Flugsand im Wind der Zeit

von Harald Raab

Mannheim, 22. Januar 2017. Papier, Papier: eine ganze Bühne voll weißer Papierbahnen. An den Wänden, an der Decke, am Boden. Selbst der Vorhang ist aus Papier. Das Papier verweist auf das Experiment, eine märchenhafte Erzählung zu spielen: Hier wird weniger direkt agiert als berichtet, dass gehandelt wird. Hier wird meist nicht dialogisch gesprochen, sondern auch erzählt, dass jemand etwas gesagt hat. Statt unmittelbarer Dramatik ein Narrativ à la Gebrüder Grimm.

Klangvolle Sprache, von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" untermalt

Roland Schimmelpfennigs neues Stück "Das große Feuer", eine Auftragsarbeit des Mannheimer Nationaltheaters, brilliert zuerst einmal durch die klare, klassisch bildhafte Sprache. Dann das dringliche Thema: Ob Genmanipulation oder Atomkatastrophe: Schimmelpfennig verhandelt oft brennende Menschheitsprobleme auf der Bühne. Ein Beitrag zur momentanen Flüchtlingskrise ist da nur folgerichtig. Und das alles ganz ohne den üblichen, aufgeregten Sozialrealismus. Es ist das richtige Stück am richtigen Ort. Mannheim hatte im vergangenen Jahr 15 000 Asylsuchende auf einmal in ehemaligen Kasernen zu beherbergen.

Als Vorleserin schreitet Nicole Heesters, die Grand Dame des Theaters, durch die Szenen eines ganzen Jahreskreises. Sie erzählt mit wohltemperierter Stimme, souverän und eindringlich von guten und von schlechten Tagen, von denen, die im Wohlstand angenehm leben, und denen, die vom Pech verfolgt sind. Der von Mitgliedern des Nationaltheaterorchesters gespielte Soundtrack ist entsprechend: Ein Arrangement von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" begleitet die von mal zu mal fesselndere, in sich stimmige Erzählstunde.

Ein Boot im tosenden Meer

Zu Beginn erscheint am Vorhang eine Overhead-Projektion. Ein Künstler, Sven Prietz, streut Sand auf die Fläche des Apparats. Er illustriert die Erzählung mit flinken Fingern, zeichnet einen Bach, zwei Ufer, Menschen hier wie dort, den Einbruch von Naturgewalten, schließlich ein zerbrechliches Boot im tosenden Meer und eine Glocke der Hoffnung – oder eine Totenglocke. Alles nur Flugsand im Wind der Zeit, ein flüchtiger, melancholisch berührender Augenblick.

DasgrosseFeuer1 560 Christian Kleiner hPaper please: Reinhard Mahlberg, Klaus Rodewald und Julius Forster erzählen und spielen Roland Schimmelpfennigs Flüchtlingsparabel in Mannheim © Christian Kleiner

Es scheint anfangs alles so harmlos in diesem konsequentesten aller Erzählstücke Schimmelpfennigs. Wären da nicht die kleinen Anzeichen einer heraufziehenden Katastrophe: Zwei Dörfer, durch einen Bach getrennt. Sonnenschein und Hummelgesumm. Die einen betreiben Weinbau, die anderen Viehzucht. Der Glockenschlag der einen Dorfkirche hinkt etwas dem der anderen nach. Es gibt halt doch zwei Zeiten. Ein Kind ertrinkt im Bach. Zwei Liebende finden zueinander, versuchen vergeblich, mit der Macht der Liebe Unüberbrückbares zu überwinden.

Eine Parabel vom gesegneten und vom verfluchten Leben

Weil zwei Köter sich in die Wolle bekommen haben, zerschellt im Getümmel ein Weinfass. Feindschaften entstehen. Die kleine Brücke über das Bächlein wird gesperrt. Eine Naturkatstrophe sucht die Region heim. Das Wasser wird zum trennenden Strom. Die Viehbauern erleiden Dürre, Überschwemmung und Seuchen. Den Weinbauern geht es gut. Sie investieren und werden noch reicher. Als im Unglücksdorf auch noch Feuer ausbricht, besteigen die bedrohten Menschen Boote – vergeblich. Die Flüchtenden kommen nicht hinüber ans rettende Ufer. Es ist nicht mehr erreichbar, sie rudern aufs offene Meer hinaus. Hilflosigkeit ist die prägende Erfahrung dieses Schicksalsdramas. "Das große Feuer" ist eine Parabel vom gesegneten und vom verfluchten Leben.

Schauspiel-Intendant Burkhard C. Kosminski als Regisseur und Schimmelpfennig als Autor: Sie sind ein eingespieltes, kongenial arbeitendes Team. Sie können Geschichten so erzählen, wie es eben nur das Theater kann: poetisch, unaufgeregt, direkt, mit starken, expressiven Bildern. Das haben sie bereits vor einem Jahr bei der deutschen Erstaufführung des Stücks "An und Aus" bewiesen, einer Geschichte vom Menschlich-allzu-Menschlichen vor dem Hintergrund des Atomunfalls in Fukushima. Für das Publikum wird die neue Produktion freilich ein wenig zum Dejà-vu. Die Bühnenästhetik von damals findet sich im neuen Stück teilweise wieder. Bühnengestalter Florian Etti reizt seine Idee, mit Papier Traumspielwelten zu schaffen, erneut intensiv und bildmächtig aus.

