Mehr ertrunken als gesurft

von Esther Boldt

Frankfurt, 27. Januar 2017. Das Internet ist bekanntlich ein verwirrender Ort: einerseits unendlich. Andererseits trifft man doch nur überall dieselben Gesichter. Einerseits ein utopischer Raum, der ein neues Maß an Demokratie schaffen sollte – der andererseits doch nur ein neues Maß an Konsummöglichkeiten hervorbrachte. Mit den Paradoxien des Digitalen kennt sich der Video- und Performancekünstler Chris Kondek aus, er hat sich mit ihnen bereits mehrfach beschäftigt.

In seiner Arbeit "Dead Cat Bounce" wurde die Abendkasse unter Beteiligung des Publikums an der Börse investiert, und die Gewinnsucht erfasste alle im Saal. In "Anonymous P." fingen Hacker vom Chaos Computer Club jene Daten ab, die die Smartphones der Besucher*innen während des Theateraufenthalts versendeten, und projizierten sie auf Leinwände. Und auch seine Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts Lehrstück "Ozeanflug" ("Hier ist der Apparat") scheint an diesem Abend kein Zufall zu sein, wird Kondek doch von seinem aufklärerischen Furor ebenso getrieben wie von der Überzeugung, dass man als Zuschauer*in nur betroffen ist, wenn man tatsächlich betroffen ist.

YOUAREOUTTHERE1 560 Joerg Baumann uIch ist ein anderer. Aber wer? © Joerg Baumann

Denn "You are out there" kommt als diffuses Bedrohungsszenario daher, in dem die Lautsprecher düster grummeln, die Leinwände flimmern und die Avatare sich vermehren wie die Karnickel. In der Multimedia-Performance, die am Mousonturm das Festival Frankfurter Positionen eröffnete, konfrontiert Kondek auch das Publikum mit seinen Wiedergängern. Er pflegt die Geste des Magiers, der (Achtung, Spoiler!) Fotos der Zuschauer*innen herbeizaubert, ihre Namen, Geburtsdaten und Adressen. Kein Wunder, hat er doch zuvor ihre Ausweise eingesammelt – angeblich als Pfand für ein Paar Kopfhörer, die an diesem Abend jedoch keiner brauchen wird. Seine Partnerin Christiane Kühl dagegen stellt die fiktive Alma Beckmann dar, eine Frau, deren digitale Doppelgängerin mehr über sie weiß als sie selbst, wodurch sie eine bedrohliche Autonomie gewinnt. Der dritte im Bunde ist der IT-Experte Idella Craddock, der auf der vollen Flimmerbühne geschäftig an einem Schreibtisch werkelt, Fingerabdrücke von Touchscreens nimmt oder Personalausweise scannt.

Edgar Allan Poe meets Brad Pitt

Der vorherrschende Modus ist der der Demonstration, der Entlarvung und Enthüllung. Aber was genau soll hier entlarvt werden? Kondek und Co. folgen zwei Assoziationslinien: zum einen der historischen Spur der Identitätsnachweise, zum anderen der der Doppelgänger. Erstere führt sie ins 16. Jahrhundert, zweitere zu den Stories von Edgar Allan Poe und dem Film Fight Club. Denn von ihnen möchte Kühl alias Beckmann lernen, ihre Doppelgängerin zu töten, um sich von ihr zu befreien. Oder doch nicht? Denn eigentlich wollen Kondek und Kühl ja nicht vor unseren digitalen Alter Egos warnen, sondern vielmehr vor jenen, die sie – und damit unsere Daten – für ihre Zwecke entwenden könnten, seien es nun international agierende Konzerne oder Nationalstaaten.

