Die Geburt der Tragödie aus der Zweierbeziehung

von Andreas Wilink

Köln, 8. Mai 2008. Karin Beier spannt "Das Goldene Vlies" in den Rahmen einer Alltagsgeschichte, freilich einer ungeheuren: Kolchis und Korinth als Metapher, Schauplätze für Menschen, die einander fremd geworden sind. In den Szenen einer Ehe und ihrem zwanghaften, zwangsläufigen Verlauf ist uns nichts unbekannt und dennoch nichts vertraut. Weil das, was sich die Handelnden zumuten, wie unter einem Vergrößerungsglas vor Augen führt, was sonst zumeist hinter gesellschaftlichen Verabredungen und den guten Sitten verborgen liegt. Diese Menschen sind von allen guten Geistern verlassen. Auch hier regiert der Gott des Gemetzels.

Die imponierend kühne und karge Aneignung des Grillparzer-Dramas aus dem Geist eines Peter Brook enthält sich jeglicher Zutat, ist von äußerem Aufwand und Ablenkung (auch von Beiers gern aufschäumender Phantasie) gesäubert, drängt sich nie auf, konzentriert sich voll und ganz auf die nur vier Schauspieler, die – bis auf Maria Schrader als Medea – Doppelrollen übernehmen.

Zur Kenntlichkeit entstellt

Die dreistündige Inszenierung arbeitet prägnant mit Verweisen und Leitmotiven, Chiffren und Zeichen, die das Mythenmaterial zusammenfügen, es filtern, verdichten und eine unmittelbar wirkende Intensität und Intimität entwickeln: Play Bergman! Attention, Patrice Chéreau! Es ist – in ihrer Hochgespanntheit, souveränen Intelligenz, ästhetischen Stringenz und psychologischen Reife  – überhaupt Beiers bislang beste Arbeit.

Das Sinnlich-Furiose ihres Theaters aber bleibt bewahrt in der radikal physischen Nähe, der Jens Kilians Bühne –  schlichtes Spiel-Karré mit Sand bestreut oder mit einer glatten Oberfläche bespannt – Raum gibt. Die Vorgeschichte wird schnell erledigt und dabei zur Kenntlichkeit entstellt durch ovale kalkig weiße Masken, die die Figuren zunächst tragen, während ihre Körper in angedeutet abstrakten und rituellen Tanzbewegungen choreografiert sind.

Die auf Pappe gemalten Gesichter zeigen ein Babyface für Medeas kleinen Bruder, den Kussmund der Prinzessin, die mürrisch herabgezogenen Mundwinkel des nach Besitz lüsternen und listigen Kolcher-Königs und den Gast-Feind mit schiefem Blick und gezackter Lippe. Auf die Ankunft dieses Griechen, Phryxus, in Kolchis folgt rasch dessen Ermordung durch Aietes samt Raub des Goldenen Vlieses, das als mürber goldgewirkter Seidenbrokatstoff an einer Fahnenstange hängt.

Im Folgenden landen Iason und seine Argonauten, um sich die Reliquie wiederzuholen, was mit Hilfe der Medea gelingt, die Bruder und Vater, Heimat und Unschuld aus Liebe opfert und mit Iason fortgeht, von ihm zwei Söhne empfängt und in des Gatten griechischer Heimat verstoßen wird, worauf die Geächtete fürchterlich Rache nimmt.

Erstaunlich normal, überwältigend grandios

"Es ist Aus", lautet die stehende Formel geendeter Liebe, die auch Iason gegen Medea wendet. Wie deren Beziehung im dritten Teil durchleuchtet wird, ist von erstaunlicher Modernität und Normalität. Da braucht es weder mythisches Gepräge noch aktualisierende politische Klügelei, mit der Regisseure schon mal gern Medea als Asylantin hinter Stacheldraht sperren.

Aus der Keimzelle der Zweierbeziehung gebiert sich die Tragödie. Hier eine kleine Ungeduld, mit der jemand einen Menschen fallen lässt und preisgibt, dort eine Gereiztheit, an der die Versöhnungsbereitschaft des anderen aufläuft und wiederum mit einem falschen Wort oder einer winzigen Geste von Ungehaltensein beantwortet wird.

Das Kölner Quartett ist grandios: Patrycia Ziolkowska spielt zunächst Absyrtus, Medeas Bruder, später die korinthische Rivalin, Kreons Tochter. Als Requisit dient ihr jeweils ein Cello – ihr Sprachorgan und erotisches Verführungsmittel. Wie sie den Corpus des Instruments umfasst, es wie besessen traktiert und sich so den eigenen Tod gewissermaßen vorspielt, erhält im dritten Teil seine Variation, wenn Kreusa das von Medea zertrümmerte Cello als Symbol der kultivierten griechischen Überlegenheit in ihren Armen davonträgt wie den Leichnam eines Kindes.

Die Unsteten und Gehätschelten

Bald schon werden die von der Mutter gemordeten Knaben in ihrem Blut liegen. Die Verwandlung in Kreusa schafft ein zivilisiertes Geschöpf, das irritiert, aber in gönnerhafter Großmut die Kolcherin behandelt und sie die alte Volksweise "Ich hab die Nacht geträumet" lehren will. Mit Iason verbindet Kreusa die Erfahrung gemeinsamer Jugend, die beide juchzend und tollend kurz aufleben lassen. In eine unmögliche zweite Unschuld zurück will dieser Iason.

