Donnerstag, 8. Mai 2008, 9 Uhr

von Nikolaus Merck

Strahlende Sonne überm Schöneberger Südgelände, noch der letzte Dreckhaufen sähe heute pittoresk und irgendwie verzaubert aus. Die Sonne scheint auch durch die Dachfenster der alten Lokhalle bei der Einreise nach R.T. Die Barackenstadt IST ein Dreckhaufen und sie SIEHT verzaubert aus, wie ein von Ilya Kabakov, Alvis Hermanis und Christian Boltanski geträumtes Osteuropa im Kalten Krieg.

Hundegebell, scheppernd übersteuerte Lautsprecherdurchsagen, der korrekte Sitz der Krawatte von State Officer Rickey Capri und das Dunkelgrün seiner Uniform rufen sofort die Nachbilder auf. "Wie am Checkpoint Erez bei der Einreise nach Gaza", sagt die Lise, doch das ist ein blasses, nicht aus-entwickeltes Bild, mit schwachen Kontrasten. Schlecht gespielt, rezensieren wir die Sergeantin, die im Einführungsfilm die Verhaltensregeln verliest. Es fehlt die Schärfe jener Welt, die ein klares Oben und Unten kennt, ein klares Wir und die Andern.

Georginas stumme Klage

Am Vormittag nach der Hochzeit schläft Ruby Town. Martha Rubin ist wieder einmal aushäusig. Einstweilen beunruhigt das niemanden. Nur Giorgina heult herum im rosa Unterrock. Ihr frisch angetrauter Joel ist ihr in der Hochzeitsnacht schon wieder abhanden gekommen. Stumm anklagend weisen die Zeigefinger des Klo-Putzkommandos auf die Krankenschwester. Man habe Joel bei ihr gesehen. Doch im Lauf des Vormittags verliert sich das Drama im wiedergefundenen Lächeln Giorginas. Zwei Scheiben Papptoast mit Marmelade genügen, und außerdem: weit kann Joel nicht sein, das Militär hat die Grenze gestern Nacht total abgeriegelt.

Ruby-Führer Leo, den wir mittags treffen, kann darob nur die Augen verdrehen. "Wer hat das erzählt?", fragt er in austriakisch getönter Diktion, die sich so prachtvoll ins alt-osteuropäische Ambiente einschmiegt, "die Soldaten! Das soll man glauben?". Der Herr Leo kennt sich aus. Er sorgt für friedliche Koexistenz mit dem Nord-Militär. Wie er das schafft? "No, jeder Soldat hier tut Dinge, die er nicht tun darf." Ein System der Erpressung? "Ich würd' lieber sagen: eine Hand wäscht die andere."

Etwas Besseres als der Tod

Viel mehr als um Joel sorgt sich Herr Leo um das Gold, das er ihm zur Hochzeit geschenkt hat. Das Gold bildet die Notreserve für den Fall einer Katastrophe. Wenn die Ruby Towner einmal ihre Stadt verlassen müssten. Nur ob sie das jemals täten? Zwar ist der Boden unfruchtbar und die Gemeinschaft wegen Kindermangels vom Aussterben bedroht. Doch deshalb fortziehen? "Wir haben doch alles hier, unsere Häuser", sagt Joseph, der Schmuggelkönig und einer der Dorfältesten. Wie, haben alles? fragt die Lise später bei Leo nach. "Die Häuser, genügend Essen, friedliche Koexistenz, eben alles was man braucht. Das lässt man nicht so einfach hinter sich."

Was ist das? Eine Lehrstunde in Sachen conditio humana? Heimatverbundenheit und Sicherheitsbedürfnis, das einen noch am Bekannten festhalten lässt, selbst wenn das Bekannte nicht mehr hergibt als endlose Tage bei abwechselnd Kohl- und Linsensuppe, der Willkür einer Okkupationsarmee ausgeliefert? Ist diese non-chalante Lethargie eine spielerische Demonstration der realgeschichtlichen Ursache dafür, dass nicht alle Hungerleider in die reichen Länder aufbrechen? "Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal", sprechen sich die Bremer Stadtmusikanten gegenseitig Mut zu und ziehen hinaus ins Freie.

Mitteleuropäische Scheu

Bleiben die Rubys, die ja wegziehen könnten, niemand hindert sie daran, bleiben sie am Ort, weil ihnen nur erträgliches Elend droht, aber eben nicht der Tod?  Später sitzen wir auf einer Bank in der Sonne, die durchs Oberlicht herein scheint. Nein, finden wir, das Spiel fordert uns nicht heraus. Keine Gelegenheit an diesem friedlichen Vormittag, die Feigheit zu überwinden und etwelche Rubys aus den Klauen des Militärs zu befreien. Auch die sexuellen Avancen bleiben aus.

Doch wir sehen die anderen Besucher zögern wie wir selbst, bevor sie wagen, einen Blick in die offen stehenden Wohnwagen zu werfen. Wie sie, Hände in den Hosentaschen, unschlüssig von einem Fuß auf den anderen treten. Wie tief verwurzelt die mitteleuropäische Scheu ist, in Anderleuts Privatsphäre einzudringen, selbst wenn Anderleut dazu einladen. Selbst wenn wir in Ruby Town nie vergessen, dass wir an einem Spiel teilnehmen. Und es uns fast zu leicht fällt, uns an die Spielregel "bringe Dich ein, dann kommst Du ins Spiel" zu halten. So lenkt dieses Spiel noch in seiner abgeschwächtesten Phase das Bewusstsein auf die eigenen Gewohnheiten, auf den Rahmen, der unser Alltagsleben aufrecht hält.

 

Zur Übersicht: Neues aus Ruby TownSigna beim Berliner Theatertreffen 2008.

Kommentar schreiben