Michael Thalheimer möchte nicht, dass wir lachen

von Michael Wolf

Berlin, 18. Januar 2017. Sagt ein Theaterbesucher zum anderen: "Also, lustig war das ja nicht." Sagt der andere: "Aber klar, stand doch Komödie dran." So belauscht nach der Premiere von Molières "Der eingebildete Kranke" an der Berliner Schaubühne.

Der Mann ist tot, die Frau frohlockt

Das Stück ist tatsächlich eine Komödie: Argon ist ein Hypochonder. Er hat furchtbare Angst zu sterben, genießt es aber trotzdem krank zu sein. Wenn all die Einläufe nur nicht so teuer wären! Also will Argon zwecks Kostenersparnis seine Tochter mit einem Arzt verheiraten. Die ist aber natürlich in einen anderen verliebt. Und dann wäre da noch eine Gattin, die einzig hinter seinem Geld her ist. Argons gewitzte Haushälterin rät ihm schließlich sich tot zu stellen, um die Reaktionen der Familie zu prüfen: Seine Frau frohlockt, woraufhin er sie verstößt. Seine Tochter trauert und darf ihren Geliebten heiraten (vorausgesetzt er wird Arzt).

Nette Geschichte und sie wurde auch schon oft mit Hape Kerkelings Credo erzählt: "Witzigkeit kennt keine Grenzen." An der Schaubühne Berlin hat Bühnenbildner Olaf Altmann die Pointen vorsorglich in einem 3 Meter tiefen und 5 Meter breiten Guckkasten eingehegt. Alles ordentlich gefliest – gute Entscheidung. Wie einem Albtraum Gerhard Stadelmaiers entsprungen scheißt, kotzt, rotzt und röchelt Peter Molzens Argan in Rekordzeit alles voll.

 Eingebildete Kranke2 560 Katrin Ribbe uBloody Hell: Peter Moltzen ist der eingebildete Kranke an der Berliner Schaubühne © Katrin Ribbe

Dem entgegen ist Michael Thalheimers Inszenierung von geradezu aseptischer Humorlosigkeit. Das liegt an ihrer exzessiven Albernheit. Nur die deutlichste Geste gilt: Argan deutet ständig zwischen dem Schoß seiner Tochter und dem des designierten Schwiegersohns hin und her. Nur das abgedroschenste Klischee darf vorkommen: Wenn Regine Zimmermanns Toinette sich als Arzt ausgibt, lässt sie sich sogleich als sexy Krankenschwester von Argan ficken. Nur der platteste Einfall aus den Proben blieb übrig: Man studiert nicht an der Fakultät, sondern an der Fäkalität.

Auf verquere Weise werktreu

Auf verquere Weise geht es werktreu zu. Das Ensemble trägt Perücke, weiße Schminke und behutsam gebrochenes Zeitkolorit aus dem 17. Jahrhundert am Leib. Das Stück war ursprünglich eine Ballettkomödie. In Morgenmantel und Reifrock turnen, hetzen und stolpern sie über die Bühne, als würde Monty Pythons Ministry of Silly Walks beim Eierlaufen antreten. Das erinnert manchmal an Herbert Fritsch, und so wie Peter Moltzen an einer Stelle das Wort "schön" betont, klingt es fast wie ein Gruß an seinen Kollegen von der Volksbühne.

Lustig ist diese Freakshow trotzdem nicht. Soll sie auch nicht sein. "Dummheiten sind keine Unterhaltung! Wir hätten auf diese schamlose Oper gerne verzichtet", heißt es in einer Szene. Aber es wäre zu einfach zu sagen: Ja, war eine Komödie, aber halt kein Stück lustig. Nein, Michael Thalheimer hat nicht einfach schluderig inszeniert. Im Gegenteil: Er hat den Humor der Vorlage so grotesk überbetont, dass er zu grell und zu nah ist, um ihn noch zu erkennen. Einzig 12-jährige Bud Spencer-Fans (wenn es die denn noch gibt) hätten hier Spaß.

