Glatteis in Zürich

22. Februar 2017 / UPDATE 26. Februar 2017. / UPDATE 27. Februar 2017. In der Zürcher Kulturszene formiert sich Protest gegen eine geplante Veranstaltung im Theaterhaus Gessnerallee. Unter dem Titel "Die neue Avantgarde" sollen am 17. März der AfD-Chefideologe und Philosophie-Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Marc Jongen, der Publizist Olivier Kessler (SVP), der Kunstwissenschaftler und Journalist Jörg Scheller sowie Laura Zimmermann von der liberalen Bewegung "Operation Libero" auf einem Podium sitzen – der Veranstaltungsankündigung auf der Webseite des Theaterhauses Gessnerallee zufolge sollen sie "debattieren, was Kategorien wie 'liberal', 'progressiv' und 'reaktionär' heute bedeuten. Ist die Renaissance des Rechtsnationalen eine Avantgarde-Bewegung? Wie ist dem Rückzug in ideologische Filterblasen beizukommen? Und was ist eigentlich der Unterschied zwischen populär und populistisch?".

Ein kurzer Artikel in der Wochenzeitung Zürich (WOZ) griff die Veranstaltungsankündigung bereits am 16. Februar auf – "schaut man sich die Gäste näher an, wachsen die Zweifel, ob hier ein ausgewogenes Gespräch stattfindet, bei dem ausschließlich demokratische Positionen vertreten werden", schreibt Kaspar Surber darin. Eine Anfrage bei den Veranstaltern in der Gessnerallee, ob auch noch erkennbar linke Positionen eingeladen würden, sei unbeantwortet geblieben. "Bis die Fragen geklärt sind, empfiehlt sich eine Lektüre des Buchs 'Die reaktionäre Avantgarde' des Historikers Hans Ulrich Jost", das erzähle, "wie sich bereits um die vorletzte Jahrhundertwende in der Schweiz antidemokratische Positionen gerne avantgardistisch und künstlerisch gaben" so Surber in der WOZ.

Auf seiner Webseite (unter der Veranstaltungsankündigung) nimmt das Theaterhaus Gessnerallee Stellung zu dem Artikel: Die Veranstaltung sei keine Werbeveranstaltung irgendeiner der auf dem Podium vertretenen Positionen, "sondern ein Experiment mit der Fragestellung, inwieweit der Dialog zwischen linken und rechten und zwischen konservativen und progressiven Positionen möglich ist", heißt es dort. "Wir sind uns dessen bewusst, dass das Podium nicht ausgewogen besetzt und nicht für alle Positionen repräsentativ ist. Umso mehr freuen wir uns über eine rege Beteiligung aller und weiterer Haltungen und Meinungen – vor allem im Publikum."

Protest-Statements von Kevin Rittberger und Samuel Schwarz

Der Autor und Regisseur Kevin Rittberger, gegen dessen Besorgte-Bürger-Satire "Peak White oder Wirr sinkt das Volk" die AfD Heidelberg im Oktober 2016 zu Protesten aufrief, wandte sich am 22. Februar mit einem Statement an nachtkritik.de, in dem es u.a. hieß: "Marc Jongen ist einer der raffiniertesten und klügsten Rhetoriker (Demagogen) in den Reihen der AfD. Sich ihn aufs Podium zu setzen und von einem E X P E R I M E N T zu sprechen, zeugt von Blauäugigkeit." Eine Veranstaltung wie die anstehende, die der AfD ein Podium bietet, führe "zumindest auf dasselbe Glatteis, auf dem die meisten bürgerlichen Medien und Kulturorgane ausrutschen, die immerzu das 'Volk' verstehen wollen und den 'Sorgen und Nöten der Bürger' jeden erdenklichen Raum geben", so Rittberger gegenüber nachtkritik.de: "Es gilt klarzumachen, dass es sich nicht nur um einen gewissen 'rechten' Flügel handelt, der zum 'Demokratiespektrum' (Poggenburg) der AfD gehört, sondern dass hier Brandstifter am Werk sind, welche die offene, demokratische Gesellschaft zerstören wollen."

