt sich doch die Videowand als tropfendes, rinnendes Etwas, als Eiswand, die sich gehen lässt, sich auflöst, sich aufgibt. Die Schauspieler waten tief im Wasser (im Wodka, im Regen), das ihnen ohnehin bis zum Hals steht.
Doch merkwürdig: Das Zuviel ist ein Zuviel auch beim Zuschauen, der Schluss zu Beginn nimmt dem Abend Spannung, lässt den Untergang zu einem ewig sich drehenden Reigen werden, dem manchmal die Puste ausgeht. Als er dann außer Atem am Ende ankommt, lässt Karin Henkel Sonjas Wunsch nach einem anderen Leben, einem richtigen Leben wahr werden. Sie lässt eine selbstaufrüttelnde Carpe-diem-Rede vom Stapel, in der sie das Glück des Augenblicks, der vielen kleinen schönen Momente (ein Kind, ein Baum, die Morgenröte) beschwört, "bevor wir nutzlos im Dunkeln verschwinden". Da gelingt es selbst einer Carolin Conrad nicht, den Kitsch zu bannen. Und der Abend bekommt, trotz vieler hell strahlender Einzelszenen, selbst eine graue Färbung.
Onkel Wanja
von Anton Tschechow, Deutsch von Thomas Brasch
Bearbeitung: Karin Henkel und Amely Joana Haag, Regie: Karin Henkel, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Alain Croubalian, Video: Robi Voigt.
Mit: Gottfried Breitfuss, Lena Schwarz, Carolin Conrad, Nikola Weisse, Siggi Schwientek, Markus Scheumann, Alexander Maria Schmidt.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Selten war russische Fadesse so abgeklärt, frei von Seelenwärme und von Samowar-Innigkeit; kaum je war ein Tschechow so hoffnungskühl wie hier." Daniele Muscionico von der Neuen Zürcher Zeitung (16.1.2017) sah eine "perfekte, doch perfekt vergrübelte Inszenierung".
"Das ist unpolitisch, uninnovativ – und unglaublich gut", jubelt Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (16.1.2017). "Henkel ist eine Hohepriesterin jenes Leidens, das jeden Postironiker des 21. Jahrhunderts ab und an überkommt, einlullt wie ein Wiegenlied, Abendlied, wenns an der Kraft zum Ausstieg oder Aktivismus mangelt." Sie habe Thomas Braschs gegenwartsgerechte Tschechow-Übersetzung auf unsere brennenden Fragen zugespitzt. "Und das Ganze dann, mit starken Schauspielern, zurückinszeniert in ein zeitloses, musikalisches Bühnenmärchen."
Andreas Klaeui vom SRF (16.1.2017) meint, Karin Henkel zeige die öde Vereisung. "Damit ermöglicht sie ihrem virtuosen Ensemble viel tolles Schauspiel, viele hinreissende Momente, wo der Körper ganz anderes aussagt als die Worte, auch viele hoch komische Momente." Jedoch: Es halle nichts nach.
"Karin Henkels Inszenierung ist kein Parade von Jammerlappen und knuffigen Eisbären, sondern eine schwarze Komödie", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.1.2017). "Die Langweiler langweilen sich so raumfüllend und ostentativ, dass es selten langweilig wird, und sie dementieren mit ihren slapstickhaften Verrenkungen den Ernst der Lage immer wieder. Mag sein, dass die tragische Seite Tschechows so ein wenig unterbelichtet bleibt, aber Henkel verrät ihn nie an Klamauk und Karikatur."
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