Eingebildete Kranke1 560 Katrin Ribbe uBitte alle einmal lächeln! Molière mit Felix Römer, Renato Schuch, Alina Stiegler, Ulrich Hoppe, Jule Böwe, Peter Moltzen, Regine Zimmermann © Katrin Ribbe

Michael Thalheimer möchte nicht, dass wir lachen. Er will den Witz austreiben. Das unablässige Orgelspiel im Hintergrund täuscht nicht: Wir wohnen einem Exorzismus bei. Wir selbst sollen von Dämonen befreit werden. Denn klar, es geht um viel mehr in diesem Stück als Wehwehchen und eine irre Sippe: Es geht um den Menschen, den Tod, um GANZ GROSSE THEMEN. Drunter macht es Thalheimer halt nicht. Drunter fängt er gar nicht an zu inszenieren. Und so stößt sich Argan an den gefliesten Wänden seiner Existenz, ist Gefangener einer chronisch entzündeten Welt, einem nichtigen Körper, einem endlichen Dasein.

Weltschmerz mit Gryphius

Zu Beginn und Ende zitiert er den Barockdichter Andreas Gryphius als seinen Kronzeugen des Leids:

"Ach! und Weh!,
Mord! Zetter! Jammer / Angst / Creutz! Marter! Würme! Plagen.
Pech! Folter! Hencker! Flamm! Stanck! Geister! Kälte! Zagen!
Ach vergeh!"

Und es stimmt ja. Michael Thalheimer hat ja recht. Es gibt nichts zu lachen. Es ist alles schlimm. Aber es ist auch alles Binsenweisheit und wird nicht origineller dadurch, dass Argan sich am Ende mit Kunstblut bespritzt. Als Lösung ist der Tod ein bisschen einfach. Und witzlos. Außerdem verschweigt sie was Gryphius auch gedichtet hat:

"Man kann dem Glanz des Tages ja entgehn! / Doch nicht dem Licht, daß, wo wir immer steh’n / Uns sieht und richt' und Hell' und Gruft durchdringet."

 

Der eingebildete Kranke
von Molière
Deutsch von Hans Weigel
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altman, Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Maja Zade, Licht: Norman Plathe.
Mit: Peter Moltzen, Jule Böwe, Alina Stiegler, Iris Becher, Kay Bartholomäus Schulze, Felix Römer, Ulrich Hoppe, Renato Schuch, Regine Zimmermann.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de


Mehr zu Molières Komödie in Berlin: An der Volksbühne spielte Martin Wuttke den eingebildeten Kranken 2012 in eigener Regie.

 

Kritikenrundschau

"Deprimierender war Komödie wirklich selten", meint André Mumot von Deutschlandradio Kultur (18.1.2017) Er sah "freudlos kaltes Konzepttheater". "Wann immer sich doch mal hemmungslose Albernheit einstellt, muss der Regisseur sogleich demonstrieren, dass es eigentlich keinen Grund zum Lachen gibt: Seine groß aufspielenden Darstellerinnen und Darsteller dürfen ausschließlich penetrante Verkommenheit zum Ausdruck bringen."

Irene Bazinger schreibt in der FAZ (20.1.2017), Thalheimer vertraue auf Molières kühl-klare Menschenkenntnis, auf die Stärke seines eigenen, präzis-pointierten Theaterstils und auf die Strahlkraft des virtuos verspielten Ensembles. Dass alle Figuren als aufgedonnerte Knallkomödienchargen agieren, findet Bazinger "schrecklich wie schön", denn ihre Unglaubwürdigkeit steigere sich immer wieder ins Gegenteil und werde als tiefere Wahrheit der höheren Lüge plausibel.

"Lustig, wirklich! Aber eben auf garstige, eklige, abscheuliche, trübselige, einsame und unwürdige Weise lustig, wie Thalheimer mit aller Vehemenz nahelegt. So lustig wie das Leben eben so ist", schreibt Ulrich Seidler in der Frankfurter Rundschau (19.1.2017). Ein ziemlich brutales Slapstick-Workout werde einem geboten.

