Fürchte den Endzeit-Zwilling

von Lukas Pohlmann

Dresden, 20. Januar 2017. Es ist ein Kreuz mit der Erwartungshaltung. Da könnte man hinter dem Stücktitel "kein Land. August" ein Annäherung an den Sächsischen Freistaats-Kleingeist vermuten und seinen Lieblingsmonarchen August den Starken. Doch dann liefert das Dresdner Staatsschauspiel die ganze Welt. Ehrlich.

Die Uraufführung von Thomas Freyers Sprach-Fieber-Traum "kein Land. August" ließe sich am Tage von Donald Trumps Inauguration als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ebenso als Verweis auf Netflix- wie auf Realwelt-Endzeitgelüste schauen. Da ist genauso postfaktische Gefühlswelt drin wie The Walking Dead. Da wird Landschaft zum Spiegel des Innern wie in Büchners "Lenz" und die Begegnung mit absurden Einzelgängern erinnert an dystopische Film-Visionen.

Oben lauern die Soldaten

Einer (August) flieht auf der Suche nach irgendwas. Ist jahrelang unterwegs in einer entrückten Welt voller verschrobener Figuren und kehrt am Ende wieder zurück. An einen Ort, der dem Ausgangspunkt ähnelt, der aber doch ganz anders ist. Oder?

keinlandaugust 4 560 matthias horn u Zwillinge: Marius Ahrendt und Benjamin Pauquet  © Matthias Horn

Weder Freyers Text noch Jan Gehlers großartige Inszenierung legen es darauf an, das Publikum mit einfachem Erkenntnisgewinn in die kalte Dresdner Abendluft zu entlassen. Die Leute in Augusts Tal reden vom unüberquerbaren Bergkamm. Irgendwann sei Krieg gewesen in dem Tal, aus dem sie alle noch nie weg waren. Irgendwann als Augusts Mutter ein Säugling war. Vielleicht. Seitdem glauben die Bewohner jedenfalls die Soldaten zu sehen, die oben versteckt, schussbereit lauern. Und nun stirbt das Tal langsam aus – zu lange wurden hier keine Kinder mehr geboren. Aber August, dieser irgendwie alterslose, hoffnungsvoll abwesend guckende Kerl, den Benjamin Pauquet da auf die Bretter zaubert, findet eine alte Fotografie, die ihn als Baby neben einem Zwilling zeigt. Der soll verschwunden sein, seit einem Fluchtversuch, bei dem der Vater starb.

Moment.

Ein Zwilling, der eigenfüßig einen Bergkamm erklimmt und an den der Bruder sich nicht erinnert? Eigenartig.

Doppelt verrückt

Aber längst nicht so absurd wie die Eigenarten und Vorkommnisse der Einwohner des Ortes. Die scheinen der praktischen Selbstermordung nicht abgeneigt – ohne aber dabei zu sterben. Verrückt! Doppelt verrückt dank der Darstellung der Ortsansässigen durch Antje Trautmann, Anna-Katharina Muck und Matthias Luckey, die ihr großes Können zur Schau stellen. Denn sie schaffen dreierlei: Weder gibt ihr Spiel die Figuren der Lächerlichkeit preis, noch die Geschichte, die sie erzählen und doch schimmern immer zart die Spieler hinter ihrer Maskerade hervor und offenbaren einen durchaus reflektierten Blick auf ihr Treiben.

keinLandAugust3 560 Matthias Horn uAuf hohem Niveau: Matthias Luckey, Antje Trautmann und Anna-Katharina Muck  © Matthias Horn

