Die Veranlagung zum Sterben

von Stefan Keim

Bielefeld, 14. Januar 2017. Lange kannten nur Eingeweihte die 1943 in Auschwitz ermordete Malerin Charlotte Salomon. Das hat sich seit 2014 geändert. Da veröffentlichte David Foenkinos seinen Roman "Charlotte", bei den Salzburger Festspielen wurde Marc-André Dalbavies Oper von Luc Bondy uraufgeführt, 2015 folgten ein Ballett von Bridget Breiner im Musiktheater Gelsenkirchen, außerdem einige Ausstellungen. Das kurze Leben Charlotte Salomons – sie starb mit 26 Jahren – ist ein außergewöhnlich berührendes Künstlerinnenschicksal, das über die eigene Biographie hinaus weist. Weil es darum geht, in der Kunst Rettung zu finden.

Komponist Dalbavie und Librettistin Barbara Honigmann haben eine Mischung aus Oper und Schauspiel entwickelt. Damit folgen sie dem Hauptwerk Charlotte Salomons, dem in 18 Monaten entstandenen "Leben? Oder Theater?", einem "Singespiel" mit Texten, Melodien und 1300 Gouachen. Fast das gesamte Vorspiel wird gesprochen. Jana Schulz sitzt als Charlotte mit farbbeschmierten Beinen am Rande der Bühne des Theaters Bielefeld und beschwört einen "Erinnerungsraum" herauf, eine Sphäre zwischen Traum und Realität, eine Spiegelung ihrer Familiengeschichte.

Mädchenhafte Offenheit

Jana Schulz, die oft kantige Kämpferinnen mit leidenschaftsdurchglühten Herzen gespielt hat, entwickelt diesmal eine mädchenhafte Offenheit. Mit klarer, heller Stimme – aber fern aller Naivität – zeigt sie eine junge Frau, vor der die Schrecken des Lebens weitgehend ferngehalten wurden. Erst im südfranzösischen Exil erfährt sie, was gerade in Nazi-Deutschland vor sich geht und dass ihre Mutter vor vielen Jahren keinen Unfall hatte, sondern Selbstmord beging. Einige weitere Familienmitglieder haben sich ebenfalls umgebracht, schließlich springt die Großmutter aus dem Fenster. Was der gefühlskalte Opa pragmatisch und ohne weitere Regung aufnimmt. Charlotte entdeckt in sich selbst die vererbte Veranlagung zum Sterben und begegnet ihr mit einem Mord, der sie befreien soll. Ihre Deportation ins Konzentrationslager ist nicht Gegenstand der Oper, aber natürlich schwebt das Wissen um ihre Ermordung über jeder Aufführung.

Charlotte1 560 bettinaStoess uJana Schulz als malende Charlotte © Bettina Stöß

Charlotte erfindet eine Doppelgängerin mit anderem Nachnamen, die sich in ihrer Erinnerungswelt bewegt. Sie ist ein Mezzosopran, in Bielefeld die sehr glaubwürdig agierende und mit feinen Schattierungen singende Hasti Molavian. Die Oper hat einige Schwächen. Marc-André Dalbavie ist alles andere als ein zupackender Musikdramatiker, er wurde von der Spektralmusik geprägt, die Klänge in ihrer Vieldimensionalität erforscht. Er entwickelt keine klar erkennbare Klangsprache, sondern collagiert, horcht nach, tupft und malt mit der Musik.

Die von Charlotte Salomon in ihrem "Singespiel" zitierten Stücke kommen deutlich hörbar auch in der Oper vor, die "Habanera"-Arie aus Bizets Carmen erscheint am Anfang klar erkennbar und ertönt später verkürzt in verzerrter Harmonik noch einmal. Das ist im Detail extrem reizvoll und als der Sache dienende Bühnenmusik auch vertretbar, die Partitur entwickelt aber auch Längen. Zumal Barbara Honigmanns Libretto viele ungelenke Momente hat. Gegen Ende hat Jana Schulz fast nur noch erläuternde Sätze zu sprechen, die man genauso gut weglassen könnte. Dennoch erledigt sie auch diese fast unmögliche Aufgabe bravourös.

