Die Schönste vom Schulhof

von Sascha Westphal

Siegen, 3. Februar 2017. Ein Mann, Mitte Vierzig, gedenkt seiner ersten, seiner "Großen Liebe" vor dreißig Jahren. Der 15-Jährige, der er damals war, ist ihm mittlerweile fremd geworden. Aber die Erinnerungen an diese wenigen Tage im Frühjahr 1983, in denen er vor Liebe zu der vier Jahre älteren Jutta außer sich war, sind noch immer überaus lebendig.

Also versucht der Mann, sich zu erklären, was damals geschehen ist. Dabei greift er, dessen Eltern aus dem Iran nach Deutschland gekommen sind, immer wieder auf die Schriften der islamischen Mystiker des Mittelalters zurück. Die erste Liebe als quasi-religiöse Erfahrung. Dieser für Navid Kermanis Roman "Große Liebe" so zentrale Gedanke tritt in Magnus Reitschusters Dramatisierung etwas in den Hintergrund. Die mittelalterlichen Gottsucher und Autoren, die Kermani so ausführlich zitiert, sind auch in Johannes Zametzers Inszenierung noch präsent, aber nur gelegentlich. Anders als der Romanautor ringen Reitschuster und Zametzer kaum mit philosophischen Fragestellungen. Ihr Ansatz ist viel konkreter.

GrosseLiebe2 560 Alexander Kiss uLesen und lieben lernen: Nico Holonics, Franziska Brücker © Alexander Kiss

Magnus Reitschuster ist eben nicht nur der Autor dieser Bearbeitung. Er leitet zudem auch das Siegener Apollo-Theater im zehnten Jahr als Intendant und hat ihm in dieser Zeit mit einem avancierten Programm, das zwei bis drei Eigenproduktionen mit Gastspielen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum verbindet, ein eigenes Profil gegeben. Ein entscheidender Aspekt dabei ist der stete Blick auf die Stadt und ihr Umland. Also hat Reitschuster seine Dramatisierung des Romans ganz auf Siegen, die Geburtsstadt Kermanis, die im Roman aber niemals namentlich genannt wird, zugeschnitten. Das beginnt schon bei Katharina Dobners Bühnenbild.

Die große Liebe der Nachkriegszeit

Auf der Vorderbühne liegen zahllose Steine und deuten das schmale Flussufer hinter dem Gymnasium des 15-Jährigen an. Dahinter steht ein Podest, das zunächst den Dachboden eines alten Fachwerkhauses andeutet. Hier liest der von Martin Hofer verkörperte Vater und Erzähler seinem Sohn und dessen Freundin Passagen aus seinem Roman vor. Dieser rustikale Dachboden beschwört eine kleine bundesrepublikanische Welt herauf, die noch nicht alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt hat. "Als wolle mir der Weltgeist unter die Nase reiben, dass mit dem Kampf gegen die atomare Aufrüstung auch die Große Liebe einer anderen Epoche, einem fremden Leben angehört", heißt es einmal in Kermanis Roman. Doch genau dieser Einschätzung widersetzt sich Reitschusters Bearbeitung. Während Kermani von dem erzählt, was seit 1983 verlorengegangen ist, betont die Inszenierung Kontinuitäten.

Bühnenbild © Alexander Kiss Bühne und Kostüme: Katharina Dobner, auf dem Bild: Martin Hofer, Nico Holonics
© Alexander Kiss

Dazu passt auch, dass der Sohn des namenlos bleibenden Erzählers und Autors auf der Bühne eine größere Rolle als im Roman hat. Nico Holonics spielt ihn als typischen Jugendlichen, der sich auflehnt und den Vater gezielt herausfordert. So wirft er ihm einmal an den Kopf: "Du hättest mich fragen müssen, ob ich in deinem Roman vorkommen will." Holonics ist eben nicht der Sohn des Romans, der als jugendlicher Banause gezeichnet wird, an dem der Vater beinahe schon verzweifelt. Dieser Art von Kulturpessimismus, der die nachfolgende Generation immer unter Generalverdacht stellt, arbeiten Reitschuster und Zametzer alleine durch die Besetzung entgegen. Aus der Lesung auf dem Dachboden wird Spiel. Der Sohn und seine Freundin schlüpfen ganz selbstverständlich in die Rollen des Jungen und der "Schönsten auf dem Schulhof", in denen sie sich selbst erkennen.

Keine Männerphantasie

Auf den ersten Blick scheint sich Kermanis Roman mit all seinen Abschweifungen, seinen Wiederholungen und seinen Lyrismen kaum für die Bühne zu eignen. Das ist auch Reitschuster und Zametzer bewusst. Also setzen sie auf eine hybride Form, in der sich ganz unterschiedliche Ansätze vermischen. "Große Liebe" ist Lesung, Inszenierung und Konzert in einem. Während der Erzähler die Passage über die erste gemeinsame Nacht des Jungen mit Jutta vorliest, tanzt und windet sich Nico Holonics der Ekstase entgegen. Mit dieser kleinen, aber ungeheuer intensiven Choreographie schlägt der Abend zugleich einen Bogen zu den Mystikern.

Im Buch bleibt die "Schönste auf dem Schulhof" eine Leerstelle. Die Schwärmereien des Jungen löschen ihre Persönlichkeit aus. In der Bearbeitung bekommt sie durch die Musikerin Franziska Brücker nun eine eigene Stimme. In Brückers Songs, die verschiedenste Stile vom Elektropop bis zum klassischen Protestsong zitieren, offenbart sie sich als eigenständige Künstlerin, die der männlichen Erzählphantasie eine komplexe weibliche Perspektive entgegenstellt.

 

Große Liebe (UA)
nach Navid Kermani in einer Dramatisierung von Magnus Reitschuster
Regie: Johannes Zametzer; Bühne und Kostüme: Katharina Dobner; Musik und Komposition: Franziska Brücker; Dramaturgie: Magnus Reitschuster.
Mit: Martin Hofer, Nico Holonics, Franziska Brücker.
Dauer: 55 Minuten, keine Pause

www.apollosiegen.de

 

Kritikenrundschau

Johannes Zametzer arbeite mit sehr wenigen aber auch sehr guten Mitteln und löse beim Zuschauer direkt die richtigen Assoziationen aus. Mit minimalen Mitteln werde das Zeit- und Lokalkolorit angedeutet, so Gerrit Stratmann in WDR 3 Mosaik (4.2.2017) Zu kritisieren sei dagegen, dass Passagen aus dem Roman direkt zitiert würden. "Die Stärke des Theaters ist es ja immer, ganz konkrete Menschen in ganz konkreten Situationen handeln zu lassen. Und davon war in Siegen nach einem durchaus starken Anfang, der eben diese eigenständige Rahmenhandlung etabliert, hinterher nicht mehr ganz so viel zu sehen."

"Mit dieser in den meisten Momenten gelungen Eigenproduktion erfüllt das Apollo einmal mehr seine Funktion als kultureller Treffpunkt, Maktplatz der Stadt, als Ort des Austauschs, der Diskussion und des Erinnerns. Und das mit einem Stück für Hirn, Herz und Bauch", heißt es in der Siegener Zeitung (6.2.2017). Die Inszenierung sei straff und bekomme trotz ihrer Wortlastigkeit nicht zuletzt wegen der Musik ein gewisses Tempo, sie wirke "manchmal sogar fast so atemlos, wie eine junge Liebe".

 

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