Im Herzen von Roulettenburg

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 16. Januar 2017. So wie Schiller ohne den Geruch faulender Äpfel nicht gut dichten konnte, umgibt sich Dostojewski gern mit Orangen. Zumindest im Wiesbadener Kurhaus, genauer gesagt im prachtvollen Salon Ferdinand Hey'l. Nur ein paar Roulettetisch-Längen entfernt lauert die Spielbank Wiesbaden. Ein Ort, der in zweifacher Hinsicht Literaturgeschichte geschrieben hat: Weil Dostojewski dort Geld verprasste und weil große Teile seines 1867 erschienenen Romans "Der Spieler" dort angesiedelt sind. Im Buch freilich ist nur von Roulettenburg die Rede.

Ums Überleben schreiben

Der Regisseur Christian Franke, der bislang vor allem am Schauspiel Frankfurt aufgefallen ist, nutzt den Roman für eine Kompilation letzter Gelegenheiten. Das, was das "Rien ne va plus" in der Spielleidenschaft, ist die verflixte Deadline dem Schreiberling. Dostojewski diktiert seinen Roman in nur 26 Tagen seiner späteren, 25 Jahre jüngeren Ehefrau Anna, weil er sich zuvor verpflichtet hat, bis zu einem bestimmten Termin einen 10 Druckbögen umfassenden Roman bei seinem Verleger abzuliefern. Andernfalls droht ihm das künstlerische und finanzielle Aus. Roman und Biographie Dostojewskis nutzt Franke für seine eigene Spielfassung, die nicht nur das Leben des Autors mit seinem Roman verschränkt, sondern auch das Gestern mit dem Heute und das Hier mit dem Jetzt.

Spieler1 560 Bettina MuellerDostojewski im Wiesbadener Kur-Salon: Janning Kahnert, Brigitte Sehnert © Bettina Müller

Janning Kahnert und Anja S. Gläser übernehmen darin alle Rollen, die sich anbieten. Hinterm Ofen hockt noch Brigitte Sehnert als Swetlana (Geier?), die nur ab und zu ins Stück fällt und nicht weiter auf. Kahnert indes ist mal Dostojewski, mal Aleksej Iwanowitsch und mal nur übergeschnappt am Klavier. Dabei steigt der Abend äußerst langsam und leise ein und nimmt eigentlich erst Fahrt auf, als die bezaubernde Anja S. Gläser in der Rolle der Anna mit Ukulele unterm Arm in den Raum rauscht. Auf ihrem Instrument stenografiert sie die von Dostojewski diktierten Texte willfährig und blickt ihren Arbeitgeber dabei so unverwandt und frisch gewaschen liebreizend an, dass es einen kein bisschen wundert, dass er sie später zur Frau nehmen wird. Ausgiebig kommen später auch die Erbtante und Mademoiselle Blanche aus dem Roman zu Wort und ins Bild. Die eine als überlebensgroße Matrjoschka und die andere als Nerven sägende Tussi. Da wird’s dann arg viel mit der Überkandidelei. Clownerie und Slapstick verenden in blöder Albernheit.

Hypochondrie und Klassenbewusstsein

Janning Kahnert steigert sich indes als Großschriftsteller erfolgreich in manch ein Leiden hinein und schärft die Konturen seiner Figur, indem er ihre Hypochondrie wie ihr Klassenbewusstsein karikiert. Dabei switcht der Abend zwischen dem Roman, dem Leben Dostojewskis und Briefen sowie Tagebuchnotizen fröhlich hin und her. Das ergibt alles Sinn, doch wer den Roman nicht kennt, ist hier ebenso verloren wie diejenigen, die nicht wissen, was Dostojewski sonst so trieb. Das ist leider nicht das einzige Manko an diesem Abend. Nähme man 30, 40 Minuten heraus, wäre viel gewonnen. So aber suppt das Ganze immer wieder aus und verliert sein Zentrum.

Spieler3 560 Bettina MuellerUnd ewig locken Weib und Religion: Janning Kahnert, Anja S. Gläser © Bettina Müller

Das ist in diesem Falle wirklich schade, ist dies doch mal ein Abend, der von einem sehr eigenwilligen und frischen Zugriff zeugt, nicht gerade das, was in Wiesbaden oft auf den Tisch kommt. Dabei arbeitet Franke mit seinen bewährten Leuten zusammen: Sabine Mäder hat ihm den Salon mit Teppichen als Schreib- und Wohnstube arrangiert und zwei alte Schränke für Garderobenwechsel aufgestellt und Raphaela Rose changierende Kostüme entworfen, die Russland ebenso genügen wie sie das 19. Jahrhundert mit der Mode von heute kreuzen. Von Tim Roth schließlich stammt der dem Spieltrieb frönende Soundtrack, der sich immer wieder hübschen Abstraktheiten hingibt.

Es ist ein kleiner Abend geworden, eine Collage und ein Parforceritt. Zum herzerweichenden Finale werden die beiden Schauspieler dann ganz kleinlaut, suchen und finden ihren Weg durchs Publikum ans Fenster, durch das sie nach draußen, in den angrenzenden Park entschwinden: zwei großspurig Liebende, die nur noch sich zu verlieren haben.

 

Der Spieler: Dostojewski
nach Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Deutsch von Swetlana Geier
Regie: Christian Franke, Bühne: Sabine Mäder, Kostüme: Raphaela Rose, Musik: Tim Roth, Dramaturgie: Sascha Kölzow.
Mit: Anja S. Gläser, Janning Kahnert, Brigitte Sehnert.
Dauer: 2 Stunden und 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

"Zweieinhalb ermüdende Stunden kämpft man sich durch ein Textgestrüpp, von dem man sich wünscht, es hätte jemand beherzt zurecht gestutzt", ärgert sich Maja Hettesen von SWR2 (17.1.2017). "Immer dann, wenn es um die Spielsucht geht, wenn Dostojewski den rauschhaften Zustand des Spielsüchtigen beschreibt und die Figuren auch mal Menschen sein dürfen, dann funktioniert der Abend." Jedoch habe es die Regie verspielt, "anklingen zu lassen, wie sehr Existenznot Dostojewskis Schreiben beeinflusst hat – oder das Schreiben überhaupt".

Astrid Biesemeier von der Frankfurter Neuen Presse (19.1.2017) schreibt, Franke mache es seinem Publikum nicht leicht, Romaninhalt und Entstehungsgeschichte auseinanderzuhalten und zu folgen, wer jedoch mit einer guten Portion Halbwissen in das Kurhaus gehe, könne sich aber an der herrlichen Spielfreude und Wandlungsfähigkeit von Anja S. Gläser 'berauschen'.

"Ein Abend mit großem Einsatz, aber ohne wirklichen (Erkenntnis-)Gewinn", bedauert Birgitta Lamparth vom Wiesbadener Tagblatt (18.1.2017) "Die eigentliche Liebesgeschichte bleibt hier auf der Strecke. Sie wird vom hektischen Wechsel der Figuren förmlich überrollt."

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