YOUAREOUTTHERE3 560 Joerg Baumann uvorn: Christiane Kühl, hinten: catcontent © Joerg Baumann

Auch wenn die Assoziationslinien ins schier Unendliche ausfransen und sich mit nerdischer Akribie historische und zeitgenössische Zitate, Techniken und Identitäten durchkreuzen, wirkt die Performance merkwürdig hermetisch. Das könnte daran liegen, dass weder Kondek noch Kühl in ihrer Performer*innenhaltung nur die Spur einer Ambivalenz zulassen. Oder daran, dass sie ihrem Publikum schockierend wenig zutrauen. Denn nicht nur schwirren die fun facts so wild wie nach einer hyperbolischen Google-Suche, auch das Vorstellungsvermögen der Zuschauer*innen wird fleißig zugepappt: Die Performer*innen basteln zur Untermauerung der Fakten und Fiktionen unermüdlich neue Bilder.

Wenn beispielsweise der Spanier Pedro aus Sevilla im 16. Jahrhundert in die Neue Welt aufbrechen will und hierfür einen Identitätsnachweis braucht, weil König Fernando V. wissen möchte, wer seine Kolonien bevölkern wird, verfertigen die drei ein Live-Video, in dem eine digitale Figur auf Kondeks Personalausweis über den großen Teich surft. Für eigenständig denkende Betrachter*innen ist in diesem Sturm der Bilder und Zitate im Grunde gar kein Platz mehr. Und schließlich fühlt man sich so, wie Christiane Kühl dies einmal, aus der nahen Zukunft auf das Internet zurückschauend sagt: "Am Ende sind wir alle mehr ertrunken als gesurft."

 

You are out there (UA)
Idee, Konzept, Text: Chris Kondek, Christiane Kühl, Performance: Idella Craddock, Chris Kondek, Christiane Kühl, Bühne und Kostüm: Sonja Füsti, Komposition und Musik: Hannes Strobl, IT: Idella Craddock, Felix Marthaler, Video: Philipp Hohenwarter, Victor Morales, Ruth Stofer, Licht: Marc Zeuske.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.frankfurterpositionen.de
www.mousonturm.de

 

Kritikenrundschau

Die Aufführung greife auf das Doppelgänger-Motiv à la Dr. Jekyll und Mr. Hyde zurück, das aber mithilfe moderner Computer- und Videowandtechnik, schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (31.1.2017). Damit ist "You are out there" auch eine Grusel-Story. "Alma Beckmann (Christiane Kühl) findet plötzlich ein Filmchen vor, in dem sie älter aussieht, auf einer Party tanzt. Dann ist das Filmchen verschwunden. Dann ist es wieder da." Dem Publikum habe man vor Beginn Ausweisdokumente abgeluchst, plötzlich tauchen alle die Pass- und andere Fotos auf der Videowand auf. Fazit: "Als Start eines Festivals, das sich dem Subjekt im digitalen Netz widmet, zeigt diese pfiffige, gut einstündige Produktion doch auch, dass das Thema auf der Bühne nicht leicht zu verhandeln ist. Eine virtuelle Bedrohung der realen, analogen Identität lässt sich nur mittels Hilfskonstruktionen abbilden."

"You are out there" blättere unsere digitale Doppelgängerschaft auf, so Natascha Pflaumbaum auf Deutschlandradio in der Sendung Fazit (29.1.2017), und "zwar so in allen Einzelheiten, dass einem mulmig wird: Ich als Avatar in Online-Spielen, Ich als digitaler Fingerprint im bürokratischen System, Ich als Online-ID, Ich mit meinen 1000 Namen bei Facebook, Twitter, Instagram." Die Lehre daraus werde ansprechend dargelegt: "Videos, aufwendige 3D-Animationen, ruckelige Live-Filmchen, (...) sind Teile eines kunstvollen Puzzles rund um das Thema." Aber der Erkenntnisgewinn bleibe trotz aufwendiger Darbietung des gegenwärtigen Szenarios doch eher gering. "Diese Performance funktioniert als Exposition des Themas für ein Festival gut, als eigenständige Produktion allerdings wünschte man sich mehr Ideen, dem Problem des multiplen Ichs beizukommen."

 

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