Exihibitionismus und (Daten)schutz

von Martin Jost

München, 20. Januar 2017. Gut die Hälfte des Publikums geht bei der Premiere von "Situation mit Zuschauern" in München kurz vor dem Höhepunkt aus dem Saal. Banafshe Hourmazdi, die eben noch auf der Bühne stand, sagt: "Ich werde mir das Video nicht ansehen", und geht mit hinaus. Denn ein Video ist alles, was jetzt noch kommen soll. Es ist gut vier Minuten lang und wir wissen schon, was es zeigen wird. Oliver Zahn hat es uns zuvor Bild für Bild beschrieben. Es ist schwer, hier von einem bewegten Moment zu sprechen. Denn alle Gefühle haben die Akteure längst aus dem Raum vertrieben. Doch gerade die Abwesenheit aller Affekte macht diesen Moment jetzt so wichtig: Er ist ein Sieg der Aufklärung über den Wahnsinn.

Abend mit Triggerwarnung

Zuschauer, die eine Theateraufführung verlassen, tun zweierlei. Sie schützen sich einerseits vor einer empfundenen Zumutung, entziehen sich der Gewalt, die eine Inszenierung ihnen antut. Gleichzeitig werden sie zu Tätern: Sie stören den Saal und protestieren gegen das Gezeigte. Das vorzeitige Verlassen einer Aufführung kann damit selbst ein Akt der Gewalt sein.

SituationmitZuschauern 560 Nicole Wytyczak uSituation mit Performern vor geschlossenem Vorhang ©  Nicole Wytyczak

Das Künstlerteam "Hauptaktion" um den 1989 geborenen Oliver Zahn hat also das Publikum entwaffnet. Die Saaltüren stehen offen. Dass an dieser Stelle des Abends die Möglichkeit bestehen würde, zu gehen, wurde von Anfang an mehrmals zugesagt. Es muss sich jetzt noch nicht einmal ein Zuschauer den Ruck geben, der erste zu sein, denn Hourmazdi geht ja auch. Doch es ist genauso okay, sitzen zu bleiben.

"Situation mit Zuschauern" ist Oliver Zahns dritte "Essayperformance" nach "Situation mit ausgestrecktem Arm" über die Geschichte des Hitlergrußes und "Situation mit Doppelgänger" über die Aneignung ethnischer Codes in der Kunst. Laut Ankündigung will er diesmal "die Ethik des Betrachtens und die Lust an der Beobachtung" verhandeln. Ankündigung und Abendzettel enthalten eine Triggerwarnung und eine Altersbeschränkung von 18 Jahren.

Das Sehen aus der Anonymität holen

Der Erste, der auftritt, ist Techniker Jonaid Khodabakhshi. Er lässt den Vorhang herunter, vor dem sich Banafshe Hourmazdi, Jasmina Rezig und Oliver Zahn ein Podium aufbauen. Jeder der drei sitzt an einem kleinen Tisch und hat ein Manuskript vor sich. Zahn informiert das Publikum, dass auf die "Lecture" das gemeinsame Ansehen eines Videos folgen wird. Das Video sei das erste von inzwischen 14 Enthauptungsvideos, die der "Islamische Staat" veröffentlicht hat. Dieses Video, das den Mord an dem US-Journalisten James Foley dokumentiert, sei nur noch im Kontext von anti-islamischer Propaganda sowie als Gewaltporno im Internet zu finden. Gleichzeitig ist das Standbild von Foley, der in einem orangen Overall vor seinem vermummten Henker kniet, in allen Zeitungen erschienen. Eine Zeitung wollte der Propaganda nicht in die Hände spielen und zeigte nur den Wüstenhintergrund aus dem Clip. Diese Wüste ist nun auf den Vorhang in "Situation mit Zuschauern" gedruckt.

"Wir zeigen das Video im Theaterraum", leitet Zahn die Vorlesung ein, "um das Sehen aus der Anonymität zu holen." Die drei Akteure lesen abwechselnd Passagen aus ihrem Manuskript. Hourzmadi sitzt ganz links und liest Online-Kommentar-Debatten darüber vor, ob man das Video ansehen dürfe oder nicht. Rezig, in der Mitte, schildert Meilensteine der Inszenierung von Gewalt auf dem Theater seit der Antike. Zahn nimmt eine Filmanalyse vor. Wer Angst hatte vor fliegenden Schwertern und einem rollenden Kopf, erfährt, dass die wirkliche Enthauptung überhaupt nicht zu sehen sein wird. Ansteckmikrofone, Schnitte und Effekte machten den Propagandafilm zu einer ambitionierten Inszenierung, an der womöglich vieles gestellt ist.