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (20.1.2017): "Besitzt Thalheimer in seinen großen Inszenierungen (...) die Kraft zur hohen, wuchtigen Form und zum Pathos der Tragödie, wäre hier die Behauptung, man wolle so etwas wie Schreckensdimensionen des Menschlichen erkunden, nichts als Show-Routine, Ekel-Effekthascherei." Interessant sei jedoch der Verweis auf den Barock und die Ausläufer des Mittelalters: "Thalheimer hat mit seinen grimassierenden, in exaltierte Künstlichkeit und erstarrte Posen getriebenen Schauspielern die Fratzen von mittelalterlicher Totentanz-Darstellungen inszeniert – entstanden ist ein Grand Guignol von fröhlichen Horrorclowns."

Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (20.1.2017) schreibt: "Spucken, kreischen, toben. Schnell wird das Bestiarium öde." Thalheimers Inszenierung ersticke jede komödiantische Chance im Keim. Das Stück bleibe tot wie ein fauler Fisch. "Vielleicht stimmt einfach die Behauptung nicht, dass die tollen alten Stücke erst mal eine Überdosis brauchen, bevor sie wieder laufen, sprechen, lachen können."

Kommentare  
Der eingebildete Kranke, Berlin: überzeichnet wie bei Fritsch
"Alles, was raus muss, muss raus!“ schreit Jule Böwe als Béline: Michael Thalheimers „Der eingebildete Kranke“ springt kopfüber in die derbe und drastische Komik.

Der auf 100 Minuten gekürzte Abend kostet jede Blähung seiner Figuren aus, die zucken, zappeln und grimassieren: ganz so als ob bereits Herbert Fritsch an der Schaubühne angekommen wäre, der aber mit seiner dadaistischen Körperkomik erst in der nächsten Spielzeit von der Volksbühne an den Kudamm herüberwechselt.

Die Figuren sind wimmernde, greinende, stark überzeichnete Karikaturen, die jeden Slapstick auskosten und in quietschbunten Kostümen, die an Barock und Rokoko erinnern, durch diese grelle Farce torkeln. Die Körperflüssigkeiten fließen, es wird nach Leibeskräften geröchelt und gekotzt. Die rote Farbe spritzt auf die weißen Kacheln.

Die Ärzte wissen nicht, was sie tun. Stattdessen quaksalbern sie mit derart brachialen Methoden herum, dass sie mehr Schaden als Nutzen anrichten: der Abend orientiert sich an dem lesens- und hörenswerten WDR-Feature „Der König stinkt“ (1973), das im Programmheft abgedruckt ist und die Methoden der Leibärzte des Sonnenkönigs anschaulich schildert.

Aber Thalheimer wäre nicht Thalheimer, wenn das ganze Komödien-Halligalli nicht doch einen Haken hätte und noch eine Brechung ins Tragische bekäme. Er rahmt den Abend mit einem Solo der Titelfigur, des Hypochonders Argan (Peter Moltzen).

Am Anfang und am Ende steht er ganz allein in seinem engen Krankenzimmer-Quader und rezitiert die “Hölle“, ein Gedicht des Barockdichters und Molière-Zeitgenossen Andreas Gryphius: „Ach! und weh! Mord! Zeter! Jammer! Angst! Kreuz! Marter! Würme! Plagen. Pech! Folter! Henker! Flamm! Stank! Geister! Kälte! Zagen! Ach vergeh!“ Schmerz und Todessehnsucht von Gryphius rahmen den Komödien-Klassiker von Molière und geben dem Abend einen neuen Dreh.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/18/der-eingebildete-kranke-michael-thalheimer-konfrontiert-an-der-schaubuehne-moliere-mit-gryphius-und-vielen-koerperfluessigkeiten/
Der eingebildete Kranke, Berlin: Danke für Gryphius!
Danke für das wunderbare Gryphius-Zitat! - den Gryphius hat diese Sicht ja was gekostet - Moliere haben seine Sichten auch was gekostet - schade, dass vor den Preisen, die Dichter für ihre Zeilen mitunter gezahlt haben, gern so wenig Respekt herrscht. Besonders gern bei Regisseur e n. Da wissen die wohl nicht, was sie von ihren eigenen künstlerischen Möglichkeiten versäumen. (...)
Der eingebildete Kranke, Berlin: gegeifert, chargiert, grimassiert
Wie so ziemlich jede aktuelle Inszenierung lässt sich für den, der finden will, ein Bezug zu dieser seltsamen Zeit, die gerade dabei ist anzubrechen, entdecken. Natürlich kann man in diesem Selbstbewunderer und egomanischen Ich-Inszenierer Argon, der sich so sehr auf sich selbst fokussiert, dass nicht nur die Welt um ihn herum sondern auch er selbst vor die Hunde geht, diesem die menschliche Existenz auf ihr Niederstes, auf ihre Urinstinkte Reduzierenden, für den Vernunft der Todfeind, Empathie die ultimative Bedrohung ist, die eine oder andere bekanntere Figur des heutigen Tages erkennen. Oder auch nicht. Denn an diesem Abend, und das ist das Erschreckende, ist eigentlich alles egal. Knapp zwei Stunden lang wird gegeifert, chargiert, grimassiert und sich verbogen, werden Flatulenzen und anderweitige Auswürfe und Einläufe zelebriert, braunverschmierte Windeln vorgeführt und ein Fäkalhumor gefeiert, der so manchen Vierjährigem die Schamesröte ins Gesicht triebe.