Carlo Ljubek zeigt ihn als in seinen Gefühlen unsteten, sich selbst ausweichenden, Widerständen nicht gewachsenen Mann, der sich seiner erotischen Wirkung weniger bewusst ist, als diese impulsiv und instinktiv benutzt, und bei dem flaue Ich-Schwäche das Negativ seines aufbrausenden Wesens darstellt. Wenn er in einem Moment heftigen Jähzorns Absyrtus domestizieren und klein kriegen will, erleben wir das Horrorbild jener Familien-Katastrophen, die uns täglich als vermischte News berichtet werden. Kreusa hingegen weiß sich in der kommoden Mitte der Gesellschaft, ahnungslos gegenüber den Untiefen des Empfindens und gehätschelt vom Vater (Manfred Zapatka in der trockenen, engen und eckigen Würde seiner doppelten Königs-Rolle).

Und eine Frau von schroffem Willen

Die Erfahrung des Fremdseins muss die Andere, muss Medea aushalten. Maria Schrader tut das auf überwältigende Weise; reflektiert und klar von Verstand, hat sie sich in ihrer Gewalt und wird doch überwältigt. In einer Arena begegnet sie Iason zuerst und liefert sich mit ihm einen wilden Zweikampf, der herbes Begehren als Urgrund in sich trägt. Das "Märchen ihres Lebens" liest sie wie einen fremden Text und fühlt, obgleich nicht bös’ von Natur, "dass man’s werden kann".

Medea, in der ein großer schroffer Wille wohnt, legt einen langen Weg zur unsagbaren Mordtat zurück, gefasst und fassungslos zugleich, ganz bei sich und völlig außer sich. Einer Frau wie ihr zu begegnen, ist ein Schrecknis – und ein Privileg. Immer noch gilt: Das Monstrum ist der Ernstfall der Humanität.

 

Das Goldene Vlies
von Franz Grillparzer
Regie: Karin Beier; Bühne: Jens Kilian; Kostüme: Johanna Pfau; Musik: Wolfgang Siuda. Mit: Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska, Carlo Ljubek, Manfred Zapatka und Sue Schlotte (Cello).

www.schauspielkoeln.de

Weitere Inszenierungen von Karin Beier in dieser Spielzeit: Gott des Gemetzels von Yasmina Reza, Maß für Maß von Shakespeare und Die Nibelungen von Friedrich Hebbel.

Kritikenrundschau

"Das Kölner Ensemble glänzt, gleich in der ersten Spielzeit hat Intendantin Beier das dümpelnde Haus zu Metropolenformat geführt!" jubelt Stefan Keim Frankfurter Rundschau (10.5.2008), für den diese Inszenierung der Hausherrin alles hat, womit Karin Beier auch das Theater insgesamt in Turbotempo in die Riege der führenden Häuser zurückkatalputierte: psychologische Tiefenschärfe, inhaltliche Genauigkeit und formaler Mut. So hätten nur vier Schauspieler Grillparzers Tragödientrilogie auf die Bühne gebracht, aber "die Doppelbesetzungen sind durchdacht und richten den Blick über die Einzelschicksale hinaus auf die Strukturen dahinter."

Ähnlich überwältigt ist Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.5.2008), der sein Theatergedächtnis sechzehn Jahre zurückspulen muß, um zu einem ähnlich imponierenden Kölner Theaterabend zu gelangen: nämlich Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Strindbergs "Fräulein Julie" 1991. In ihrer Inszenierung der schwierigen Grillparzer-Trilogie übersetze Karin Beier Konflikte und Auseinadersetzungen des Stoffs "in eine artifizielle und gleichwohl packende Choreographie und durchdringt sie gerade auch mit nichtsprachlichen Mitteln - und verschafft so dem geschichtsphilosophisch überfrachteten Drama, das hier auf knapp drei Stunden verschlankt und auf nur vier Schauspieler - drei von ihnen in Doppelrollen - verteilt wird, eine überraschende Klarheit." Und auch Rossmann verneigt sich tieft vor Karin Beiers Leistung, das Theater in einer einzigen Spielzeit aus der Grauzone wieder ins Rampenlicht und die Mitte der Stadt zurückgeholt zu haben.

In der Kölnischen Rundschau (10.5.2008) kniet Hartmut Wilmes auch vor einer anderen Heldin, der Medea-Darstellerin Maria Schrader nämlich. "Schrader brilliert leise als Opfer, das erst in totaler seelischer Sonnenfinsternis zur Kindsmörderin wird." Vor allem diese Leistung lädt aus Sicht des Kölner Kritikers den Akku dieser Inszenierung von Grillparzers gewaltiger Tragödie immer wieder auf. Denn dort hat er mitunter den "anfangs zwingenden Zugriff" unterwegs manchmal vermisst. Trotzdem spricht er von einem "Herkulesjahr der Intendantin" und verzeichnet starken Beifall ebenso wie den enuß aller Beteiligten daran.

 

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