Eine knappe Stunde tragen die drei mit monotoner Stimme vor. Rezig zeichnet einen Bogen von antiken Hinrichtungen im Amphitheater über die Selbstverbrennung des vietnamesischen Mönchs Thích Quảng Đức bis zum gerade laufenden Abend: "2017. Junge Theatermacher*innen entschieden sich, das Enthauptungsvideo zum ersten Mal auf eine Theaterbühne zu versetzen." Zwischendurch schweigen die Vortragenden und sehen sich das Publikum an. Das Saallicht geht nie aus.

Kein Skandal, kein Schock

Die Zuschauer, die die Kammer 3 nach der Lecture, aber vor dem Video verlassen, haben die Bilder so genau und dabei so sachlich beschrieben bekommen, dass sie es gar nicht mehr sehen brauchen. Die andere Hälfte weiß genau, was sie erwartet. Das Podium wird aufgeräumt, der Vorhang fährt hoch. Die Tür bleibt offen. Techniker Khodabakhshi schleift in aller Seelenruhe eine portable Leinwand auf eine Markierung und zieht sie auf. Er startet das Propaganda-Video des IS. Es ist alles genau wie beschrieben, dann ist der Film rum. Die Performer sind für einen Applaus schon nicht mehr greifbar.
Die Stimmung ist gedämpft. Niemand scheint besonders bewegt, in welche Richtung auch immer. Zahn, Rezig und Hourmazdi haben keine Regung in ihren Vortrag gelegt. Sie haben einen theorielastigen Essay vorgelesen und die größtmögliche intellektuelle Distanz zum Gewaltvideo aufgebaut. Der Film ist kein Skandal, kein Schock, kaum mehr eine Zumutung. Er ist entschärft.

Im Vortrag war die Rede davon, dem IS nicht auf den Leim zu gehen und sich nicht von ihm provozieren zu lassen. Durch das Rationalisieren hat ein Video seine Kraft verloren, das eigentlich Hass schüren sollte. Vernunft sticht Emotion, die Aufklärung gewinnt gegen den Terror.

Die Kammerspiele betten "Situation mit Zuschauern" in ihren Kongress Sensible Daten – Die Kunst der Überwachung ein. Die Lust am Sehen ist der Anknüpfungspunkt zu den Podien, Workshops und Vorträgen über das Spektrum zwischen Exhibitionismus und Datenschutz. Beim Thema Überwachung sind mangelnder Antrieb und Affektlosigkeit gerade nicht, was wir gebrauchen können, so der Tenor der Tagung.

 

Situation mit Zuschauern
von und mit Banafshe Hourmazdi, Jasmina Rezig und Oliver Zahn / Hauptaktion
Technische Gestaltung, Licht: Jonaid Khodabakhshi. Dramaturgie, künstlerische Produktionsleitung: Hannah Saar. Künstlerische Mitarbeit, Outside Eye: Julian Warner. Assistenz: Nele Hussmann.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Eine "intelligent konzipierte und hochinteressante Theaterarbeit" hat Petra Hallmayer gesehen, wie sie in der Süddeutschen Zeitung (23.1.2017) schreibt. "Zahns Essayperformance ist ein Rationalisierungsakt, und wie perfekt er als Distanzierungsmittel funktioniert, war das beeindruckendste und irritierendste Erfahrungsmoment dieser Premiere." Dabei erspare sie einem allerdings auch die Konfrontation mit den eigenen voyeuristischen Impulsen und lasse einen "intellektuell leise unbefriedigt" zurück.

Die künstlerischen Interventionen erwiesen sich "als entbehrlich", findet Jörg Häntzschel ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung (23.1.2017). Stattdessen habe man sich in den Kammerspielen mitten in einer Debatte wiedergefunden, "deren Frontverläufe, Gewichte und ideologische Tektonik sich gerade auf schwindelerregende Weise verschieben". Und die dem Bericht zufolge während des Festivals ziemlich spannend und fruchtbar aufgegriffen wurden.

Kommentare  
Situation mit Zuschauern, München: gefühllos sehen
Aha. Und warum geht man da hin? Um zu hören und nachzuprüfen, dass man gefühllos sehen kann, wenn man nur vorher genau genug erörtert bekommen hat, was man sehen wird, wenn man es dann tatsächlich sieht? Gibt es keine Angehörigen der IS-Opfer, die sich gegen solche theatrale Emotionsfledderei auf Kosten der realen Opfer verbieten?
Situation mit Zuschauern, München: Frage
Sieht man gefühllos zu allein weil man einen emotionslos vorgetragenen Text gehört hat?