Ein Treiben auf extrem hohem Niveau, über die gesamten knapp zwei Stunden Spieldauer. Die Bühne von Sabrina Rox wird dominiert von zwei wie Torflügel verstellbaren, diffus spiegelnden Bühnenwänden kurz vor der ersten Reihe. Darüber hinaus gibt es fast nichts, außer der Publikumstribüne als Berghang und dem seitlichen Blick auf die leere Hauptbühne des kleinen Dresdner Hauses. Dort herrscht vor allem beredte Dunkelheit. In den wenigen, fein gesetzten Lichtern bewegen sich die Spieler in der zeitfreien, leicht angeranzten Stilmixtur der Kostüme von Katja Strohschneider. Größtes Pfund ist aber der Regisseur, der alle gebotenen Fäden zusammenführt, Spielern Raum und dem Autor Vertrauen schenkt. Dem Autor, der von der Lust getrieben schien, wirklich eigene Figuren, Orte, Situationen, Begegnungen zu erfinden und sich dabei keiner allzu alltäglichen Sprache zu bedienen. Thomas Freyer formt Verse, Klänge, Wiederholungen. Dabei entstehen abgedreht liebenswerte Figuren, deren Schicksal und Aufeinandertreffen mit August fordern und faszinieren.

Wir wissen nichts

Denn die Suche nach dem Bruder ist August gefundener Anlass zur Flucht in die Fremde. Dabei trifft er etwa Blaan (Matthias Luckey), der sich in seiner Endzeit-Autowerkstatt (der Werkbank der Seitenbühne) zwischen Sklavenhalter-Manier und Ehe-Devotion zerreibt. Oder Holle, der irgendwie sein Glück sucht und der dem Schauspieler Albrecht Goette eigentlich zu jung ist – was dieser immer wieder genüsslich mitspielt. Sogar den Zwilling trifft August auf seiner Odyssee, irgendwann in Niemandsland und -zeit. Da steht ihm dann der grandiose Schauspielstudent Marius Ahrendt gegenüber, der sich wohl so sehr ins Kollegenstudium vertieft hatte, dass er als Anton seinem Zwilling den Zungenschlag klont. Auch deshalb können die beiden am Ende in den Spiegelwelten ihrer Heimatorte raufen als wären sie zwei Fassungen einer selben Existenz.

Aber danach geht wieder einer los aus dem kleinen Ort am Rand der Zeit. Mit einer Triebfeder aus Angst und Lust auf Ungewissheit. Und weiß nicht, ob er flüchtet oder sucht.
In Christa Wolfs "Kein Ort. Nirgends", bei dem nicht nur der Titel eine interessante Anleihe verheißt, lauten übrigens die letzten Zeilen:
"Einfach weitergehen, denken sie.
Wir wissen was kommt."
Nach "kein Land. August" wissen wir, wir wissen gar nichts. Aber es könnte helfen, wieder aufzubrechen.

 

kein Land. August
von Thomas Freyer Uraufführung
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Jan Maihorn, Licht: Olaf Rumberg, Dramaturgie: Anne Rietschel.
Mit: Anna-Katharina Muck, Antje Trautmann, Marius Ahrendt, Albrecht Goette, Matthias Luckey, Benjamin Pauquet.
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, ohne Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Gehlers Inszenierung ziele ganz auf den parabelhaften Text und lasse subtil Raum zur Auslegung, so Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (23.1.2017). Durchgedacht sei an dem Abend alles, "aber körperlich gespielt wird selten. Eine Nuance zu statisch wirkt das Ganze". Die Regie setze vor allem auf Freyers eindringliche Sprache und streue ab und zu ein sensibles Bild. Insgesamt aber ein großer Wurf, "Heimat, Flucht, Krieg und Gier, alles wird verhandelt".

Einen absurd-apokalyptischen Weltspiegel habe Thomas Freyer vorgelegt, so Michael Bartsch in den Dresdener Neuesten Nachrichten (23.1.2017). Genießen könne man eigentlich nur die minimalistische Sprache, die vor allem in den Monologen auch poetischen Klang entfalte. Jan Gehler komme das Verdienst zu, Innenwelt, Außenwelt und die Möglichkeiten des Theaters zu einen atmosphärischen Ganzen zu fügen. "Weder die Morbidität noch die Anflüge von Komik haben etwas Penetrantes."

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