Und wozu das Ganze? Um vorzuführen, wie Selbstsucht alles Menschliche zu zerstören, das Vernunftwesen auf seinen banalen Kern zu reduzieren vermag? Indem zwei Stunden lang agiert wird, als hätten wir es mit Teenagern in ihrem ersten Vollrausch zu tun. Michael Thalheimer ist – oder war einmal – ein Meister der Reduktion, einer, der in der Lange war, jeden Stoff auf seinen existenziellen Kern, auf das Grundprinzip menschlichen Handelns, Strebens, Leidens und Scheiterns zurückzuführen. Womöglich versuchte er dies auch hier, doch was er findet, ist kein Kern, ist keine Keimzelle und schon gar kein Fundament. Es ist der Rest, der bleibt, wenn man alles, was Leben heißt, abwirft, nicht nur die Essenz bildet, sondern sie gleich mit wegschüttet. Dann bleibt wenig mehr als Exkrement und schon gar keine Erkenntnis. Aber zumindest ein Leiden, das alles andere ist als eingebildet: das des Zuschauers. Der eingebildete Kranke ist der Abend, an dem das Prinzip Thalheimer implodiert. Ob endgültig wird sich zeigen. Die Hoffnung ist ja bekanntlich jene, die zuletzt stirbt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/19/die-exkremente-des-dorian-gray/
Der eingebildete Kranke, Berlin: Gryphius' Schrecken
#1. Ich bin durchaus nicht sicher, ob Gryphius Todessehnsucht geplagt hat, weil er ja ganz schön viel unterwegs war und auch viel gelernt, auch gelehrt hat. Ich denke, ihn hat eher die Sehnsucht geplagt, dass die Schrecken seiner Zeit, die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, die Plagen des vorherrschenden Unverstands und der Gewalt-Herrschaft vergehen mögen. Und die Scham darüber, dass er diesen nichts als seine Worte, Verse, gefundenen Analogien entgegensetzen konnte.
#3. Das wäre doch zu begrüßen, wenn es denn ein Prinzip Thalheimer gäbe, wenn das als Prinzip implodiert. Vor allem, wenn man Thalheimer als Künstler sieht.
Der eingebildete Kranke, Berlin: großes Theater mit minimalen Mitteln
Wenn ich mir die Kritiken hier durchlese, hätte ich zu dem Schluss kommen können:Lieber nicht hingehen!

Aber das wäre ein großer FEHLER gewesen, denn es ist großes Theater mit minimalen Mitteln. Eine bitterböse schwarzehumorige, zeitgemäße Komödie über Zustände im Gesundheits-Apparat, Pflegeheimen, Familien etc. etc.

Toller Abend!
Der eingebildete Kranke, Berlin: lohnt sich
Wir 4 haben gestern viel lachen können, war super gespielt und der Applaus war riesig.

Reingehen lohnt.
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