Jeder könnte K. sein

von Petra Hallmayer

München, 26. Januar 2017. Er ist nicht willkommen, daran lassen die Dorfbewohner von Beginn an keinen Zweifel. Er ist und bleibt ein Fremder. In Kafkas 1926 postum veröffentlichtem unvollendeten Roman "Das Schloss", den Nicolas Charaux nun für die Bühne adaptiert hat, kommt ein Mann namens K. eines Abends in ein Dorf, das von einer mysteriösen Schlossbehörde, einem undurchschaubaren und unerreichbaren Machtapparat beherrscht wird. Er erklärt, er sei ein vom Grafen bestellter Landvermesser und versucht ins Schloss vorzudringen, um sein Aufenthaltsrecht einzufordern.

Stehendes Marschieren

Es ist eine kalte, feindliche Welt, in der K. strandet. Die Figuren im Volkstheater tragen dicke Pelzmäntel und Pelzkappen. Auf der Bühne thront ein drehbares Gehäuse mit einer flachen Rückwand und einem achteckigen Verschlag mit Sperrholzläden, die sich klappernd öffnen und schließen. In und um dieses herum entfaltet sich ein Reigen grotesker Szenen, durch die ein Schwarm bizarrer Gestalten mit weiß geschminkten Gesichtern und schwarz umrandeten Augen trippelt. Die Identitäten in Charaux' Inszenierung sind fließend. Acht Schauspieler schlüpfen wechselweise in diverse Rollen, fächern sie in Parallelbesetzungen auf und mimen alternierend den Erzähler K. Jeder, verdeutlicht Charaux, könnte K. sein. Zugleich verweist die Rollenverwischung darauf, dass die obskuren Wesen, die diesen auf seinem Weg behindern, locken und zurückweisen, in ihm selbst hausen, Spiegelbilder seiner inneren Dramen sind.

dasschloss3 560 Arno Declair uDas "Schloss"-Team: Mehmet Sözer, Jakob Geßner, Pola Jane O´Mara, Luise Kinner, Carolin Hartmann, Jonathan Müller, Mara Widmann © Arno Declair

Während sich das Dorfvolk knechtisch der phantasmagorischen Macht des Schlosses unterwirft, möchte K. den Kampf dagegen aufnehmen und gerät in ein Labyrinth aus Vorschriften und unklaren bürokratischen Zuständigkeiten. Er versucht beharrlich Beziehungen zu knüpfen und erobert das Herz der Geliebten des Schlossbeamten Klamm. Doch all seine Strategien, Schachzüge und Schliche erweisen sich als nutzlos. Mit jedem Schritt vorwärts rückt das Schloss weiter in die Ferne, all seine Bemühungen sind, wie Kafka in seinem Tagebuch notierte, nur ein "stehendes Marschieren".

Keine Monster, sondern Bürokraten

Der junge französische Regisseur unterstreicht die Absurdität und Vergeblichkeit von K.s Kampf um Anerkennung mit expressiven Bildern und clowneskem Körpertheater. Mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern und verrenkten Gliedern rotten sich die Dorfbewohner zusammen, erstarren zu Tableaux, die – wie in Andreas Kriegenburgs legendärer "Prozess"-Adaption – aus Stummfilmen entlehnt scheinen. Sie belauern, umschwirren und bedrängen K. als eine böse Meute, die oftmals animalische Züge annimmt, gackert, gurrt, grunzt und zischelt. Der Monolog des Gemeindevorstehers (Silas Breiding), den er zappelnd und sich krümmend herunterrattert, wird zu einer Nummer von schriller Komik. In mannigfaltigen Formen führt Charaux sinnentleerte Sprechakte vor, die in sich überstürzenden Wortkaskaden, unverständlichen Lauten, Schreien oder trillerndem Gelächter verebben.