Balletteske Tableaus, romantische Bildfolgen

Kosminski hat sich für seine Produktion wieder einen Choreographen, den Pina-Bausch-Tänzer Jean Sasportes, geholt. So entstehen einfache, naive Figurenkonstellationen, balletteske Tableaus, romantische bewegte Bildfolgen, etwa wenn die Dörfler im Nebel ihrer Irrungen mit weißen Lampions ihren Tanz der vergeblichen Suche nach Orientierung aufführen

Die Moral der Geschichte könnte sein: Die Welt ist ein Dorf. Die neuen Probleme sind die alten. Und wenn wir nicht werden wie die Kinder, können wir diese Welt nicht mehr verstehen. Schimmelpfennig und Kosminski beweisen mit eindringlicher Leichtigkeit, dass das Theater noch etwas mitzureden hat bei der Deutung dieser Welt. Am Anfang war schließlich das Märchen. Das Ende kann auch nur als ein Märchenstoff im kollektiven Bewusstsein fassbar sein.

 

Das große Feuer
von Roland Schimmelpfennig
Uraufführung
Inszenierung: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Musik: Hans Platzgumer, Orchesterarrangements: Himmelfahrt Scores, Orchesterleistung: Cosette Justo Valdes, Künstlerische Beratung der Sandkunst: Frauke Menger.
Mit: Sabine Fürst, Nicole Heesters, Hanna Müller, Ragna Pitoll, Julius Forster, Reinhard Mahlberg, Sven Prietz, Klaus Rodewald sowie Mitgliedern des Nationaltheaterorchesters, 1. Violine: Philipp von Pichowski.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Das Nationaltheater Mannheim zeige zwei "neue, klug inszenierte, erzählerisch ausgerichtete und ins Herz der Gegenwart zielende Theaterstücke" (neben Schimmelpfennigs "Das große Feuer" auch Clemens Setz' "Vereinte Nationen") und "trotzdem werden sperrangelweit offenstehende Türen eingerannt", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (25.1.2017). Vielleicht, weil sich die Inszenierung den Stücken gegenüber so zugewandt verhalte, dass an keiner Stelle irgendeine Widerspenstigkeit auftrete. Kosminski und sein Team fürchten das Possierliche so wenig wie das Verspielte. Doch "der vernünftige Ansatz, nicht auf eine Aktualität hereinzufallen, schlägt womöglich jetzt zu stark in die engegengesetzte Richtung." Ganz so dekorativ, melancholisch und parabelhaft werde sich der Weltuntergang, der Untergang der uns vertrauten Welt nicht darstellen. "Kosminski lässt uns aber in Ruhe hinhören und bereitet das Feld für weitere Aufführungen.

"Kosminski bietet alles auf, um aus der Mär eineinhalb Stunden poetisches Theater zu machen", so Egbert Tholl in der Südeutschen Zeitung (25.1.2017). Schimmelpfennigs Parabel sei einfallsreich geschrieben, eine "reizende kleine Erzählung, worin berichtet wird von zwei Dörfern". Alles  schaue schön aus "– und verweht an dem Abend sanft im milchigen Dunst der Uneigentlichkeit".

"Recht brav vor sich hin parabelt", meint Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.1.2017). Das Stück von Roland Schimmelpfennig sei wie "aus einem Guss, denn es fasst schlichte Gedanken und gute Absichten in schlichte Bilder." "Von Anfang an liegt etwas behaglich Poetisches und Vorweihnachtliches über dem Abend, ein Hauch von Handke, Mandelkern und Kerzenschein." Es sei alles "ganz hübsch anzusehen", aber insgesamt sei dies ein Abend"von verstörender Harmlosigkeit".

""Die Bilderwelten dieser Uraufführung sind Zauber pur", meint Michael Laages für Deutschlandradio Kultur (22.01.217). Schimmelpfennig allerdings gibt seiner "fatalen Fabel sehr wenig Motive mit auf den Weg; es ist halt, wie es ist." "Fluchtbewegungen? Das chronische Ungleichgewicht im modernen Kapitalismus? All das wäre zu beschwören, bleibt aber weit weg." So bleibt dieses Stück ein "Märchen aus uralten Zeiten".

"Der märchenhafte Ton" des Abends habe "stets etwas Schwebendes", befindet Volker Oesterreich in der Rhein Neckar Zeitung (24.1.2017). "Obwohl der Plot simpel gestrickt zu sein scheint, erzählt 'Das große Feuer' viel von den Gefahren sozialer Kälte, populistischer Ausgrenzung oder eines präsidial verordneten Egoismus’."

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