Warum man hingeht sollte sich jeder Zuschauer selbst beantworten können - wenn nicht davor, dann vielleicht danach?
Situation mit Zuschauern, München: Generalprobe
Dann hoffe ich für die Opfer, dass sich möglichst viele Zuschauer die Frage vorher stellen und das Hingehenwollen abschlägig beantworten. - Es sei, sie haben es in München so eingeübt, weil sie es eigentlich demnächst in einer IS-Hochburg, in der diese mediokren bestialischen Verbrechen stattgefunden haben oder stattfinden könnten, aufführen möchten um die sadistischen Verbrecher erziehen zu wollen und das ist nur Ihre Generalprobe dafür gewesen...
Situation mit Zuschauern, München: bewusst der Fallstricke
@3: Bitte? Haben Sie den Abend gesehen oder ziehen Sie Ihre - meines Erachtens recht merkwürdigen - Schlüsse ausschließlich aus der obigen Kritik? Wenn Sie schon die Fassung verlieren (ich nehme mal an, Sie sind identisch mit #1, oder?), dann doch bitte in Anbetracht der tatsächlichen Arbeit anstatt aufgrund Informationen aus zweiter Hand (Kritik o.dgl.).
Die Arbeit ist, finde ich, eine äußerst gründliche, der ethisch-moralischen Fallstricke ihres Ansatzes durchaus bewusste, rationale Befragung von inszenierter Gewalt und Propaganda und unseres Umgangs damit. Gerade in unseren an Irrationalität nicht gerade armen Zeiten ist das mehr als nur legitim, vielleicht sogar notwendig. Einen irgendwie gearteten Missbrauch der Opfer des IS konnte ich weder in der Arbeit selbst, noch im anschließenden Publikumsgespräch mit dem Regieteam ausfindig machen.
Situation mit Zuschauern, München: emotionale Leichenfledderei
Nehme Ihre Kritik an, ja, beziehe mich auf die Kritik, die ihn mir beschreibt.
Habe trotzdem keinerlei Bedürfnis aus den genannten Gründen, das zu besuchen, weil ich solche konzeptionellen Ansätze als Missbrauch empfinde und auch nach einem Theaterabend kein Gespräch mit einem Regieteam wahrnehmen wollte.
Begründung: Wenn es nicht alles, was das Theater mir mitteilen möchte über die Inszenierung mitteilen kann, kann ich ja gleich ein Seminar oder eine Podiumsveranstaltung besuchen. Das mögen andere vom Theater wollen, und da habe ich auch gar nichts dagegen. Ich aber möchte das nicht vom Theater. Nun könnte man dagegen halten, dass ich ja ohne die Kritik gar nicht wüsste, was mich an dem Abend erwartet und dass es besser ist, statt Kritiken zum Theater zu lesen, ins Theater zu gehen, um sich überraschen zu lassen.
Ich aber habe gelernt, eher nach den Kritiken zu entscheiden, ob ich einen Abend besuchen möchte oder nicht, weil es für meinen ganz persönlichen Geschmack im Theater zuviele solcher Abende inzwischen gibt, die mir ebenso unangenehm sind, wie der oben beschriebene es wäre. Weil ich das Gefühl habe, dass das kein Theater mehr ist, das mich als kompletten, denkenden, fühlenden Menschen mit individuellen Erfahrungen akzeptiert und sich mir als ihm unbekannten Zuschauer mit seiner Kunst blindlings anvertraut, sondern eines, das beständig dem Publikum vorführen möchte, wie abgestumpft oder desorientiert oder eigentlich ungenutzt überreich es ist und wie es etwas zu vestehen, zu verarbeiten oder empfinden habe. Ich habe immer öfter das Gefühl, dass es sich sowohl bei Interpretationen klassischer Stoffe als auch bei solchen situativen Projekten um emotionale Leichenfledderei handelt.
Wenn Sie das anders empfinden und als Kunst genießen können, freut mich das natürlich für Sie.
Situation mit Zuschauern, München: Gespräch hätte mehr ergeben
Hier wurde eine schematische Performance veranstaltet: Der Zuschauerin wird erklärt, warum es sich hier um ein performatives Ereignis handelt und wie sie daran beteiligt ist (sie kann zum Enthauptungsvideo bleiben oder vorher gehen). Es folgt ein völlig ungewagter Text, der durch seinen rationalen und distanzierten Ansatz eine Scheinobjektivität erzeugt, mit der er sich nicht auseinandersetzt. Dass viele Zuschauer etwas einzuwenden hätten, ist der Punkt, an dem hier etwas zu holen gewesen wäre. Das gute alte Filmgespräch hätte mehr hergegeben!
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