Allein, wer den Roman zuvor noch einmal gelesen hat, wird mit der Aufführung ein wenig hadern. Indem sie das Unheimliche grell ausstellt, dämpft sie die Verstörungskraft der Textvorlage ab. Kafkas literarischer Alptraum ist ja gerade deshalb so beklemmend, weil wir darin keinen Monstern begegnen, sondern Angestellten und Bürokraten, der Horror leise daherkommt, in einer sacht verfremdeten Wirklichkeit nistet. Dagegen kann uns Charaux' realitätsentrückter Spuk kaum ernsthaft beängstigen.

dasschloss2 560 Arno Declair uExpressionistischer Reigen: Mara Widmann, Silas Breiding, Jakob Geßner © Arno Declair

Doch mit welcher Kunstfertigkeit er Gruppenszenen choreographiert und düstere Tableaux komponiert, wie raffiniert er mit Tempiwechseln spielt, das ist wirklich beeindruckend, und was das hochkonzentriert und präzise agierende Ensemble hier leistet, ist fantastisch. Charaux erschafft seine ganz eigene Gespensterwelt und wenn man sich auf sie einlässt und von der Lektüre löst, entwickelt der Abend immer wieder einen fesselnden Sog.

Ein Ende mitten im Satz

In einer der stärksten Szenen schieben gegen Ende alle gemeinsam das Gehäuse an, in dem der Beamte Bürgel (Mara Widmann) ins Leere laufende Sätze aneinanderreiht, bringen es unter gewaltiger Kraftanstrengung zum Kreisen, bis einer nach dem anderen erschöpft zu Boden sinkt.

Laut Max Brod sollte K. schließlich an Entkräftung sterben, just als die Nachricht eintrifft, dass es ihm gestattet wird, im Dorf zu leben. Bei Charaux bleibt wie im Romanfragment der Schluss offen. Mit einem unvollendeten Satz lässt er seine Inszenierung ausklingen, die die Zuschauer mit großem Applaus feierten.

 

Das Schloss
nach Franz Kafka
Regie: Nicolas Charaux, Bühne: Pia Greven, Kostüme: Cátia Palminha, Musik/Sounddesign: Bernhard Eder, Dramaturgie: Nikolai Ulbricht.
Mit: Silas Breiding, Jakob Geßner, Carolin Hartmann, Luise Kinner, Jonathan Müller, Pola Jane O'Mara, Mehmet Sözer, Mara Widmann.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Nicolas Charaux versucht  Kafkas 'Schloss' nicht komplett aufzuschlüsseln. Das ist gut so", findet Christoph Leibold im Deutschlandradio Kultur-"Fazit" (26.1.2017). In Charaux' Inszenierung stecke "eine Daseins-Metapher menschlichen Lebens und Strebens in seiner ganzen Vergeblichkeit, und vieles mehr", so Leibold. "Und vor allem: Kafka ist bei Charaux nicht nur unheimlich, sondern auch unheimlich komisch. Eine Qualität, die andere Kafka-Adaptionen im Theater allzu oft vermissen lassen."

Ein "perfekt choreografiertes Wechselspiel" mit "großer Sogwirkung" hat Christiane Lutz gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2017): "Kafka kann und muss man nicht auf Teufel komm raus deuten, er funktioniert über die Wirkung seiner Sprache. Charaux und seine Schauspieler wissen das. So wird der Abend zu einer großartigen Ensembleleistung."

Charaux habe zusammen mit seinem Dramaturgen Nikolai Ulbricht eine kluge, konzentrierte, gut 100 Minuten lange Spielfassung des Kafka-Romans entwickelt, schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (28.1.2017). Er inszeniere "Das Schloss" als Groteske, "mit gutem Gespür für Komik, die es auch bei Kafka gibt". Die Schauspieler zitierten "mit beeindruckender Körperbeherrschung" expressive Stummfilmgesten ebenso wie Elemente aus Slapstick und Clownerie. "Gewiss verliert die Geschichte durch ihre Bildgewalt die leise Bedrohlichkeit des Romans, das kaum fassbare Grauen, das durch die Vorlage schleicht", so Schleicher "doch der Abend im Volkstheater gewinnt dadurch eine Dynamik, der man sich kaum entziehen kann."

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