Panoptikum von Geilheit und Gier

von Ulrike Gondorf

Bochum, 9. Mai 2008. Die kleine Welt dreht sich in engem Kreis. Die stille Straße, in der die Puppenklinik, die Metzgerei und die Tabaktrafik nebeneinander liegen, die trügerische Idylle der niederösterreichischen Wachau, Wohnung, Kaffeehaus, Heurigengarten und schließlich auch die schäbige Animierbar – alle diese Schauplätze der "Geschichten aus dem Wiener Wald" fahren in Bochum auf der Drehbühne ins Bild. Immer wieder wird dabei auch die Sicht frei gegeben auf die blanken Sperrholzrückseiten der Kulissen.

Mit ihrem Bühnenbild zur Inszenierung von Elmar Goerden haben Silvia Merlo und Ulf Stengl einen Nerv des Horváth-Stücks getroffen: Die bürgerliche Wohlanständigkeit ist Fassade, dahinter gibt es nicht viel – außer Chaos und Rohheit. Wäre die Inszenierung dieser Spur konsequent gefolgt, es hätte ein interessanter Abend werden können. Die Geschichte des Mädchens Marianne, das gegen die Enge rebelliert, seinen eigenen Illusionen von der großen Liebe zum Opfer fällt, indem es den brutalen Spießer Oskar mit dem verkommenen Hallodri Alfred vertauscht, und immer tiefer fällt und alles verliert – man spürt, dass eine entlarvende Kraft darin steckt.

Amstetten im Wiener Wald

Dass Horváth hier ein erschreckendes Panoptikum von Geilheit und Gier, monströsem Egoismus und dumpfer Selbstgerechtigkeit entworfen hat. Und man ahnt, dass ein Folterkeller wie der von Amstetten vielleicht auch in dieser stillen Straße im 8. Bezirk gelegen haben könnte. Die Chance zur Vertiefung dieser Lesart aber verspielt Elmar Goerden schon im ersten Bild. Eine enttäuschende Erfahrung aus Bochum wiederholt sich. Dieser Regisseur, der mit genauer Stückanalyse und fundierter Textarbeit bekannt geworden ist, misstraut dem Text und rettet sich in krampfhafte Erfindung.

In diesem Fall sind es Gags und aufgesetzte Komik: Alfred ist nach Hause gekommen, in die Wachau, die Mutter serviert ihm saure Milch. Uwe Bohm muss sich ein Küchentuch um den Hals binden lassen als Serviette, im Brei panschen wie ein Dreijähriger, sich prustend verschlucken und sich schließlich in outrierten Erstickungskrämpfen auf dem Boden wälzen. Seine Mutter watschelt derweil aufgeregt hin und her – in hochhackigen Schuhen, die ihr mindestens drei Nummern zu groß sind und förmlich von den Füßen fallen.

Mit Einfällen dieser Güte quält der Regisseur über dreieinhalb Stunden ausdauernd. Kaum lässt man sich ein auf Horváths pointierte Sprache, die die Abgründe aufreißt in Figuren und Situationen, fängt auf der Bühne jemand an, operettig zu singen oder - probatestes aller Mittel! – die Hosen herunter zu lassen.

Starke Figuren, schauerliche Momente

Der massige Felix Vörtler, der als sado-masochistischer Metzger Oskar eine der starken Figuren des Abends zeichnet und wirklich schauerliche Momente erreicht, spielt einen ganzen Akt textilfrei zwischen dem Rand seiner Socken und dem Saum seines kurzen Kittels. Wer kann ihm da zuhören, wenn er der völlig gebrochenen Marianne seine Liebe androht wie eine lebenslängliche Strafe?

Horváth als Lachnummer, ein Teil des Publikums hatte großen Spaß und gab sich mit diesem Ramschangebot zufrieden. Dabei hatte der Abend schauspielerisches Potential, das noch lange nicht ausgeschöpft wurde. Susanne Barth als nymphomanische Trafikantin Valerie, Burkhard Klaußner als zappelnder Zauberkönig, Uwe Bohm als verantwortungsloser Vorstadt-Casanova, sie alle hätten bestimmt mehr als diese eine Facette ihrer Figuren sichtbar machen können. Aber Elmar Goerdens Inszenierung geht an Horváths Doppelbödigkeit völlig vorbei.

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner. Mit: Uwe Bohm, Katja Uffelmann, Felix Vörtler, Susanne Barth, Burkhard Klaußner, Martina Eitner-Acheampong, Renate Becker, Michael Lippold u.v.a.

www.schauspielhausbochum.de


Andere Inszenierungen von Elmar Goerden besprechen wir hier (nämlich Schillers Maria Stuart) und hier (Shakespeares Wie es Euch gefällt). Und hier verlinken wir Georg Schmiedleitners Inszenierung des gleichen Stücks am Wiener Volkstheater im März 2008.

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