Dem künstlerischen Leiter der Digitalbühne in Zürich Samuel Schwarz zufolge findet am kommenden Samstag ein Verständigungstreffen des Kunst- und Kulturschaffenden-Netzwerks "Kulturlobby" Zürich statt, dem sowohl Organisator*innen als auch Gegner*innen des geplanten Panels angehören. Schwarz bezog gegenüber nachtkritik.de auch selber Stellung: "Es ist für ein öffentlich subventioniertes Haus absolut inakzeptabel, dass die Gessnerallee ein solches Podium zusammenstellt, das einem rechtsextremen Hetzer wie Marc Jongen diesen Raum gibt – ohne erkennbar linke Gegenposition." Operation Libero vertrete beispielsweise wirtschaftsliberale, nicht linke Positionen. Wenn man ein solches Podium mit einem Vertreter wie Jongen unbedingt machen möchte, dann müssten zwingend auch migrantische/antirassitische Positionen auf dem Podium vertreten sein, so Schwarz: "Denn die AfD zieht gerade aus einem sehr strategischen effizient forcierten Rassismus am meisten WählerInnen-Erfolg." So wie jetzt geplant, dürfe dieses Podium nicht stattfinden – "sondern müsste, wenn die Gessnerallee nicht einsichtig ist – meiner Ansicht nach verhindert werden." Es folge einer "neoliberalen Event-Logik, bei der ein esoterisch reaktionärer Denker wie Marc Jongen und seine Positionen der 'Star-Gast' sind."  Jongen könne in dem bestehenden Setting nur "gewinnen", egal, wie eloquent und smart ihm auf der Bühne widersprochen werde.

Update vom 26. Februar 2017. Auf seiner Webseite hat das Theaterhaus Gessnerallee inzwischen für den 10. März eine weitere Diskussion angekündigt: eine Woche vor dem umstrittenen Podium am 10. März um 20.00 Uhr. "Zu der Veranstaltung sind alle eingeladen, die über das Podium streiten und über andere Strategien nachdenken wollen, dem erstarkenden Rechtspopulismus entgegenzutreten. Im Rahmen dieser Veranstaltung wird entschieden, ob das Podium am 17.3. stattfindet oder ob es durch andere Formate ersetzt werden muss."

Gegner*innen der Veranstalter haben inzwischen einen Offenen Brief formuliert, in dem das Theaterhaus Gessnerallee dazu aufgerufen wird, der AfD keine Bühne zu bieten. Der Brief im Wortlaut steht hier.

Update vom 27. Februar 2017. In einem Offenen Brief antwortet Jörg Scheller, Kunstwissenschaftler an der ZHDK Zürich und Teilnehmer des kritisierten Podiums, den Unterzeichner*innen des oben zitierten Offenen Briefs. Er selbst zähle zu den entschiedensten Kritikern Marc Jongens und der AfD. "Anders als viele MitkritikerInnen bin ich jedoch der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit Parteien wie der AfD öffentlich und direkt geführt werden muss. Wo kämen wir hin, wenn wir sagten: In öffentlichen Debatten können wir nur verlieren respektive die AfD nur gewinnen? Schätzen wir unsere Argumente und unsere Handlungsoptionen wirklich als so schwach ein?"

Seinen Kritiker*innen wirft er "Verzerrungen und Diffamierungen" vor: "Sie verkürzen Aussagen, reißen sie aus dem Zusammenhang, geben sie falsch wieder. Unzählige meiner Kritikpunkte aus dem Dialog unterschlagen Sie und filtern statt dessen ein paar wenige ambivalente Punkte heraus, welchen Sie eine Drift geben, die sie als Gesten der Fraternisierung erscheinen lassen. Diese Strategien sind mir aus meinem Streit mit den Rechtspopulisten nur allzu gut vertraut – was für eine Ironie und Tragik, dass sich deren 'Gegenspieler' derselben Strategien bedienen." Im Folgenden geht er auf die einzelnen Kritikpunkte detailliert ein. Der Brief im Wortlaut steht hier.

(WOZ / Theaterhaus Gessnerallee / sd / sle / geka)

 

Im November 2016 gab es in Deutschland einen ähnlichen Fall: Das Theater Magdeburg hatte den rechten Publizisten Götz Kubitschek zu einem "Politischen Salon" eingeladen – die Veranstaltung wurde im Vorfeld vor allem aus politischen Reihen kritisiert und schließlich aus dem Programm gestrichen, nachdem der Innenminister von Sachsen-Anhalt Holger Stahlknecht (CDU) seine Teilnahme als Podiumsgast abgesagt hatte. "Das Ziel, eine fundierte Kritik an den 'neurechten' Ideologien Götz Kubitscheks mittels der Podiumsgäste üben zu können, war durch das Ungleichgewicht, das durch die Absage von Herrn Stahlknecht entstanden ist, nicht mehr möglich", begründete das Theater Magdeburg. Hier unsere Meldung vom 30. November 2016.

 

Die Chronik einer abgesagten Diskussion mit einem AfD-Funktionär im Theaterhaus Gessnerallee (12.3.2017)

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