Das Kreuz mit der Bierdimpfligkeit

von Tim Slagman

München, 12. Februar 2017. Wer möchte da behaupten, diese Inszenierung habe kein Zentrum? Mitten in das schmale Rechteck, das noch bleibt von der zwischen jeweils zwei Zuschauerreihen auf der Längsseite eingepferchten kleinen Bühne des Münchner Volkstheaters, hängt ein Leuchtstoffring. Die Schauspieler können ihn über eine Seilwinde hoch und runter ziehen, er strahlt mal weiß, selten verrucht rot, hin und wieder gar nicht.

So zerteilt zu Anfang nur der Dunst des Kunstnebels die Dunkelheit: Timocin Ziegler humpelt mit breitkrempigem Hut und grüner Jacke geradezu quälend langsam von Wand zu Wand, währenddessen Argos von einer körperlosen Stimme beschworen wird, Argos, "die du deine Geschichte am borstigen Schenkel von Sparta und manchmal an der rosigen Wange Athens hinter dich gebracht hast", Argos, die einzige Stadt der Peloponnes mit Linksverkehr.

Marias Herz ist eine Weißwurst

"Dogtown Munich" ist das aktuelle, freilich nicht mehr ganz brandneue und, denkt man ein jüngstes Interview in der Süddeutschen Zeitung nur ein wenig weiter, womöglich letzte Stück von Herbert Achternbusch, der seit je der Antike in sympathisierender Ironie und dem zeitgenössischen Volkstümlichen in einer intensiven Hassliebe verbunden war. Da darf die Maria – die oben auf der nach ihr benannten Säule auf dem nach ihr benannten Platz vor dem neuen Münchner Rathaus thront – von ihrer heißen Liebe für diesen Hitler erzählen in der damals sogenannten "Hauptstadt der Bewegung", und bevor sie dem Geliebten ins Grab folgt, ihr Herz in Form einer Weißwurst rauswürgen. Die Neonazis, die Rache schwören, erschlägt der humpelnde Herakles in grüner Jacke mühelos. Und am Ende setzt sich der große Humorist Karl Valentin oben auf das, was fortan wohl Valentinssäule genannt werden muss.

DogtownMunich1 560 Gabriela Neeb uUnterm Heiligenschein: Julia Richter, Leon Pfannenmüller, Moritz Kienemann © Gabriela Neeb

So spricht es jedenfalls aus den Boxen. Zu sehen ist von Nazis wenig und von Valentin nichts, dafür treiben die krampfhaften, den ganzen Körper durchwogenden Zuckungen, mit denen Julia Richter den garantiert himmelfahrtsfreien Tod Marias begleitet, dieser Figur sehr schön jeden Rest des Spirituellen aus. Pinar Karabulut geht klug um mit Achternbuschs Vorlage, die weder sinnvoll konservativ zu bebildern ist noch im herkömmlichen analytischen Sinne zu durchdringen. Statt dem Ganzen also ein Handlung aufzuzwingen oder eine Interpretation, verweigert die Regisseurin mancher Aktion ihr Bild, plündert sich anderswo durch die Schlaglichter eines klischeesatten Stadtporträts und haut noch ein paar Klischees obendrauf: Lederhosen, Schickimickis, Bierbänke, die am Ende auf dem gebeugten Rücken hinausgeschleift werden, als befände man sich wie ein bayerischer Jesus auf dem Kreuzweg.

Maximale Ausdauerleistung

Mit dieser Methode der Zuspitzung, Fragmentierung und Hysterisierung schleudert Karabulut dann noch den letzten Rest an Erkenntnispotenzial in Fetzen von sich wie ihre sterbende Maria die glibberige Weißwurst. Aber sei's drum, die Dynamik ihrer Inszenierung ist eine andere, die sich im Rennen, Rasen, Stelzen und Stolpern des Darstellerquartetts aufheizt. In der Enge stapft Julia Richer breitbeinig trotzig als achtjähriges Mädchen "Zunge" auf und ab, kein Gelenk dabei ohne Winkel. Moritz Kienemann, in diesem Moment "die Ältere", flitzt seine Runden um das Bühnenrechteck, ausgestattet mit der neuen schicken Mütze vom nahe des Marienplatzes gelegenen großen Sportgeschäft, und wirft so achtlos wie schwungvoll seine Klamotten ins Publikum. Leon Pfannenmüller stürzt als "Jüngere" in ein altmodisches Fahrrad und faltet seine Glieder in den Stahl als wären sie damit verwachsen.

Geschäftig ist es halt am Marienplatz, die Geschichten gehen durch- und ineinander. Das Theater will in der puren Präsenz zu sich selbst kommen. Und mitten in einer Stadt, die gerade intensiv über die Spannung zwischen Performance und Figurenpsychologie diskutiert, wird aus dem Schauspielen eine maximal erregte Ausdauerleistung.

 

Dogtown Munich
von Herbert Achternbusch
Uraufführung
Regie: Pinar Karabulut, Bühne und Kostüme: Franziska Harm, Musik: Daniel Murena, Dramaturgie: Caroline Schlockwerder.
Mit: Moritz Kienemann, Leon Pfannenmüller, Julia Richter, Timocin Ziegler.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Wenn Achternbuschs jüngstes Stück nun auf dem Marienplatz spielt, "dann ist das wie eine finale Ankunft. Ein Bekenntnis auch. Und eine Art Vermächtnis noch zu Lebzeiten", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (14.2.2017). Pınar Karabulut inszeniere das "so assoziativ und spinnert wie möglich". Wie einen abgefahrenen Achternbusch-Traum. Den Schmarren, nur ja nicht interpretieren wollen. "Die junge Mönchengladbacherin mit türkischen Wurzeln hat in München studiert, kennt den Genius loci gut genug, um heiter-ironisch - nicht folkloristisch, vielmehr schrill-hysterisch - mit Klischees und Varia aus Bavaria zu operieren." Fazit: "Eher der Spirit einer Drogenparty als der sanfte Irrwitz eines Bierrausches. Aber zu sehen, wie der gute alte Achternbusch die Jugend inspiriert, ist schön."

Wohin der Text führen soll, verrät schon der Autor nicht, so Robert Braunmüller in der Münchner Abendzeitung (14.2.2017). "Das Fehlen jeder Form ist die Form und es scheint, Achternbusch parodiere sich selbst." Dieses Angebot nehme Karabulut dankbar auf und mache sich lustvoll und oft sogar lustig über zeitgenössische Theaterei her. "Besonnen vom Heiligenschein der Mariensäule im XXL-Format entstehen richtig große Bilder, die den Dada prall und sinnlich machen."

Das Stück sei "eine Art Tagtraum, wirr, konfus, von jähen Geistesblitzen durchzuckt, und voller hellsichtiger Momente, wie sie nur der Wahn gebiert, im Ganzen aber sprunghaft", so Christoph Leibold im Bayerischen Rundfunk (14.2.2017).  Karabulut lasse ihrer Fantasie freien Lauf, dabei gelängen ihr verrückte Tollheiten wie der Bierbank-Heiland, "aber es gibt auch viel Tollerei, Herumgehechel, -gehampel und -gejapse."

 

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