Vision eines Totaltheaters

Dass die Bielefelder Aufführung überzeugt, ist das Verdienst einer herausragenden Regiearbeit. Cleo Niemeyers Drehbühne ist ein nüchternes Konstrukt aus Brettern, Treppen und Geländern. Doch darin bewegt sich das Ensemble in Kostümen (Alexander Djurkov Hotter), die in ihrer Farbigkeit und Grobschraffiertheit direkt Charlotte Salomons expressionistischen Bildern entsprungen zu sein scheinen. Dazu kommen noch auf einen Gazevorhang zwischen Bühne und Publikum projizierte Videos, die zum Teil live gefilmt werden, zum Teil vorproduziert sind. Dadurch entstehen gleichzeitige Aktionen, Mehrdimensionalität, Albtraumbilder, Einblicke in Seelenzustände, eine Reflexion des Erinnerns in ihrer Unkontrolliertheit, auch ihrem Chaos. Eine virtuose Arbeit von Malte Jehmlich, die Bilder erwachen zum Leben wie in einer grandiosen Graphic Novel. Nach der Pause ist die Gaze weg, das Spiel wird direkter, dafür laufen die Projektionen – zu denen auch Zitate aus Charlotte Salomons Werk gehören – im Hintergrund der Bühne.

Charlotte2 560 bettinaStoess uSpiel der Ebenen © Bettina Stöß

All diese Kommentare und Verweise drängen sich nie in den Vordergrund, sie unterstützen den Blick auf die außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit Charlotte Salomons. Es ist ihre Vision eines Totaltheaters, die hier von Mizgin Bilmen und dem Regieteam weitergedacht wird. Dafür muss allerdings auch die Bielefelder Theaterleitung gelobt werden. Denn es ist keinesfalls selbstverständlich, einer jungen Regisseurin, die noch nie Oper inszeniert hat und vor zwei Jahren noch Regieassistentin am Gorki-Theater war, die große Bühne zur Verfügung zu stellen. Umso schöner ist es, wenn das Wagnis so überzeugend gelingt. Wozu natürlich auch das ausgezeichnete Bielefelder Ensemble und die von Alexander Kaladzic mit viel Gespür für musikalische Feinheiten dirigierten Bielefelder Philharmoniker gehören. Als Repertoirestück wird sich diese Oper wegen ihrer fehlenden emotionalen Dichte nicht durchsetzen. Umso mehr lohnt sich der Weg nach Bielefeld. Denn besser wird man Dalbavies "Charlotte Salomon" wohl kaum zu sehen bekommen.

 

Charlotte Salomon
von Marc-André Dalbavie
Musikalische Leitung: Alexander Kaladzic, Inszenierung: Mizgin Bilmen, Bühne: Cleo Niemeyer, Kostüme: Alexander Djurkov Hotter, Video: Malte Jehmlich, Choreinstudierung: Hagen Enke, Dramaturgie: Jón Philipp von Linden.
Mit:  Jana Schulz, Hasti Molavian, Nohad Becker, Daniel Pataky, Katja Starke, Evgueniy Alexiev, Evelyn Krahe, Olaf Haye, Cario Monteiro, Lianghua Gong, Dorine Mortelmans, Dumitru-Bogdan Sandu und anderen.
Dauer 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause.

www.theater-bielefeld.de

 

Kritikenrundschau

Interessanter als die musikalische findet Oliver Cech im WDR (15.1.2017) die bildliche Umsetzung durch die Regisseurin Mizgin Bilmen und ihres Teams. "Die Figuren sahen tatsächlich aus wie aus einem Comic entstiegen: puppenhaft, grob geschminkt mit flächiger Mimik und künstlichen zeitlupenhaften Bewegungen. Sie wurden live und vergrößert auf einen Gazevorhang projiziert, der die Vorstellung in eine Distanz und Abstraktion rückte, keine schlechte Übersetzung des Buches von Charlotte Salomon in ein Bühnengeschehen."

"Das Orchester zaubert Klangschleier, die so eigentümlich klingen und schweben, dass man als Zuhörer 'ganz Ohr' ist – und das heißt etwas bei dieser dichten Inszenierung, die das Auge stark in Beschlag nimmt", schreibt Anke Groenewold von der Neuen Westfälischen (15.1.2017). Mizgin Bilmens Inszenierung sei fein gearbeit. Man könne sich in ihr "schwindelig schauen". Die charismatische Jana Schulz lote anrührend und mit feinem Gespür für Zwischentöne die Zerrissenheit Charlotte Salomons zwischen Lebenslust und Todessehnsucht aus. 

Uta Jostwerner beschreibt den Abend im Westfalen-Blatt (16.1.2017) als "fantastischen Erinnerungsraum, in dem sich Malerei, Klang, Gesang, Video und Schauspiel zu einem berührenden Gesamtkunstwerk verdichten". Mal energisch, mal sanft werde Schulz in der bildgewaltigen Inszenierung zur Spielemacherin, die mit großer Zärtlichkeit ihrem Alter ego namens Charlotte Kann begegnet. "Gesungen wird durchweg auf hohem Niveau."

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